Arbeit und Armut in Deutschland

Ein Problem (nicht nur) für rumänische Arbeitsmigranten

30 rumänische Bauarbeiter arbeiteten an dieser Mall in Berlin und wurden um Gehaltszahlungen geprellt.

Kürzlich veröffentlichte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) die Meldung, immer mehr in Deutschland lebende Rumänen und Bulgaren bezögen Sozialhilfeleistungen (10,4 Prozent der Rumänen im Dezember 2014, im Vorjahresmonat waren es noch 7,8 Prozent). Eine Steilvorlage für den Stammtisch, wie es scheint. Auf der anderen Seite aber ist die Arbeitslosenrate von Rumänen in Deutschland im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen sehr gering, und sie sinkt (von 9,8 Prozent im Januar 2014 auf 8,8 im Januar 2015; im Jahresschnitt 2014 lag sie bei 6,6 Prozent). Wieso aber steigt der Bezug von Sozialleistungen, während die Anzahl der Arbeitslosen sinkt? Dieser scheinbare Widerspruch ist nur ein Puzzle-Teil im Bild der gar nicht schönen neuen Arbeitswelt für etliche rumänische Arbeitsmigranten und -migrantinnen in Deutschland.

Bevor wir zurück zu diesen Zahlen kommen, zwei weitere Teile des Puzzles.

Berlin. Seit Sommer 2014 arbeiteten auf der Baustelle der Mall of Berlin, einem inzwischen eröffneten, riesigen Luxuskaufhaus, etwa 30 rumänische Bauarbeiter. Sie wurden mit dem Versprechen auf acht Euro Stundenlohn und der Zusicherung von Unterkunft und Arbeitsvertrag angeheuert. Nichts von dem aber erhielten sie. Stattdessen arbeiten sie für fünf bis sechs Euro – und die wurden ihnen am Ende nicht einmal voll ausgezahlt. Sie erhielten keine oder überteuerte Unterkünfte. Einige mussten auf der Straße schlafen. Arbeitsverträge wurden ihnen vorenthalten.

Im November begannen einige der Arbeiter mit Unterstützung der Gewerkschaft Freie Arbeiterinnen- und Arbeiterunion (FAU) vor der Mall zu protestieren. Bis zu sieben Stunden täglich harrten sie mit der Forderung auf Auszahlung ihrer Löhne aus. Von sich solidarisierenden Berlinerinnen und Berlinern wurden ihnen Unterkünfte zur Verfügung gestellt, die FAU unterstützte sieben der Arbeiter, die sich zu einer Klage vor dem Arbeitsgericht Berlin entschlossen hatten. Die Proteste konnten nun erste Erfolge erzielen: Am 10. April wurde zwei der klagenden Arbeiter Recht gegeben. Die verklagte Baufirma muss nun Löhne in Höhe von 1200 und 4400 Euro nachzahlen. Obendrein wird gegen die beteiligten Firmen, die inzwischen Insolvenz angemeldet haben, wegen Insolvenzverschleppung und Betrugsverdacht ermittelt. Weitere Prozesse und Protestdemonstrationen stehen noch in diesem Monat an.

Szenenwechsel: Niedersachsen. Im Dezember letzten Jahres berichtet ZEIT Online von den Arbeitsbedingungen rumänischer Arbeiter in der niedersächsischen Fleischwirtschaft. Die Zeitung sprach mit 150 Arbeitern und berichtete Verstörendes: Die Menschen arbeiten zu niedrigsten Löhne in den Fleischfabriken, Unterkunft aber wird ihnen verwehrt oder der Lohn ist so gering, dass sie sich keine leisten können. Also schlafen sie Nachts in den Wäldern. „Waldmenschen“ werden sie genannt. Angeworben wurden die meisten der Arbeiter direkt in Rumänien und mussten „Vermittlungsgebühren“ zahlen, um den Job zu erhalten. Über legale Werkverträge, mit denen das deutsche Mindestlohngesetz umgangen werden kann, werden Arbeiter in dubiosen Subunternehmen angestellt, die mit ihren an Sklavenhandel erinnernden Methoden Millionen verdienen. Arbeitsschutz-, Gesundheits- und Pausenregelungen werden missachtet. Die Arbeitstage sind zum Teil 15 Stunden lang. Die Zustände sind so erschreckend, dass die revolutionärer Umtriebe unverdächtige ZEIT schreibt: „Das ist die Rückkehr des Manchester-Kapitalismus, weitgehend unbemerkt und mitten in Niedersachsen.“

Die Beispiele machen zweierlei deutlich: Zum einen, dass viele Arbeiterinnen und Arbeiter trotz Beschäftigung unter miserablen Bedingungen leben müssen. Zum anderen, dass sich, wie bei der Mall of Berlin, Organisation und gewerkschaftliche Unterstützung als probates Mittel gegen Ausbeutung erweisen kann.

Diese Geschichten sind keine Einzelfälle. In einer im April erschienenen Studie schreibt die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES): „Auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben sich düstere Nischen gebildet, wo die grundlegendsten sozialen Errungenschaften für mobile Beschäftigte aus östlichen EU-Ländern nicht mehr gelten.“ Neben den oben beschriebenen Sektoren betrifft das vor allem das Transportgewerbe, industrienahe Dienstleitungen oder das Reinigungsgewerbe. Scheinselbstständigkeit und ausbeutende Arbeitsverhältnisse nehmen, so die Studie, immer mehr zu. Der Staat scheint machtlos: „Die Kontrollbehörden sind überlastet und nicht ausreichend mit Personal und Mitteln ausgestattet.“

Was aber haben die Arbeitsbedingungen rumänischer Arbeiterinnen und Arbeiter mit unserer Ausgangsfrage nach dem steigenden Bezug von Sozialleistungen zu tun, der zu beobachten ist? Hat man in Deutschland ein Einkommen, das unterhalb des Sozialleistungssatzes liegt, kann man zusätzlich zu diesem Einkommen „aufstockende“ Sozialleistungen beantragen. Vor allem in den größeren Städten, wo es Beratungszentren und Selbstorganisationsstrukturen gibt, beantragen Arbeiterinnen und Arbeiter diese zusätzlichen Sozialleistungen. Da immer mehr Rumäninnen und Rumänen in Sektoren arbeiten, in denen ähnliche Verhältnisse herrschen, wie den hier beschriebenen, sind auch immer mehr auf zusätzliche staatliche Gelder angewiesen. Nicht in der Statistik tauchen natürlich diejenigen auf, die arbeiten, und deren Lohn so gering ist, dass sie berechtigt wären, Leistungen zu beantragen, es aber nicht tun können, da ihnen ein Arbeitsvertrag und somit ein legales Arbeitsverhältnis vorenthalten wird. Die geringe Abweichung verdeckt also das wahre Ausmaß des Problems.

Es handelt sich im Übrigen nicht um ein Problem, das lediglich den migrantischen Arbeitsmarkt betrifft, sondern ein wachsendes Segment des deutschen Arbeitsmarktes. Seit Einführung der sogenannten Hartz-Gesetze stieg der Anteil der Menschen, die arbeiten und dennoch auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. 2014 waren das, nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit, immerhin 1,3 Millionen Menschen. Das sind etwa 3 Prozent der abhängig Beschäftigten in Deutschland. Unter den Rumänen in Deutschland sind es nur etwas mehr: 4,8 Prozent. Aber auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sagt, „angesichts der geringen Durchschnittsverdienste“ dieser Gruppe sei dieser Anteil „noch eher moderat“.

Nachtrag: Schon im Januar 2014 haben der Deutsche Gewerkschaftsbund und die FES eine Handreichung für rumänische Arbeitssuchende in Deutschland unter dem Titel „Eşti informat, eşti protejat!“ herausgegeben. Die auch in deutscher Sprache vorliegende Publikation mag an sich nichts gegen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse tun können – aber sie bildet ein wichtiges Informationsmedium, um rumänische Arbeitskräfte in Deutschland über ihre Rechte zu informieren.