Bei Prof. Paul Philippi nachgelesen

Der Politiker, Historiker und Theologe wird heute 90 Jahre alt

Die Schriften von Professor Paul Philippi kann man über fast sechs Jahrzehnte verfolgen. Einige Sammelbände, erschienen im letzten Vierteljahrhundert, umfassen ein Werk, das sonst schwer zu finden wäre, da die Texte in allerlei Periodika veröffentlicht oder als Reden vorher nicht gedruckt wurden. Seine Gedanken stellen einen sehr wichtigen Beitrag nicht nur zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen, der deutschen Minderheit in Rumänien im Allgemeinen dar, sondern ermöglichen auch einen interessanten Einblick in die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien.

Ein total unerwarteter Verlauf der Geschichte hat dazu beigetragen, dass ein Teil seiner vor Jahrzehnten geäußerten Gedanken Realität geworden sind und dass sein langes Streben zur Bewahrung deutscher Identität in Rumänien klare Konturen bekommen hat.

In seinen Schriften und Reden hat Prof. Philippi eine klare Linie, die dieselbe geblieben ist von seinen ersten veröffentlichten Texten von 1956 bis jetzt. Eine Anpassung an eine radikal geänderte Gegenwart ist spürbar, doch die Richtung ist dieselbe geblieben. Seine konzentrierte Aufmerksamkeit galt der über 800-jährigen Existenz der deutschen Minderheit in Rumänien. Er beobachtete sie in der vielleicht schwierigsten Phase ihrer Geschichte – in der Zeit eines gleichzeitigen gewaltigen Druckes im Inland und aus dem Ausland, wo sich ein starker Sog bemerkbar machte. In diesem komplexen Zusammenhang schien das beharrliche Streben für das Fortbestehen der deutschen Minderheit in Rumänien vielen ein illusorischer Widerstandskampf.

Aus einigen Merkmalen dieser Schriften gehen die Leitlinien seiner Gedankenwelt hervor. Hierbei versuche ich, nur einige Hauptzüge darzustellen.

Prof. Philippi ist gleichzeitig Theologe und Historiker, er hat in Erlangen und Zürich studiert. Als Direktor des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg stand er amtlich der Kirche näher. Von der Seele her ist er überwiegend Historiker und letztendlich auch Politiker als ehemaliger Vorsitzender und noch amtierender Ehrenvorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien. Ist die Geschichte nicht die Vergangenheit der Politik? Man empfindet bei ihm sehr stark das Gefühl für Geschichte, die Aufgabe, diese Geschichte persönlich zu beeinflussen. Nicht die Weltgeschichte, nicht einmal die Geschichte der zwei Länder, in welchen er gelebt hat – Deutschland und Rumänien –, sondern die der deutschen Minderheit in Rumänien, deren Weiterbestehen der Zweck seines Lebens scheint.

Schon 1956 schrieb er: „Das Rad der Geschichte dreht sich auch heute schneller als damals (...) Denn der Geschichte entläuft auch heute niemand. Erst wer die Achse erfasst hat, behält Halt. Die dreht sich nicht. Und wer sich an ihr hält, auch nicht: Er wird getragen. Aber um die dreht sich alles.“

Bei Prof. Philippi wird die sächsische Geschichte weniger von Persönlichkeiten gestaltet, sondern von der Gemeinschaft des sächsischen Volkes. Die Stärke der Sachsen bestand in der Organisation und Solidarität ihrer Volksgenossen. „Mehr als von Sprache, Blut und Geschichte lebt eine Gemeinschaft von gemeinsamer Ordnung, von gemeinsamem Recht und Rechtsempfinden. (...) Eine Gemeinschaft lebt nur so lange, als es Menschen gibt, die stellvertretend in den Riss treten, die das Schicksal der Gemeinschaft als ihr persönliches Geschick auf sich nehmen – und umgekehrt ihr eigenes Schicksal als Stück des Ganzen für das Ganze einsetzen. Die Gemeinschaft lebt von der Identifikation Einzelner mit dem Ganzen.“

Diese Gedanken von 1958 sind auch Jahrzehnte später dieselben geblieben, in einer Zeit, wo ein Teil seines Strebens Wirklichkeit geworden ist, indem die deutsche Minderheit in Rumänien in den Augen der Behörden und der Vertreter anderer Volkszugehörigkeit wieder das ehemalige Ansehen erworben hat. So sprach er vor der Vertreterversammlung des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR) anlässlich der Wahlen von 2008:

„Es ist wichtig, dass unser Forum auf den Beinen steht, nicht auf dem Kopf: Wir wollen nicht gewählt und beachtet werden, weil es unseren Repräsentanten gelungen ist, von Politikern im In- und Ausland bemerkt und gestützt zu werden, sondern: Wir wollen durch Wähler gewählt und von den Politikern beachtet und gestützt werden, weil in Rumänien erlebbar existierende deutsche Gemeinschaften sind, die sich als solche ins Leben des Landes konstruktiv eingebracht haben, einbringen wollen und einbringen können. Die Kratie braucht ihren Demos.“ Ein Jahr später, bei einer anderen DFDR-Vertreterversammlung, fasst er wieder zusammen: „Ohne Wir wird es nicht gehen.“

Das Schreiben ist auch ein Zeuge des Wirkens. In seinem Bestreben um den Erhalt der deutschen Minderheit in Rumänien, in einer Zeit, wo diese zum Handelsobjekt zwischen Bukarest und Bonn wurde, hat Prof. Philippi mit viel Mut und nicht ohne Risiken die Initiative ergriffen, sich an deutsche Politiker in den ersten Reihen zu wenden. Er wollte diesen die Problematik der Rumäniendeutschen darstellen, ihnen einige Nuancen, die sehr wichtig für das Verständnis der Lage dieser Minderheit war, erklären. Beispielhaft ist der Brief an Hans-Dietrich Genscher von 1983, in einer Zeit, wo die Auswanderung stark im Gange war, aber als man noch hoffen konnte, dass man doch Lösungen für die Stabilisierung der deutschen Minderheit in Rumänien finden könnte. Sein Mut war umso größer, als er damals versuchte, im sozialistischen Rumänien Fuß zu fassen, sogar sich hier zu etablieren. Unverblümt schreibt er dem Außenminister: „Damit ist es aber Bonn zuzuschreiben, dass die Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben für Bukarest aus einem innenpolitischen Faktor zu außenwirtschaftlicher Valuta degradiert wurden.“

Wer Prof. Philippi liest, merkt, dass diese deutsche Politik gegenüber der deutschen Minderheit auf dem jetzigen Gebiet Rumäniens keine Erfindung der Bundesrepublik ist. Hierzu zerstört er viele Illusionen der in Siebenbürgen und im Banat lebenden Deutschen. 1986, in einem Jahr, wo die Anzahl der in Rumänien und im Ausland lebenden Rumäniendeutschen sich die Waage hält, meint er: „Die deutsche Politik hat die Existenz der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben nur unter dem Gesichtspunkt jener Interessen thematisiert, ausgenützt und zu beeinflussen versucht, die für das Deutschland der jeweiligen Epoche von Wert waren.“ Das ist die Meinung eines Historikers, der einen globalen Rückblick auf die Geschichte hat.

Paul Philippi lebt in einer Zeit des Aufbruchs, der schnellen Änderungen. Nicht nur die Zukunft bleibt ungewiss, sondern auch die Vergangenheit wird ständig neu bewertet. Deswegen auch die oft benützten Fragezeichen, die man in seinen Texten findet, sogar in den Titeln. Zwei Titel von seinen letzten Büchern sind beispielhaft: „Land des Segens? Fragen an die Geschichte Siebenbürgens und seiner Sachsen“ (2008) und „Weder Erbe noch Zukunft? Fragen rumäniendeutscher Gegenwart im 201. Jahrzehnt“ (2010). Wo ein Fragezeichen steht, besteht immer die Möglichkeit mehrerer Antworten. Der Autor akzeptiert auch andere Meinungen. Leider sind diese relativ rar. Jemand, der oft Fragezeichen benützt, ist ein Mann des Dialogs, eine Fähigkeit, die meistens fehlt, trotz der erklärten Freiheit der neuen Gesellschaft. Als Ehrenvorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien sorgt Prof. Philippi gerade auf diesen sehr wichtigen Bestandteil: die Demokratie. Deswegen betitelt er seine Rede bei der Vertreterversammlung des DFDR im Juni 2008 „ Jede Kratie braucht ihren Demos.“ Ein Jahr vorher, bei einer ähnlichen Versammlung, meinte er: „Aber was wir brauchen und nicht sehr haben, ist  die organisierte Diskussion von Grundsatzfragen und Perspektiven unserer Politik als Gemeinschaft der Deutschen in Rumänien.“

Diesbezüglich könnte Prof. Philippi mit seinem großen Ansehen solche Grundsatzfragen nicht nur über die Perspektive der deutschen Gemeinschaft in Rumänien stellen, sondern über die Probleme des ganzen Landes. Er ist der Vertreter einer Minderheit, die den besten Ruf in Rumänien hat. Als Architekt des Deutschen Forums, als Vorreiter und Mann der ersten Stunde könnte er das DFDR dazu bewegen, in der Richtung einer größeren Teilnahme an den allgemeinen Problemen der gesamtrumänischen Gesellschaft teilzunehmen. Ein Vorschlag des Forums, im passenden Moment, gilt viel mehr als einer von einer rumänischen Partei, der fast immer von der Gegenpartei vernichtet wird. Die Vorschläge können von überall kommen, umso mehr wenn man Kontakt mit der deutschen Ideenentwicklung hat.

Prof Philippi wird 90 Jahre alt. Als einer, der ihn auch bei seinem 80. Geburtstag erlebt hat, kann ich sagen, dass er geistig derselbe geblieben ist. Im letzten Jahrzehnt hat er einige Bücher veröffentlicht, hat er an zahlreichen Tagungen im In- und Ausland teilgenommen, wo er, sehr oft, auch Vorträge gehalten hat. In seinen Reden kann man immer konkrete Ideen finden. Es ist ein Genuss, ihm zuzuhören, weil er die Hauptgedanken und bestimmte Wörter seiner Ansprachen betont, sodass sie dem Hörer als Signale im Gedächtnis bleiben. Eine enorme Analyse- und Synthesekraft ist das Hauptmerkmal seiner Schriften.

Wenn man Prof. Philippi hört oder liest, stellt man sich die Frage: Woher kommt diese Kraft, welches ist das Geheimnis seiner Vitalität ? Man kann allerlei antworten, aber eines ist sicher: sein festes Herz. So wie er 1983 in der Predigt des Altjahresabends in Großau gesagt hat: „Ein festes Herz ist ein Geschenk. (...) Dass hier und da ein festes Herz wird – bei einem alten Mann, bei einer jungen Frau – das ist ein Geschenk der Gnade, um das wir nur beten können und das wir dankbar annehmen müssen, wenn es unter uns auftaucht – wenn ein Herz unter uns fest wird.“

Dieses Geschenk der Gnade wurde Herrn Prof. Philippi reichlich zuteil.

Mit 66 Jahren fängt das Leben an, sagte einmal Udo Jürgens. Mit 90 geht es weiter. Und von Prof. Philippi erwarten wir, dass er sein Engagement uneingeschränkt bewahrt. Weitere Stellungnahmen werden von ihm erwartet. Aber eines ist er uns allen schuldig: Seine Memoiren und ganz besonders über jene Epoche der dreißiger und vierziger Jahre, einer Zeit, aus der er einer der äußerst wenigen Zeitzeugen geblieben ist. Von einem Historiker wird auch eine realistische Darstellung erwartet. Von Kronstadt wurde uns neulich von Bettina Schuller (Jahrgang 1929) ein faszinierendes Erinnerungsbuch geliefert. Paul Philippi, sechs Jahre älter und mit einem tiefen Blick für die Geschichte, könnte uns noch mehr bringen. Es wäre noch eine Bestätigung seiner Lebensprinzipien – Präsenz zeigen!