„Bei jedem neuen Stück die gleiche Neugier“

Ein ADZ-Gespräch mit Kurt Philippi, Musikwart der Evangelischen Kirche A.B. Rumänien

Foto: Christine Chiriac

Vor Kurzem sind im Hermannstädter Schiller Verlag die Motette „Cantate Domino“ von Philipp Caudella und „Sechs Miniaturen für Orgel“ von Ernst Irtel erschienen. Man muss kein Kenner, wohl aber ein interessierter Musikliebhaber sein, um zu wissen, dass es sich bei den Komponisten um Persönlichkeiten handelt, die (nicht nur) die siebenbürgisch-sächsische Musikwelt geprägt haben. Die Notenausgaben haben einheitliches Design (Anselm Roth) und sind bereits Band elf und zwölf in der Reihe „Musik aus Siebenbürgen“. Weitere neue und alte siebenbürgische Musik, Chorwerke, Quartette, Dicta oder Kantaten sind unter dieser Marke in den vergangenen drei Jahren erschienen – ein einzigartiges, willkommenes Projekt, das neugierig macht.

Koordinator der Reihe ist der Musiker Kurt Philippi, der Musikwart der Evangelischen Kirche A. B. Rumänien und Leiter des Bachchors Hermannstadt/Sibiu. Der gebürtige Kronstädter hat in Klausenburg/Cluj-Napoca Cello studiert und anschließend in Kronstadt/Braşov an der Musikhochschule und an Schulen mit musikalischem Schwerpunkt unterrichtet. Nachdem Franz Xaver Dressler, der Gründer des Hermannstädter Bachchores, nach 47-jähriger Tätigkeit als Chorleiter zurücktrat, übernahm Philippi die Leitung des Chores zunächst vertretungsweise. Als Mitte der achtziger Jahre auch die Hermannstädter Organisten- und Stadtkantorenstelle unbesetzt blieb, zog er zusammen mit seiner Frau, der Organistin Ursula Philippi, nach Hermannstadt. Seither sind genau drei Jahrzehnte vergangen – die in der Musikwelt wie in der gesamten sächsischen Gemeinschaft gleichermaßen von Zäsuren und Erfolgen geprägt waren. Christine Chiriac sprach für die ADZ mit Kurt Philippi über „Musik aus Siebenbürgen“.

Herr Philippi, eine siebenbürgische Musikreihe zu veröffentlichen, ist ein ambitioniertes Projekt. Wie lautet die Vorgeschichte?

Anfang der neunziger Jahre, als die massive Auswanderung stattfand, blieben sehr viele Gemeindearchive ohne Pfarrer, ohne Presbyter, ohne Gemeinde zurück. Die Landeskirche hat das „verlassene“ Archivmaterial nach Hermannstadt und in andere Zentren wie zum Beispiel Tartlau/Prejmer oder Mediasch/Mediaş bringen lassen, und das Teutsch-Haus hat die Aufarbeitung in die Wege geleitet. Viele Gemeindearchive bestanden größtenteils aus Noten, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr verwendet, aber auch nicht weggeworfen worden waren – denn zum Glück wirft der Sachse nichts weg! Etwa 1992 machte ich mich an die Aufarbeitung dieses Archivmaterials und versuchte, eine Ordnung hineinzubringen, die Noten in Kategorien einzuteilen, schließlich Bestandsaufnahmen für die einzelnen Gemeinden zu erstellen. Manchmal standen vor meiner Tür mehrere Bananenschachteln voller Noten, aber auch voller Staub, Schutt oder Taubenmist. Nach der Reinigung begann erst recht das Puzzlespiel – denn sehr oft waren Notenblätter einzelner Werke auf mehrere Kisten verteilt und man musste lange rätseln, welches Blatt zu welchem Werk gehörte. Hinzu kam, dass es für die meisten Werke keine Partituren, sondern lediglich Stimmsätze für Chor und die gebräuchlichsten Instrumente wie Violine, Viola, Orgel, Klarinette, Horn gab.

War Siebenbürgen mit Westeuropa auf musikalischem Gebiet verbunden?

Manchmal erstaunlich stark. Zum Beispiel hatte „Die Schöpfung“ von Haydn nur wenige Jahre nach der Wiener Uraufführung auch in Hermannstadt Premiere. Wahrscheinlich geht das auf Brukenthal zurück, der musisch sehr begabt und interessiert war und eine enge Verbindung zu Wien hatte. Auf dem Lande kam die große Klassik natürlich etwas später an. Bei der Vorbereitung auf das Haydn-Jahr 2009 habe ich in den Archiven aus Deutsch-Weißkirch und anderen Dörfern rund um Reps geforscht und zahlreiche Haydn-Werke entdeckt: Messen, Fragmente aus dem „Jahreszeiten“-Oratorium, aus der „Schöpfung“. Das alles war einige Jahre nach der Entstehung auch in Siebenbürgen zu hören, in Zeiten, in denen es keine Autobahn und kein Faxgerät gab. Erstaunlich ist auch, dass es Leute in den Dörfern gab, die diese anspruchsvolle Musik aufführen konnten. Interessanterweise wurden die Haydn-Messen, die mit lateinischem Text für die katholische Kirche geschrieben sind, an die hiesigen Verhältnisse ‘leicht adaptiert‘: man hat einfach den Originaltext mit einem deutschen ersetzt.

Kommt es vor, dass in den Stimmen, die Sie entdecken, manchmal ein Notenblatt fehlt?

Oft fehlt nicht nur ein Blatt, sondern eine ganze Stimme. Dann ist die Partitur unvollständig und kann leider nicht aufgeführt werden – es sei denn, das Stück ist so gut, dass es sich lohnt, eine Rekonstruktion zu machen. Das haben wir zum Beispiel mit einem „Dictum auf das Weihnachtsfest“ von Johann Sartorius gemacht. Wir hatten eine Alto-, eine Bass-, eine Viola- und eine Violino-primo-Stimme, und es war klar, dass drei Gesangstimmen und die zweite Violine fehlten. Es gelang, das Werk anhand einer später aufgetauchten Orgelstimme zu rekonstruieren, aufzuführen und schließlich auf CD einzuspielen. Aber das war eher eine Ausnahme.

Haben Sie auch beson-ders wertvolle Musik in den Archiven gefunden?

Wenn ich die einzelnen Stimmen zu Partituren zusammenfüge – in Fachsprache heißt es „spartieren“ – dann ist es manchmal nach fünf, manchmal nach fünfzig Takten erkennbar, ob die Musik ausgereift ist und ob es sich ‘lohnt‘ weiterzuschreiben. Ich habe immer wieder Interessantes entdeckt, das wir später aufgeführt haben – denn wie das Werk wirklich klingt, weiß man nur, wenn man es gespielt hat. Meistens handelt es sich um Kirchenmusik, die auch heute noch sehr gut in unsere Gottesdienste passt – und manche Stücke waren bemerkenswert gut. So kam es zu den Veröffentlichungen unserer Notenreihe.

Die ersten zwei Veröffentlichungen sind Passionsmusiken. Sind sie miteinander verbunden?

Rudolf Lassels „Leidensgeschichte“, unser Band eins, benutzt als Textvorlage einen Passionstext aus dem evangelischen Gesangbuch von 1899. Wenngleich das Werk unvollendet ist, wurde es von den Kirchenchören mehrmals aufgeführt und ist in Siebenbürgen durchaus bekannt. Die von Lassel nicht mehr vertonten Teile hat Hans Peter Türk für die gleiche Besetzung komponiert – das ist unser Band zwei. Es war ein Auftragswerk des Hermannstädter Bachchores aus Anlass des damals bevorstehenden Hermannstädter Kulturhauptstadtjahres – und ist meiner Meinung nach eins der besten Werke von Hans Peter Türk. Die beiden Werke ergeben zusammen eine Siebenbürgische Matthäus-Passion. Sie sind durch ein Jahrhundert voneinander getrennt, es verbindet sie aber ein durchgehender Text. Natürlich ist Türks „Passionsmusik für den Karfreitag“ technisch viel anspruchsvoller und übersteigt dadurch die Möglichkeiten unserer Gemeindechöre. Die Tonsprache ist modern, zugleich in der kirchenmusikalischen Tradition verwurzelt, und selbst für den Nichtkenner sehr schön zu hören. Die Meißner Kantorei hat das Werk gemeinsam mit dem Hermannstädter Bachchor 2007 uraufgeführt – genauer gesagt, haben wir uns die Zähne ziemlich ausgebissen, um mit der Kantorei mithalten zu können. Später kam es auch zu einer CD-Einspielung der Kantorei und zu einer hervorragenden Profi-Aufführung der Klausenburger Philharmonie.

Wie ging es mit der Notenreihe weiter?

Unser Konzept war es, nicht nur Kirchen- und Chorwerke herauszubringen, sondern möglichst verschiedenartige Musik. Da wir gemeinsam mit Klausenburger Kolleginnen gerade das Quartett von Rudolf Lassel und das zweite Quartett von Paul Richter einstudiert hatten, nahm ich dies zum Anlass, die beiden Werke von der Geigerin Melinda Béres veröffentlichen zu lassen. Band fünf enthält Bearbeitungen alter siebenbürgisch-sächsischer Volkslieder von Hans-Peter Türk, die er in den siebziger Jahren für den Schülerchor des Honterus-Gymnasiums geschrieben hatte. Noch damals erschienen sie im „Muzica“-Verlag – jetzt haben wir sie mit dem sächsischen Originaltext, der deutschen Übersetzung und einer sehr guten rumänischen Nachdichtung von Nina Cassian erneut veröffentlicht. Die Ausgabe war ein Erfolg, denn Lieder wie „Et saß e kli wäld Vijeltchen“ oder „Ze Kriune“ sind nicht nur bei unseren Kirchenchören sehr beliebt.

Im sechsten Band hat Steffen Schlandt die sämtlichen a cappella-Chöre von Lassel – insgesamt 46 Werke – herausgebracht, während die Nummern sieben und acht in unserer Reihe aus den Gemeindearchiven des Repser Ländchens stammen. Es geht um das „Dictum auf das erste Pfingstfest“ von Johann Knall und um das „Dictum auf das zweite Pfingstfest“ von Joseph Benjamin Weiss, die wir in Keisd/Saschiz bei einem „Laudate“-Konzert aufgeführt haben. Die Herausgabe der Bände neun und elf – in denen die Orgel eine wichtige Rolle einnimmt – wurde von meiner Frau angeregt. Philipp Caudella war katholischer Kirchenmusiker und unterrichtete gleichzeitig an dem Evangelischen Gymnasium in Hermannstadt. Seine Werke mit virtuosem, konzertantem Orgelpart, zu denen die beiden Motetten gehören, waren zu der Zeit eine Besonderheit und stellen heute noch für Orgelschüler und Organisten eine Herausforderung dar. Band zehn enthält Hans Peter Türks eindrucksvolle Weihnachtskantate „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Schließlich ist der jüngste Band erneut der Orgel gewidmet, und zwar dem Erstdruck der Miniaturen von Ernst Irtel. Er ist für seine Vertonung der „Siebenbürgischen Elegie“ von Meschendörfer bekannt, hat aber zahlreiche andere Werke komponiert, die Aufmerksamkeit verdienen.

Steht schon fest, was demnächst erscheint?

Ich habe mehrere Partituren aus dem Archiv zusammengestellt, die auf Veröffentlichung warten, aber was als nächstes in den Druck geht, kann ich noch nicht sagen. Ein Wunsch von mir wäre es, die sämtlichen Quartette von Richter in einem Band zu veröffentlichen – wie es auch bei den großen Komponisten der Wiener Klassik Sammelbände gibt. Ein sehr langfristig angelegtes, nicht unbedingt realistisches Traumprojekt, das mir vorschwebt, und an das ich mich heranwagen möchte, wäre die Herausgabe des „Senndörfer Cantionale“ – ein Kompendium, das genauso wertvoll wie der „Codex Caioni“ ist und einen Überblick des musikalischen Siebenbürgen im 17. Jahrhundert bietet. Daran hätte ich für die nächsten zehn Jahre zu tun. Eigentlich könnte man sein Leben lang nichts anderes machen als diese Arbeit! Bei jedem neuen Stück empfindet man die gleiche Neugier.

Die Arbeit an den Notenbänden ist aber nur ein kleiner Teil Ihrer Tätigkeit. Wie sieht der Alltag für den Musikwart der Evangelischen Kirche aus?

Um es zugespitzt zu sagen: Man setzt sich für alle musikalischen Angelegenheiten der Kirche ein, wobei der Bachchor nur die Spitze des Eisbergs ist. Früher, bevor ich nach Hermannstadt kam, gab es eine Kantorenschule der Kirche, an der die Dorforganisten und Chorleiter für die Gemeinden ausgebildet wurden. Nachdem die Tätigkeit der Schule wegen staatlicher Kürzungen und Druckmaßnahmen eingestellt werden musste, regte der damalige Bischof Albert Klein die Weiterführung der Ausbildung durch einen Musikwart an. „Versuchen Sie, den musikalischen Grundwasserspiegel innerhalb der Kirche anzuheben“, sagte er mir damals in einem ersten Gespräch. Das Grundwasser ist inzwischen durch die Auswanderung stark abgesackt, also habe ich meine Aufgabe neu definiert: Die Quellen rein zu halten, die noch nicht versiegt sind.

Heutzutage gibt es kaum noch Dorforganisten, und diejenigen, die in den Städten arbeiten, sind meistens selber Berufsmusiker und brauchen keine weitere Anleitung durch den Musikwart. Aber zahlreiche Chöre haben keinen Chorleiter – also fahre ich als Wanderlehrer in die Gemeinden und unterstütze die Chöre bei ihren Proben. Beispielsweise gibt es in Malmkrog/Mălâncrav eine Gruppe von etwa fünfzehn Sängerinnen und Sängern, die fleißig jeden Donnerstag proben, und denen ich monatlich neue Stücke mitbringe. Außerdem unterrichte ich liturgisches Singen bei den evangelischen Theologiestudenten. Schließ-lich ist der Musikwart Koordinator verschiedener übergemeindlicher Veranstaltungen und organisiert Besuche ausländischer Formationen und kirchenmusikalischer Gruppen: Anfang August kommt eine Reisegruppe von Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern aus der württembergischen Landeskirche, um die Orgellandschaft Siebenbürgens kennenzulernen, Mitte September findet bei uns der Kongress der Internationalen Gesellschaft der Orgelbauer (ISO - International Society of Organbuilders) statt und Ende September die Jahrestagung der Europäischen Konferenz für Evangelische Kirchenmusik. Es wird ein spannendes Jahr!

Vielen Dank für dieses informationsreiche Gespräch und herzlichen Glückwunsch zum bevorstehenden 65. Geburtstag am 27. April.


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Musik aus Siebenbürgen im Schiller Verlag Hermannstadt Bonn
Band 1 (2011): Rudolf Lassel: „Die Leidensgeschichte unseres Herrn Jesus Christus“, Op. 23, für Chor, Solostimmen, Gemeindegesang und Orgelbegleitung. Worte nach dem Matthäus-Evangelium. Hrsg. Ursula und Kurt Philippi
Band 2 (2011): Hans Peter Türk: „Siebenbürgische Passionsmusik für den Karfreitag” nach dem Evangelisten Matthäus für Chor, Solostimmen und Orgel. Hrsg. Kurt Philippi
Band 3 (2012): Rudolf Lassel: Quartett für zwei Violinen, Viola und Violoncello in B-Dur. Hrsg. Melinda Béres
Band 4 (2012): Paul Richter: Streichquartett Nr. 2 in d-Moll op. 99. Hrsg. Melinda Béres
Band 5 (2012): Hans Peter Türk: Siebenbürgisch-sächsische Volkslieder aus der Sammlung Gottlieb Brandsch
Band 6 (2012): Rudolf Lassel: Geistliche und weltliche a cappella-Chöre. Hrsg. Steffen Schlandt
Band 7 (2012): Johann Knall: Dictum auf das erste Pfingstfest. Hrsg. Kurt Philippi
Band 8 (2012): Joseph Benjamin Weiss: Dictum auf das zweite Pfingstfest. Hrsg. Kurt Philippi
Band 9 (2013): Philipp Caudella: „Vias tuas, Domine, demonstra mihi”. Motette für Sopran, Chor, konzertante Orgel und Orchester. Hrsg. Kurt Philippi
Band 10 (2013): Hans Peter Türk: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Choralkantate für Sopran solo, Chor, Instrumente und Gemeindegesang
Band 11 (2013): Philipp Caudella: „Cantate Domino“ für 2 Oboen, 2 Violinen, Orgel und „Violine e Violincello”. Hrsg. Ursula Philippi
Band 12 (2013): Ernst Irtel: Sechs Miniaturen für Orgel. Hrsg. Ursula Philippi