Auf den Spuren der Minderheiten in der Dobrudscha

Menschen und ihr Kulturerbe als touristisches Potenzial

Mit dem Traktor ans Ende des Kontinents – Fahrt durch die Dörfer zum geschützten Letea Wald.

Lipowanerinnen aus Slava Cercheza begrüßen uns mit ergreifenden russischen Liedern.

Unerwartete Pracht in einem gottverlassenen Dorf: die Kirche von Sfiştofca.

Im Kloster Uspenia bei Slava Rusa

Auf dem multiethnischen Friedhof von Sulina kann man ruhig ein paar Stunden „interessante Grabsteine schmökern“.
Fotos: George Dumitriu

Wie Schmetterlinge lassen wir uns hier und dort nieder. Berühren kurz und flattern weiter, quer durch die nördliche Dobrudscha. Slava Cercheza – Babadag  – Letea – Sulina... bewusst, dass ein Teil des Erlebten bald nur noch Geschichte sein könnte. Die singenden Lipowanerinnen vor der trist-romantischen Kulisse verfallender, strohgedeckter Häuser. Der Akkordeon spielende Traktorfahrer. Am Horizont der weiten Ebene grasen verwilderte Pferde. Die Dorfkulisse erinnert an Wildwestfilme: Straßen aus Sand, hier ein einsamer Ziehbrunnen, dort ein verlassenes hölzernes Pfarrhaus. Weit und breit kann man nichts kaufen, es gibt keine Pension, kein Taxi, keinen Bus. Ausgerechnet hier verblüfft die Holzkirche mit prächtigem Innenleben: goldenen Ikonen auf himmelblauem Grund. Der Sand, den die Räder des Traktors aufwirbeln, als wir weiter zum Letea Urwald fahren, peitscht mir ins Gesicht. Unbändiges Glück und Wehmut vermischen sich zu einer einzigartigen Gefühlsmelange. Schon geht es ab durch die nächste Pfütze. Der Anhänger gerät ins Schlingern und die darin sitzenden Journalisten, Kameraleute, Ethnologen und sonstigen Experten umklammern rasch ihre Ausrüstung. Achtung, festhalten!

Festhalten müssen wir jeden Augenblick dieser Reise an den äußersten Rand der modernen Welt. An den zarten, zerbrechlichen Fäden, die eine noch spürbare Vergangenheit mit einer ungewissen Zukunft verbinden. In sehnsuchtsvollen Bildern, eindringlichen Worten, lebendigen Filmen. Dies ist das Ziel dieser Reise...

Weniger poetisch ausgedrückt ist es eine Bestandsaufnahme des multiethnischen Kulturerbes in der Dobrudscha, organisiert vom Departement für Interethnische Beziehungen (DRI) im Rahmen  des Projekts „Kultur, Tourismus und Kontakte zwischen den Menschen“ der EU-Makrostrategie für die Donauregion (SUERD). Ziel: die Erstellung eines „Blauen Buches zur kulturellen Vielfalt“. Denn nur was man kennt, kann man bewahren. Eine Einbindung in  sanften Tourismus könnte hierfür eine Möglichkeit sein.

Zwei Fallbeispiele für touristisches Potenzial

Denkt man als Tourist an die Dobrudscha, fällt einem zuerst das Donaudelta ein: Schilfgesäumte Kanäle, schwimmende Inseln und Sandbänke, die die jüngste Landschaft Europas immer noch formen; der Letea Wald mit jahrhundertealten Eichen und Orchideen auf sandigem Grund. Für Naturfreunde ist auch der M²cin Nationalpark mit der einzigen geschützten Steppenlandschaft Europas ein Begriff.  Erst dann – wenn überhaupt – fällt einem die ethnische Vielfalt der dortigen Minderheiten ein. Als heimliches Musterbeispiel für ein friedlich vereintes Europa leben sie Seite an Seite, jede mit ihren Bräuchen, ihrer Sprache, ihrer Religion. Lipowaner, Griechen, Türken,  Juden, Tataren, Italiener, türkische Roma, Ukrainer, Bulgaren, Armenier, Aromunen... Kaum noch Deutsche, weil diese zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zur Aussiedlung  gezwungen wurden. Viele können ihre Traditionen nur noch in Kulturzentren pflegen, denn gemischte Ehen sind häufig und zu Hause wird oft nur noch Rumänisch gesprochen. Warum an Traditionen festhalten, fragen sich vor allem die Jungen. Viele wandern mangels Perspektive ins Ausland ab. Doch dort sind sie selbst in  den Herkunftsländern ihrer Kultur keine Heimkehrer, sondern einfach nur Immigranten. In Kulturzentren begegnen wir meist älteren Frauen, die sich dort  zum Singen, Kochen und Handarbeiten treffen. Von ihrem Geschick hängt es ab, ob ihr Kulturerbe über die Generationen weitergetragen wird. Ob es ihnen gelingt, die Kinder für das Erlernen der  Muttersprache oder das Singen jahrhundertealter Lieder zu gewinnen.

In Greci am Fuße des Măcin Nationalparks erzählt uns Cellia Boro über die einstigen Einwanderer aus Italien. Carol I. hatte sie in den 1880er Jahren wegen ihrer Steinmetzkunst ins Land geholt. Noch heute ist Greci für seine handbehauenen Granitprodukte bekannt , viele italienische Rentner verdienen sich damit ein Zubrot. Die Tanzgruppe der italienischem Minderheit ist im ganzen Land bekannt, wird immer wieder zu Festen eingeladen. Cellia Boro, die uns stolz ihre Kirche „Santa Lucia“ zeigt, rühmt sich: „Wir singen hier 300 Jahre alte Lieder , die es in Italien längst nicht mehr gibt“. Auch Kochrezepte aus der alten Zeit werden noch verwendet. Aus touristischer Sicht ist Greci Ausgangspunkt für Ausflüge in den nahen Măcin-Nationalpark mit elf Wanderwegen und einem Radweg. Hinzu kommen die zahlreichen Weingüter der Region, wie die „Podgoria Alcovin“ mit einem Restaurant, das auch größere Gruppen bewältigen kann. Die verkehrsarme Gegend bietet sich auch zum Reiten und Radfahren an. In den 15 Gemeinden rund um den Park bemüht man sich um Förderung traditioneller Aktivitäten: Steinmetzkunst, Weinbau, ökologische Kleinlandwirtschaft, Produktion von Bio-Honig.

Touristisch vergleichsweise weniger entwickelt sind Slava Cercheza und Slava Rusa, zwei Orte mit russischer Minderheit, den Lipowanern. Im 17. Jahrhundert waren sie aus Russland hierher geflüchtet, weil die Ausübung des alten orthodoxen Ritus als Folge der Reformen unter Zar Alexej Mihailowitsch als Straftat geahndet wurde. Mit verbotenen Büchern und Ikonen beladen kamen sie durch die Wälder in die Dobrudscha. Stolz präsentiert Erzdiakon Amfilohie im Kloster Uspenia ein Evangelium aus dem Jahr 1644 –  eins der ältesten Druckwerke im Land. Eine Seltenheit auch das Gesangbuch mit byzantinischen  Noten, heute längst aus der orthodoxen Liturgie verschwunden.

Mit Stolz halten die Lipowaner an althergebrachten Ritualen fest. Der Gottesdienst wird in Altslawonisch abgehalten, Hochzeits- und Begräbnisriten wie vor 300 Jahren gefeiert. Ihr Markenzeichen ist das irisierende Himmelblau, auch hier Grundfarbe der inneren Kuppelbemalung, wie schon in dem Holzkirchlein in Sfi{tofca bei Letea. Es findet sich auch häufig in Trachten oder traditioneller Architektur wieder. In der idyllischen Einöde des Klosters, umgeben von Wäldern, ließe es sich herrlich wandern. Touristisch ausbaufähig wäre auch das Käsefest mit Spezialitäten auf der Basis von Quark – vor allem für die Frauen eine willkommene Abwechslung. „Die Männer bleiben vor dem Fernseher hocken“, verrät  Irina Mihailov im Kulturzentrum Slava Cercheza augenzwinkernd.  Landesweit bekannt ist ihre russische Gesangsgruppe Slaveanca.

Im Zeitraffertempo reisen wir weiter. Kurzes Eintauchen  in die Welt der Muslime: Der Imam der Moschee Ali Gaza Pascha in Babadag zeigt uns einen kostbaren Koran aus dem Jahre 1555, außerdem gibt es dort ein kleines Museum für islamische Kunst.In Tulcea verteilt der Imam der Azizyie Moschee Pralinen, „damit wir süße Gedanken hegen“ und demonstiert ein Gebetsritual. Weil die türkische und tatarische Minderheit hier nicht sattelfest im Koran ist, wurde er extra aus der Türkei entsandt, um sie arabische Suren zu lehren.

Romantische Hafenstadt am Ende der Donau

Den historischen Spuren der Minderheiten kann man hautnah in Sulina folgen. In der Hafenstadt mit leicht morbidem Charme lebten einst 27 Ethnien. Zwischen verfallenden Häusern drängen sich dicht an dicht orthodoxe Klöster im alten und neuen Stil, katholische und evangelische Kirchen, Synagogen und Moscheen. Hotels und Restaurants liegen nur an der Promenade, wie auch das Kulturzentrum, wo griechische und russische Volkstanzgruppen Touristen unterhalten. Weltberühmt ist der multiethnische Friedhof, wo man Stunden mit Grabsteinschmökern zubringen kann. Sieben Religionen liegen hier friedlich im Tode vereint. Auf dem türkischen Teil tragen die Grabsteine rote Feze oder Turbane. „Ach Tod, wie grausam bist du“, steht auf einem der Steine. Darunter: „Heute liest du das, morgen liegst du hier.“

Der Leuchtturm bietet einen herrlichen Blick über die Dächer, den Hafen und die Mündung des Sulina Donauarmes ins Meer. Die ruhigen Sträßchen lassen sich gut mit dem Fahrrad erkunden. Anlegende Kreuzfahrtschiffe nutzen diese Option, überall sehen wir Grüppchen auf  mitgebrachten Drahteseln. Etwa zwei Kilometer entfernt liegt ein unverbauter, nicht überlaufener feiner Sandstrand.

Menschen als schutzbedürftiges Welterbe

Vielleicht ist die ethnische Vielfalt der Dobrudscha allein kein Zugpferd für Tourismus - doch bereichernder Farbtupfen  allemal. Nur müssen den Menschen greifbare Ziele und Zugang  zu nachhaltigem Tourismus aufgezeigt werden, wenn ihr Kulturgut am Leben erhalten werden soll. Eine Chance wäre die Vermarktung ihrer Produkte, ihrer Folklore, der Einbau ihres Kulturerbes in touristische Routen. Was kann angeboten werden? Was interessiert welche Zielgruppe? Was könnte mit ein wenig „Upgrading“ sogar zu einem Markenzeichen werden? Vielleicht die lipowanische Sauna, die früher in keinem Haus fehlte, und die Frau Irina nur zufällig erwähnte? Das Funktionsprinzip ist einfach – und hitverdächtig: Unter einem Steinhaufen in einem Lehmbau wird Feuer entfacht, die glühenden Steine mit kaltem Wasser besprengt. Im heißen Dampf schlägt man sich zur Durchblutungsförderung mit Eichenzweiglein auf die Haut. Zahlreiche Heilungsmythen ranken sich um diesen Brauch. Es muss also nicht immer nur Volkstanz sein...

Eine wichtige Erkenntnis hat die Reise gebracht: Schutzbedürftig sind nicht nur Fauna und Flora, sondern auch der Mensch. Vor allem, wenn es sich um einzigartige, vom Aussterben bedrohte Gemeinschaften handelt. Voraussetzung dafür ist nicht nur das Studium ihrer Lage, sondern auch eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Eine Aufgabe, der sich das DRI mit der Organisation dieser Reise gestellt hat und mit Folgeaktiviäten stellen wird. So wie auch dieser Artikel nur ein erster, allzu flüchtiger Überblick ist, dem bald weitere Vertiefungen folgen.

Der Kampf um dieses Welterbe ist ein Wettlauf mit der Zeit. „Ich wünsche mir, wiederzukommen und die Geschichten dieser Menschen aufzuschreiben“, kritzle ich wehmütig in mein Notizbuch, während der Traktor über die Sandbänke holpert. „Damit ihre lebendigen Geschichten nicht irgendwann nur noch tote Geschichte sind.“