Amerika als Sicherheitsgarant im östlichen Europa

In fehlender Solidarität zu Osteuropa zeigt sich verhängnisvolle deutsche Tradition

Ein Mittwoch im November 2002: Selten zuvor wurden für einen NATO-Gipfel solch starke Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Die Prager Altstadt ist wie leer gefegt, Tausende Polizisten kontrollieren die Straßen. Zehntausend Demonstranten werden erwartet, das Treffen hoch über der Moldau steht im Schatten eines nahen Irakkrieges. Inhaltlich geht es in Prag um eine zweite NATO-Osterweiterung und eine eigene Eingreiftruppe. Am Donnerstag verkündet Generalsekretär Lord Robertson den Aufbau der „NATO Response Force“ und die Aufnahme von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und der Slowakei. Schon einen Tag vor dem Gipfel sagte US-Präsident George W. Bush: „Er (der Irak) wird entwaffnet werden, so oder so.“ Zwischen Bush und Bundeskanzler Gerhard Schröder herrscht seit Wochen Eiszeit. Vor zwei Monaten gewann die SPD um Schröder, auch wegen dessen klaren „Nein“ zum Irak-Krieg, die Bundestagswahl. 71 Prozent der deutschen Bevölkerung lehnt einen Krieg ab. Auch Frankreich, Belgien und Österreich stellen sich gegen einen Krieg ohne UN-Mandat. Bush initiiert daraufhin in Prag die „Koalition der Willigen“. Daran beteiligen sich alle sieben neuen NATO-Staaten.

Offiziell vereinbart wurde auf dem NATO-Gipfel außerdem, dass die Mitgliedsstaaten zukünftig mehr Geld für ihr Militär bereitstellen sollen, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ist der Richtwert. Dieses Ziel erreichten zum damaligen Zeitpunkt lediglich die USA (3,3 Prozent), Griechenland (3,2), Türkei (3,1), Frankreich (2,5), das Vereinigte Königreich (2,3) und die Tschechische Republik (2,0). In den vergangenen 15 Jahren haben die meisten Staaten ihren Verteidigungshaushalt gesenkt. Heute geben nur die USA (3,6), Griechenland (3,4), das Vereinigte Königreich (2,2), Estland (2,2) und Polen (2,0) mindestens zwei Prozent ihres BIP für die Verteidigung aus. Der Wehretat der Bundesrepublik liegt bei 1,2 Prozent. Klaus Johannis setzte sich mit seiner Forderung, dass im Haushalt für 2017 zwei Prozent des BIP für das Militär aufgewendet werden, gegen die Regierung durch. Zu-letzt lagen die rumänischen Ausgaben bei 1,5 Prozent.

Deutschland widersetzt sich seit Jahren einer Erhöhung des Verteidigungshaushaltes. Böse Zungen könnten der Bundesrepublik sogar Abrüstung durch Zerfall vorhalten. Der Schützenpanzer Puma ist nicht wasserdicht, technische Pannen und Korruptionsvorwürfe begleiten seit Jahren das Mehrkampfflugzeug Eurofighter, das Sturmgewehr G36 schießt nicht geradeaus und als die Fregatte „Lübeck“ 2014 zum Anti-Piraten-Einsatz auslaufen soll, ist keiner der 22 Hubschrauber vom Typ Sea Lynx Mk88a einsatzbereit – nichts funktioniert bei der Bundeswehr. Im Februar flog Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen mit einem A400M Transportflugzeug nach Litauen, um das von der Bundeswehr geführte NATO-Bataillon zu besuchen. Der Airbus musste allerdings mit einem Triebwerksschaden in Kaunas zurückbleiben und von der Leyen eine 50 Jahre alte Ersatzmaschine vom Typ Transall nehmen.
Ohne einsatzfähiges Gerät lassen sich keine militärischen Aufgaben übernehmen. Seewege schützen oder Bündnispartner unterstützen, Deutschland übernimmt keine Verantwortung.

Stattdessen profitiert der „Exportweltmeister“ von sicheren Handelswegen, ohne eigenes Zutun. Die ganze Ignoranz der deutschen Politik und Gesellschaft zur Außen- und Sicherheitspolitik zeigte sich 2010 und veranlasste Bundespräsident Horst Köhler zum Rücktritt. In einem Radio-Interview fand Köhler deutliche Worte: Ein Land „unserer Größe, mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit“ müsse wissen, „dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen – negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg“. Die Diskussion wurde durch die Oppositionsparteien erfolgreich unterdrückt und Horst Köhler stand als Kriegstreiber am Pranger. Eine ähnliche Ignoranz zeigt sich auch in diesen Tagen. US-Präsident Donald Trump hat die NATO-Mitglieder aufgefordert, endlich der Empfehlung, die Militärausgaben auf rund zwei Prozent des BIP zu erhöhen, nachzukommen. Das tat schon Barack Obama 2014, auch damals blieb es bei einer Absichtserklärung. Dabei geht es um Bündniszusagen und Verantwortung, beidem will man sich in Deutschland nicht stellen, und das ist auch ein Schlag ins Gesicht der osteuropäischen Staaten.

Russische Panzer stehen eben nicht an Oder und Neiße, sondern in Königsberg und Tiraspol. Erst im vergangenen Herbst hat das russische Militär atomwaffenfähige Kurzstreckenraketen in die baltische Exklave verlegt. Laut einer Gesprächszusammenfassung des Auswärtigen Dienstes der Europäischen Union soll der russische Präsident Wladimir Putin 2014 zum ukrainischen Präsidenten gesagt haben: „Wenn ich wollte, könnten russische Truppen in zwei Tagen nicht nur in Kiew, sondern auch in Riga, Vilnius, Tallinn, Warschau oder Bukarest sein.“ Das mag in deutschen Ohren nach Größenwahn klingen. In den genannten Hauptstädten wird dies allerdings als konkrete Bedrohung empfunden, das hat die Geschichte gelehrt. Am Vilniusser Blutsonntag (13. Januar 1991) starben 14 Menschen, über 1000 wurden verletzt. Sowjetische Panzer waren in Prag und Budapest, zuletzt in der Ukraine. Polen und die baltischen Staaten waren im 20. Jahrhundert Opfer nationalsozialistischer und sowjetischer Okkupationen. Wenig verwunderlich, sehen diese Staaten ihren wichtigsten Verbündeten in der Sicherheitspolitik in Amerika.

Sicherlich ist es einer qualitativen Aufrüstung der Bundeswehr nicht förderlich, dass sich der Rüstungsetat der Bundesrepublik innerhalb von zwei Jahren verdoppelt. Wohin auch mit dem Geld? Doch ein Umdenken ist notwendig. Deutschland existiert nicht auf einem pazifistischen Planeten. Russland hat mit dem Krieg gegen die Ukraine das Grundprinzip der Entspannungspolitik, den Gewaltverzicht, gebrochen und Grenzen gewaltsam verändert. Das wird in Estland, Lettland, Litauen und Polen, aber auch in Rumänien anders wahrgenommen als in Deutschland. Diese Länder haben mit Russland gebrochen. Die NATO „expandiert“ nicht nach Osten, wie es von „Friedensaktivisten“ gerne heißt. Truppenverlagerungen in die östlichen Mitgliedsstaaten sollen Balten, Polen und Rumänen den gleichen Schutz bieten, den Deutschland, Belgien, Dänemark und alle anderen Bündnispartner genießen. In der fehlenden Solidarität gegenüber den kleinen Staaten und Völkern zeigt sich nur die verhängnisvolle Tradition deutscher Großmachtpolitik. Schon in den vergangenen drei Jahrhunderten hielten Deutschland und Russland wenig vom Selbstbestimmungsrecht der geografisch zwischen ihn lebenden Nationen. Dementsprechend heißt der Sicherheitsgarant Amerika und diesem gegenüber zeigen sich die osteuropäischen Staaten loyal.