„Besorgte Bürger“ und der Abschied von der Menschlichkeit

Pegida, brennende Flüchtlingsheime und eine überforderte Politik

Gegner der Unterkunft für Asylsuchende in Freital (23. Juni 2015).
Foto: Caruso Pinguin / Flickr

Mahnendes Plakat auf Seiten der Gegendemo (23. Juni 2015).
Foto: Caruso Pinguin / Flickr

„Rumänien wird freiwillig Flüchtlinge aufnehmen“ titelte die ADZ am 30. Juni und berichtete über die Ergebnisse des EU-Sommergipfels, auf dem Staatspräsident Klaus Johannis sich dafür aussprach, dass Rumänien Flüchtlinge aus den Aufnahmelagern Italiens und Griechenlands aufnimmt. Eine verpflichtende Regelung zur Quotierung der Aufnahme von 40.000 Flüchtlingen in allen EU-Staaten ist am Widerstand vor allem der osteuropäischen EU-Mitglieder gescheitert. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi, der auf eine verpflichtende Regelung gedrungen hat, platzte bei den Verhandlungen der Kragen: „Wenn ihr mit der Zahl von 40.000 nicht einverstanden seid, verdient ihr es nicht, Europa genannt zu werden.“ Auch der belgische Regierungschef Charles Michel zeigte sich enttäuscht von der Vereinbarung, die „praktisch nichts“ bringe. Er kritisierte die Gegner einer Quote, für die es Solidarität ausschließlich gäbe „wenn es ihnen in den Kram passt.“

Dass Solidarität nicht nur für viele Staatslenker ein Fremdwort ist, wird seit Monaten im deutschen Bundesland Sachsen demonstriert. Ein paar Stichpunkte: Winter 2014/15: Tausende demonstrieren in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden gegen eine vermeintliche „Islamisierung des Abendlandes“, „Pegida“ (=„Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) wird geboren. In Sachsen, wo 0,1 Prozent aller Einwohner Muslime sind. Nachdem mit 18.000 Teilnehmenden die Hochphase im Februar hinter „Pegida“ liegt, bricht die Bewegung auseinander. Immer weniger kommen zu den Demonstrationen. Doch die fremdenfeindliche, nationalistische Atmosphäre bleibt. Februar 2015: Sprengstoffanschlag auf eine Asylbewerberunterkunft im sächsischen Freiberg. Seit März 2015: Demonstrationen gegen das zur Asylbewerberunterkunft umfunktionierte Hotel „Leonardo“ in Freital. Es finden sich Plakate mit Aufschriften wie: „Lieber ‘ne Schweinemastanlage in der Nachbarschaft als diese ,Kulturbereicherer‘, wie sie im Leonardo hausen. Obwohl – wo wäre eigentlich der Unterschied?“, „Deutschland schafft sich ab“ oder „Keine Duldung von Sozialschmarotzern“. Juni 2015: Rechte greifen Unterstützer der Flüchtlinge in Freital an. Brandanschlag auf ein Haus in Meißen, in dem Asylbewerber untergebracht werden sollten.

Das alles erinnert an die Stimmung, die zu Beginn der 1990er Jahre zu den Ausschreitungen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen führte, wo Rechtsextreme unter dem Jubel von Bürgern Asylbewerberunterkünfte und Wohnheime für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter mit Brandsätzen angriffen. Die Ähnlichkeiten sind erschreckend – auch wenn der Eindruck entsteht, dass die Gegenwehr der humanistischen Teile der Zivilgesellschaft heute größer ist als vor 23 Jahren. Doch auch wenn es Solidaritätskundgebungen und zahlreiche Initiativen für die Rechte von Flüchtlingen gibt – die sächsische Landespolitik gibt eine schlechte Figur ab. Hannes Merz (Bündnis 90/Die Grünen), der sich seit Monaten gegen die Demonstrationen von „Pegida“ und für eine humane Asylpolitik einsetzt, sieht im ADZ-Gespräch einen Teil der Schuld an der aktuellen Situation auch bei den politischen Entscheidungsträgern: „Seit mehr als eineinhalb Jahren ist die Landespolitik im Bezug auf die Unterbringung von Asylbewerbern und -bewerberinnen heillos überfordert.“ So hätte man die Asylunterkunft in Freital zu einer Erstaufnahmestelle erweitert, obwohl es schon im März Demonstrationen gegeben habe, bei denen „die Polizei den Mob nur mühsam hat davon abhalten können, zum Heim zu ziehen.“ Merz weiter: „Die Verantwortlichen wussten, wie die Atmosphäre in der Stadt ist – und haben die Eskalation wissentlich in Kauf genommen.“

Der ehemalige französische Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel veröffentlichte 2010 ein kleines Pamphlet unter dem Titel „Empört euch!“. Sein Plädoyer für Menschenrechte und zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen eine falsche und inhumane Politik wurde auch in Deutschland zum Bestseller. Und nun? Eine Welle der Empörung rollt durch Sachsen. Aber was für eine Empörung? Empört wird sich nicht über die steigende Konzentration des Vermögens bei einer immer kleineren Minderheit. Empört wird sich nicht über die mehr und mehr unaufhaltsame Zerstörung des globalen Ökosystems durch eine irrationale Wirtschaftspolitik. Empört wird sich nicht über die Abschottungspolitik der Europäischen Union, deretwegen tausende Menschen jämmerlich im Mittelmeer ertrinken. Empört wird sich darüber, dass Menschen, die vor Krieg, Elend, ökonomischen und ökologischen Verheerungen fliehen, gerade in Deutschland ihr Heil suchen wollen. Waren noch vor wenigen Jahren die Harz-IV-Empfänger die Schmarotzer schlechthin, konsolidiert sich die imaginierte Volksgemeinschaft nun wieder, denn „der Ausländer“ kann zur neuen Projektionsfläche der eigenen Ängste gemacht werden.

Vielleicht kann das, was in Sachsen passiert, auf einer kognitiven Ebene verstanden werden, wenn man Analysen, wie die des Leiters des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, Franz Walter, liest, für den „Pegida“ „Ausfluss und Ausdruck politischer Obdachlosigkeit, kultureller Traditionsschwächen, weltanschaulicher Leere, zivilgesellschaftlicher Bindungsschwächen“ ist. Weitere Bausteine einer Erklärung des „Phänomens“ wären die Kränkungen breiter Bevölkerungsschichten in Ostdeutschland im Zuge der deutschen Einheit, die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft – aber auch eine politische Elite in Sachsen, die rechtem Gedankengut wenig entgegensetzt und zum Teil fremdenfeindliche Vorurteile aktiv nährt. So ist der CDU-Landtagsabgeordnete Sebastian Fischer Mitglied in der Facebook-Gruppe „Betroffene von Ausländerkriminalität in Sachsen“ und nennt über den Kurznachrichtendienst Twitter den NSU-Untersuchungsausschuss eine „Beschäftigungstherapie“. Der Landrat von Meißen lädt den so genannten „Heimatschutz“ zu einer Diskussionsrunde ins Landratsamt ein. Schaut man sich die Facebook-Präsenz dieses „Heimatschutzes“ an, kommt einem das Gruseln: Unter dem Bild einer Asylbewerberunterkunft steht geschrieben „Raus mit dem Dreck“ - Unter einem Bild, das dunkelhäutige Menschen beim Versuch der Überwindung eines Zaunes zeigt: „Affen“.

Auch der neu gewählte Freitaler Oberbürgermeister Uwe Rumberg, der sein Amt Anfang August antreten wird, lässt dem Ressentiment freien Lauf: Der Tagesspiegel zitierte Rumbergs Meinung über Asylbewerber, die er für „Glücksritter“ hält, „die nach Deutschland kommen, um auf Kosten der Gemeinschaft ein sorgloses Leben ohne Gegenleistung zu führen“. Eine solche politische Führungsmannschaft heizt den Fremdenhass eher an, als dass sie ihm etwas entgegensetzt.
In einer Pressemitteilung vom 24. Juni 2015 fordert daher auch Markus Kemper vom Mobilen Beratungsteam des Kulturbüros Sachsen: „Stadtverwaltung und regionale Unternehmen sollten sich deutlich auf die Seite der hilfesuchenden Menschen stellen und sich ohne Wenn und Aber zum Menschenrecht auf Asyl bekennen.“ Bisher sind derartige Positionierungen ausgeblieben. Weder der sächsische Ministerpräsident noch der Innenminister waren auf den Solidaritätskundgebungen nach dem Brandanschlag in Meißen anwesend. Auch wenn die „sächsischen Verhältnisse“ nicht auf ganz Deutschland übertragen werden können, so gibt es doch eine besorgniserregende Tendenz. Der Prozess vor dem Münchner Landgericht gegen den nationalsozialistischen Untergrund (NSU), dem zehn Menschen zu Opfer gefallen sind, und die von den NSU-Untersuchungsausschüssen zu Tage geförderten Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen dem rechten Terror und den Sicherheitsbehörden zeigen die akute Gefahr, die von rechten Gewalttätern ausgeht.

Und erst vor wenigen Tagen musste Bundesinnenminister Thomas de Maizière bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes für das Jahr 2014 einen Anstieg rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten um 23,6 Prozent im Vergleich zu 2013 bekanntgeben. Mit 512 fremdenfeindlichen Gewalttaten wurde der höchste Stand seit Einführung des aktuellen Bewertungssystems im Jahr 2001 verzeichnet. Insbesondere, so lässt sich dem Bericht entnehmen, „hat sich die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte – überwiegend Sachbeschädigungen und Propagandadelikte – mit 170 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdreifacht.“ Freilich ist ein nur in Brauntönen gehaltenes Bild nicht vollständig. Es gibt inzwischen zahlreiche Menschen und Initiativen in Sachsen und in der ganzen Bundesrepublik, die sich gegen die rechten Umtriebe wehren. Aber leider ist der Begriff „Solidarität“ noch immer keine Selbstverständlichkeit. Der reaktionären und menschenfeindlichen Empörung der Pegidisten ist eine aktive mitmenschliche Empörung im Sinne eines Antifaschisten wie Stéphane Hessel entgegenzusetzen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes haben allein in der ersten Hälfte des Jahres 2015 137.000 Menschen das Mittelmeer überquert.

Ein Drittel davon sind Kriegsflüchtlinge aus Syrien, „An zweiter und dritter Stelle der Hauptherkunftsländer folgen Afghanistan und Eritrea, deren Staatsangehörige ebenfalls zumeist als Flüchtlinge anerkannt werden“, heißt es weiter. Scharfe Kritik übte UN-Flüchtlingskommissar António Guterres am 1. Juli bei der Präsentation eines Berichtes zur Lage im Mittelmeer an der europäischen Politik: „Während Europa darüber berät, wie man am besten mit der sich zuspitzenden Krise im Mittelmeerraum umgeht, muss klar sein: Die Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen sind Flüchtlinge, die Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen.“ Doch solange die vielzitierten „ganz normalen, besorgten Bürger“ brav über die braunen Stöckchen, die man ihnen hinhält, springen, und solange politisch Verantwortliche im Kalkül um Wählerstimmen keine klare humanistische Position vertreten, bleibt es schwer für diese Menschen, Schutz zu finden. Die deutsche Regierungskoalition bereitet gerade im Bundestag eine Verschärfung des Asylrechts vor. Eine Schande.