Auf der Suche nach einem neuen Lebenskonzept

Grüner Kapitalismus oder sozial-ökologische Transformation – was kann uns vor der Klimakatastrophe retten?

Ulrich Brand, Professor für internationale Politik an der Universität von Wien und Mitglied der „Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“, trug am 10. November im Rahmen der Reihe „Nachhaltiges Rumänien“ der Friedrich Ebert Stiftung zum Thema „Grüner Kapitalismus oder sozial-ökologische Transformation?“ vor.
Foto: FES

„Nur Monate - so lange dauerte es, bis Europa unter der Eisdecke verschwand. Das Szenario, direkt Hollywoods Blockbuster-Film ‘The Day After Tomorrow’ entnommen, ergab sich aus den bislang genauesten paläohistorischen Klimastudien“, beginnt ein wissenschaftlicher Artikel im Online-Forschungsmagazin newscientist.com. Eindringlicher kann man es kaum vermitteln: Der Klimawandel ist eine der akutesten Herausforderungen, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Bedrohlicher als Wirtschaftskrisen, Börsencrashs oder militärische Konfrontationen – vielleicht für die gesamte Menschheit. Nicht nur Umweltaktivisten haben begriffen, dass das Zeitfenster, in dem ein Gegensteuern noch möglich ist – zum Beispiel durch Herunterfahren des Kohlendioxid-Ausstoßes auf Null – sich immer schneller schließt. Was ist zu tun?

In dem Bemühen, dies herauszufinden, haben sich zwei Denkrichtungen herausgebildet. Anhänger der einen plädieren für verstärkte Unterstützung grüner Technologien, doch auf der Basis altbewährter marktwirtschaftlicher Spielregeln: Wettbewerb, Wachstum und Wohlstand – ein grünerer Kapitalismus also. Die andere Variante schlägt eine tiefer greifende Systemänderung vor, die die bisherigen Hauptsäulen der Wirtschaft durch andere Eckpfeiler ersetzt: Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, reflexives Konsumverhalten. Ihre Verfechter fordern die sozial-ökologische Transformation, auch als „große Transformation“ bezeichnet. Luftschlösser, fern von der Realpolitik, wird ihnen meist vorgeworfen.

Plädoyer für einen Paradigmenwechsel

Der international als Spezialist für Globalisierungsfragen bekannte Wiener Forscher und Politikprofessor Dr. Ulrich Brand ist ein Verfechter der letzteren Variante. Als Co-Autor des Internet-Blogs postwachstum.de fordert er eine Heraustransformation aus dem Kapitalismus, in dem zentrale Bereiche des gesellschaftlichen Lebens dem Profit- und Wachstumsdenken unterworfen sind. Einem Kapitalismus, der nicht nur ökologische Zerstörung und Ausbeutung der Natur ohne Grenzen vorantreibt, sondern auch die gesellschaftliche Spaltung und Entsolidarisierung – die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer! Sozial-ökologische Transformation bedeute daher, nicht nur die Finanzmärkte, die diese Entwicklungen steuern, zu schwächen – sondern insgesamt die Macht des Kapitals und seine gesellschaftsstrukturierende Dominanz. „Gott Geld“ soll entthront werden...

Doch wie? Durch Leistung von Überzeugungsarbeit und das Finden neuer Modelle. Hier ist nicht nur der Staat, nicht nur die Politik gefragt, sondern Think Tanks, NGOs, die Zivilgesellschaft, aber auch kritische Menschen aus Wissenschaft, Kirche, den Medien oder solche mit Vorbildcharakter durch ihren Lebensstil, regt Ulrich Brand an. Transformation als gemeinsames Experiment muss auf allen Ebenen diskutiert werden. Es gilt, den Wohlstandsbegriff umzudefinieren, denn Ansprüche wie täglich Fleisch zu essen oder mit dem eigenen Auto zur Arbeit zu fahren sind mit dem neuen Konzept nicht vereinbar. Der „imperiale Lebensstil“, den er den Deutschen, aber nicht nur diesen, vorwirft, lässt sich bei begrenzten Ressourcen nur auf Kosten anderer erhalten. Ziel sei jedoch nicht, Deutschland zu einer Öko-Wohlstands-Insel zu machen und die Probleme an den Rand Europas weiterzuschieben, etwa in Länder wie Rumänien, erklärt Brand.

Zugegeben, es klingt nach romantischem Idealismus. Welcher Politiker, welche Partei, welche Lobby würde solche Ideen unterstützen? Und doch: Da und dort gibt es Zeichen für ein Umdenken, die wie Glühwürmchen aus dunkler Nacht aufblinken – sogar in der Politik: Ulrich Brand selbst konnte seine Überzeugungen als Mitglied der „Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“, die 2010 den Einfluss von Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstilen auf Möglichkeiten eines ökologisch und sozial nachhaltigen Wirtschaftens untersuchen und konkrete politische Handlungsempfehlungen erteilen sollte, einbringen (Link zum Schlussbericht vom 23.5.2013: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/133/1713300.pdf). Auch wenn dort Systemkritik nicht zum Auftrag gehörte, sollte die Kommission einen ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikator entwickeln und die Möglichkeit und Grenzen der Entkopplung von Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischem Fortschritt ausloten.

In seinem Vortrag „Grüner Kapitalismus oder sozial-ökologische Transformation?“, der im Rahmen der neuen Reihe „Nachhaltiges Rumänien“ der Friedrich Ebert Stiftung in Bukarest stattfand, liefert Ulrich Brand Einblicke in beide Denkweisen – und erläuterte, warum „grüner Kapitalismus“ nicht ausreicht, um uns langfristig vor Krisen zu bewahren (Link zur Videoaufzeichnung: https://www.privesc. eu/Arhiva/54305/Dezbaterea-cu-tema—Capitalism-verde-sau-transformare-socio-ecologica—).

Wachstum ist kein Stabilisator mehr

In der Wirtschaft dreht sich alles um ein Zauberwort: Wachstum! Doch Wirtschaftswachstum ist längst kein Garant mehr für Stabilität, überrascht der Experte. In dem Buch „Prosperity without growth“ (Wohlstand ohne Wachstum) erklärt der britische Wirtschaftsfachmann Tim Jackson, der hierzu 2009 auch auf der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen vorgetragen hatte, die gekappte Verbindung zwischen Wachstum und Wohlstand: Wachstum führt zu Polarisation zwischen Arm und Reich. In wachstumsbasierten Gesellschaften wachsen sich Stress, Krankheiten und Burn-out zu einem gesellschaftlichen Problem aus. Wachstum läuft auch nicht parallel zur Schaffung von Jobs: Als Beispiel wird die Bergbauindustrie genannt, die zehnmal mehr Arbeitsplätze verspricht, als sie tatsächlich schafft. Wachstum muss im Verhältnis zur den Umweltschäden gesehen werden, die es produziert: 5,7 Prozent des indischen Wirtschaftswachstums werden dafür aufgewendet, diese Schäden zu reparieren. Man kann sich denken, dass dies ohnehin nur in Bereichen geschieht, die wiederum wirtschaftliche Relevanz haben. Lange Zeit galt Wirtschaftswachstum als Garantie für Stabilität, doch nun sind wir an einem Punkt angekommen, wo es destabilisierend wirkt. Folgen sind der ausbeuterische Wettbewerb um natürliche Ressourcen und Überproduktion. Wachstum wird zum Krebsgeschwür.
In Deutschland, Österreich, Griechenland oder Spanien gibt es längst Debatten über „de-growth“. Die Idee: Nicht warten, bis die Veränderung durch eine Katastrophe brutal erzwungen wird, sondern sie lieber „per Design“ herbeiführen.

Defizite des grünen Kapitalismus

Eine losgelöste Betrachtung des ökologischen Aspekts durch grünen Kapitalismus kann die Probleme nicht beseitigen, behauptet Ulrich Brand und erklärt erst einmal, was der Begriff überhaupt bedeutet: Nämlich, dass der Staat durch internationale Politik ein Gesetzesnetzwerk schafft, das das Verhalten von Produzenten und Konsumenten verändert. Also im Falle Rumäniens grüne Industrie und grüne Jobs, die statt Fracking und Goldabbau Wohlstand schaffen sollen. Dies sei zwar wichtig, doch nicht ausreichend, warnt der Professor. Die Gefahr besteht darin, dass die Logik des Profitmachens nicht hinterfragt und keine Nachhaltigkeit erzielt wird. Auf dem Weltmarkt herrscht immer noch der Wettbewerbsgedanke vor, Ausbeutung natürlicher Ressourcen ist die Folge.

Selbst progressive Großunternehmer, die bereits eine Umstellung auf grüne Energien versuchen wollten, scheiterten kläglich unter diesen Rahmenbedingungen. Noch ist der Profit in den traditionellen Bereichen höher. Auch gibt es Fälle, in denen sich keineswegs umweltfreundliche Unternehmen hinter einem scheinbar grünen Anstrich verstecken - vorgekommen ausgerechnet in der Bergbaubranche, verrät Ulrich Brand. Wachstumsgesteuerte Marktwirtschaft fördert zudem den Konsumismus. „Ich bin nicht gegen Konsum“, stellt der Vortragende richtig, doch kritisiert er die Produktion ständig neuer, kurzlebiger Produkte und damit das künstliche Schaffen von Bedürfnissen. Als Konsumismus definiert er Konsumverhalten, weil es per se Glücksgefühle auslöst.
 
Ökologische, soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Belange – alle in einen Topf!

Die sozial-ökologische Transformation zielt auf eine tiefgreifende Veränderung solcher Verhaltensweisen ab. Muss man wirklich täglich Fleisch essen? Oder kann einen die Erkenntnis umstimmen, dass in Lateinamerika riesige Weideflächen für Rinder zur Produktion von qualitativ hochwertigem Fleisch nun mit genetisch manipuliertem Soja bepflanzt werden, zur Futterherstellung für Schweinezuchten in China, um der gestiegenen Nachfrage an billigem Fleisch Rechnung zu tragen? Muss jeder ein eigenes Auto haben? Oder gibt es andere Modelle zur Fortbewegung? Es geht nicht um die Einsicht zum generellen Verzicht, die der Wohlstandsgesellschaft ohnehin schwer zu vermitteln ist, insistiert Brand, sondern darum, Konzepte wie Nahrungsmittelqualität und Mobilität umzudefinieren.

Sozial-ökologische Transformation bedeutet, die Defizite des grünen Kapitalismus zu kompensieren. Sie richtet sich nicht gegen den Markt an sich, sondern gegen den profitgesteuerten Markt, spezifiziert Brand. Ein starkes Element ist dabei die zukunftsorientierte Planung anstelle des spontanen Reagierens auf die momentane Nachfrage. Dabei kommt dem Staat, aber auch der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle zu, denn „die Verantwortung der Unternehmen reicht nur bis zu den eigenen Teilhabern“. Transformation bedingt einen demokratischen Lernprozess und fordert reflexive Modernisierung. Sozialwirtschaftliche, ökologische, kulturelle und politische Belange dürfen nicht mehr getrennt voneinander betrachtet werden. Auch muss unser Verständnis von Wohlstand breiter angelegt werden und das Prinzip der Solidarität beinhalten. So kann etwa eine Reduzierung des Autofahrens nicht allein über den Preis – Treibstoffverteuerung oder Umweltabgaben – gesteuert werden, denn das ginge auf Kosten der sozial schwachen Mitglieder der Gesellschaft.

Kein Masterplan, dafür ein paar Eckpfeiler

Wichtiger Teil der Überzeugungsarbeit sind Aufklärung und Ausbildung. „In Deutschland und Österreich ist Öko-Denken längst Mainstream“, verrät der Redner. Viele junge Leute essen gar kein Fleisch mehr oder schränken den Konsum freiwillig stark ein. Doch die Werbung suggeriert ein anderes Bild: Kommt man in Wien am Flughafen an, stößt man überall auf Werbeplakate für Wiener Tafelspitz. Essenziell ist die Vermeidung sozialer Ungerechtigkeiten als Teil des neuen Konzepts, warnt der Experte. Jede Umstrukturierung löst sonst Widerstand in den Kreisen der Arbeiter aus, weil diese in der Vergangenheit unweigerlich mit Jobverlusten in den untersten Reihen verbunden war. Gewünschte Veränderungen können nicht nur durch staatliche Regelungen, sondern auch durch Trade Unions angestoßen werden. Brand zitiert hierzu ein Beispiel aus Südafrika, in dem durch Anreize für Taxifahrer der Autoverkehr und damit die Luftverschmutzung signifikant reduziert wurden.

Als Antwort auf die Fülle der Fastfoodanbieter könnte man Ketten für qualitätsvolles Essen als Anregung zur Konsumveränderung ins Leben rufen. Die Dezentralisierung der Energieversorgung, eine Reform des öffentlichen Transportwesens und des Wohnkonzepts sind weitere vielversprechende Ansatzpunkte. Eine der größten Herausforderungen besteht jedoch darin, Ressourcen völlig neu zu definieren. Als Beispiel sei die Arbeitskraft genannt: Nicht nur bezahlte Arbeit darf hier ins Kalkül einfließen. „Wir wissen, dass es wie bisher nicht mehr lange weitergeht - aber wir können keine Alternative anbieten, deswegen sagen wir das nicht öffentlich“, so ungefähr zitiert Ulrich Brand den Vertreter eines deutschen Industriekonzerns. Branche: austauschbar. Der derzeitige Kapitalismus scheint wie ein Wollknäuel – lockert man es der Umwelt zuliebe an einem Ende, schnürt es sich woanders fester zusammen. Noch gibt es für die große Transformation keinen Masterplan, schreibt Brand in einem Blog-Artikel, wohl aber ein formulierbares Projekt. All diese Prozesse werden ungleichzeitig stattfinden, mit Sprüngen und Rückschlägen, warnt er vor. Doch bringt er auf den Punkt: Wir brauchen eine Reform für einen attraktiven Lebensstil.