Begeistert von den Handschriftenschätzen in rumänischen Bibliotheken

Prof. Dr. Cora Dietl (Gießen) über Entstehung des Lexikonbandes zur regionalen Literaturgeschichte des Mittelalters: Ungarn und Rumänien

Unlängst ist im renommierten de Gruyter-Verlag in Berlin das „Lexikon der regionalen Literaturgeschichte des Mittelalters: Ungarn und Rumänien“ in der Edition eines von Cora Dietl geleiteten Teams erschienen. Zu diesem Anlass führten András F. Balogh u.a. ein Gespräch mit der Professorin der Justus-Liebig-Universität in Gießen, die eine Kooperation mit der Babeş-Bolyai Universität initiierte und schließlich als Leiterin einer Forschergruppe der beiden Universitäten das Lexikon herausbrachte.

Liebe Frau Dietl, wann sind Sie, eine in Esslingen gebürtige Schwäbin und Professorin an der Gießener Universität, erstmals mit Ostmitteleuropa in Kontakt getreten?

Bevor ich 2006 nach Gießen kam, kannte ich Ostmitteleuropa kaum, einmal abgesehen von einzelnen Exkursionen oder Konferenzbesuchen. Allein mit Nordosteuropa hatte ich während meiner Zeit in Finnland (1996–99) etwas näher zu tun.
 

Haben Sie keine verwandtschaftlichen Beziehungen nach Ostmitteleuropa?

Mein Vater war Sudentendeutscher, aber er ging schon in Esslingen zur Schule. Was vom Sudetendeutschen blieb, waren ein paar kulinarische Vorlieben, die er in die Familie einbrachte. Das ändert nichts daran, dass ich südwestdeutsch sozialisiert bin.
 

Wie kam es dann, dass Sie Interesse an Ostmitteleuropa fanden?

Noch im Zuge der Berufungsverhandlungen mit der Universität Gießen wurde ich gefragt, was ich zum damals neu gegründeten Gießener Zentrum östliches Europa beitragen könnte. Da wandte ich mich hilfesuchend an András F. Balogh, den ich 1993 bei einem Sommerkursus an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel kennengelernt hatte und der seitdem den Kontakt zu mir und zur Projektstelle Tristan-Wörterbuch in Tübingen, an der ich arbeitete, gehalten hatte. Er machte mich auf das DAAD-Programm der Germanistischen Institutspartnerschaften (GIP) aufmerksam und regte an, dass wir so etwas für Gießen und Klausenburg probieren könnten. Gleichzeitig erhielt ich aufgrund meiner reichen Auslandserfahrung (ich hatte nicht nur in Finnland, sondern auch ein Jahr in England und ein gutes Jahr in den Niederlanden gelebt) das Amt der Europa-Beauftragten des Gießener Instituts für Germanistik, konzentrierte mich dabei v.a. auf die langjährige intensive Partnerschaft unseres Instituts mit Lodz und aus reiner Neugier (weil ich Litauen noch nicht kannte) auf Kaunas. – Im Handumdrehen rückte mir Ostmitteleuropa ganz nahe.

Welche Kontakte haben Sie zu Rumänien?

Während der zehnjährigen Laufzeit der Partnerschaft mit der Babe{-Bolyai-Universität war ich i.d.R. zweimal im Jahr in Rumänien. Dabei habe ich Kontakte mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen verschiedener Fächer geschlossen, einen Großteil des Landes bereist und einige Universitäten kennengelernt. Offiziell mit im Programm unserer GIP ist seit einigen Jahren auch Temeswar. Begeistert bin ich v.a. von den Handschriftenschätzen, die sich in rumänischen Bibliotheken (z.B. in Kronstadt/Braşov oder in Alba Iulia/Weißenburg) finden lassen. Hier wäre Material für deutlich mehr als nur für das Lexikon der regionalen Literaturgeschichte vorhanden.
 

Wie sind Sie auf die Idee dieses Lexikons gekommen?

Indirekt durch einen Tagungsbericht aus Frankfurt, in dem von Christoph Fasbenders Projekt des umfassenden Lexikons der regionalen Literaturgeschichte des Mittelalters die Rede war. Als ich Herrn Fasbender bald darauf bei einer Tagung der Oswald-Gesellschaft kennenlernte, war rasch beschlossen, dass ich den Band Ungarn/Rumänien in seiner Reihe übernehmen würde.
 

Das Lexikon ist ein Erfolg, es hat gute Kritik bekommen und die Kollegen gratulierten. Wie schätzen Sie dieses Lexikon ein?

Mich freut es natürlich, wenn es Aufmerksamkeit findet, aber ob es gut oder erfolgreich ist, müssen andere einschätzen. Ich kann nur meine Bewunderung und meinen Dank gegenüber all denen, die mitgeholfen haben, dass es in so kurzer Zeit entstand, aussprechen. Dabei meine ich v.a. Anna-Lena Liebermann, die der Koordination der Projektarbeit sehr viel ihrer wertvollen Promotionszeit geopfert hat und ohne die dieses Werk nie hätte entstehen können. Ich selbst habe bei der Arbeit sehr viel gelernt und bin mehr denn je begeistert vom Gesamtkonzept des Lexikons, das in ganz Europa Spuren mittelalterlicher Schriftkultur aufdeckt und regional und institutionell verortet. Als Germanisten richten wir notwendig unseren Blick v.a. auf deutsche Schriftkultur im weitesten Sinne, bei der Arbeit am Lexikon aber wurden die enormen interkulturellen und gesamteuropäischen Verstrickungen der mittelalterlichen Schriftkultur deutlich, die eigentlich eine solche Abgrenzung gar nicht erlauben. Es tat auch immer wieder weh, an den heutigen Landesgrenzen stoppmachen zu müssen. Aber das Lexikon ist eben nur ein Band, d.h. ein Puzzlestein in einem großen Lexikonprojekt. Ich hoffe, dass bald weitere Bände der Reihe erscheinen.
 

In dieser langen Kooperationszeit mit den Klausenburger Kollegen haben Sie nicht nur Siebenbürgen, sondern ganz Rumänien kennengelernt. Was ist Ihre Meinung über die Germanistik in unserem Land?

In Siebenbürgen und im Banat ist die Situation sicherlich eine etwas andere als im Rest von Rumänien. Dass hier noch alte siebenbürgische und banater Traditionen gepflegt werden und das Deutsch nicht nur als eine Fremdsprache, die für Wirtschaftskontakte zwar von Bedeutung, gegebenenfalls aber doch durch die lingua franca Englisch ersetzt werden kann, gelehrt wird, sondern als Teil eines gemeinsamen Erbes, finde ich sehr begrüßenswert. Mir fällt in Rumänien etwa im Gegensatz zu Finnland die Betonung der Literaturwissenschaft gegenüber der Linguistik auf, was eher auf ein kulturelles Interesse hinweist.

Ein solches ist ja mit wirtschaftlichen Interessen keineswegs unvereinbar, es bedarf aber, da es sich nicht so schnell in barer Münze auszahlt, ausführlicherer Begründungen. Ich hoffe sehr, dass sich diese Art von Germanistik in Rumänien halten kann und dass sie nicht der generellen Tendenz einer Kürzung historisch-kulturell orientierter Geisteswissenschaften, die in ganz Europa spürbar ist, zum Opfer fällt. Dazu bedarf es aber, gerade auch von deutscher Seite, einer Einsicht in die Wichtigkeit der Vielsprachigkeit und der in der regionalen Sprache vermittelten kulturellen Schätze, die bei einer Umstellung auf eine aus historisch-kulturellen Kontexten gerissenen und von allen mehr schlecht als recht beherrschten lingua franca verlorengehen.