Bildungs-Exodus von Ost nach West

Eine echte Gefahr für die Zukunft des deutschsprachigen Unterrichts in Rumänien

Deutschsprachige Kindergärten in Temeswar verlieren immer mehr Personal. Geraldine Zipple (im Bild) Leiterin der „Kinderwelt“ ist auch davon betroffen.
Foto: Zoltán Pázmány

Kleinkinder ab einem Alter von einem Jahr haben in Deutschland einen gesetzlich garantierten Anspruch auf einen Kindergartenplatz. Theoretisch.  Die Praxis sieht allerdings etwas anders aus. In vielen Städten und Gemeinden rennen die Eltern von Pontius zu Pilatus, weil es an Betreuungsplätzen und letztlich auch an Erzieherinnen und Erziehern fehlt: Die Kommunen tun sich schwer mit der Erfüllung des Rechtsanspruchs.  Einige Städte wählen aber außergewöhnliche Wege, um das notwendige Betreuungspersonal zu rekrutieren. Die Stadt Stuttgart zum Beispiel hat in mehreren Runden um die 20 Erzieherinnen aus Rumänien angeworben; dort gibt es immerhin eine über Jahrhunderte andauernde deutschsprachige Unterrichtstradition. Doch nun stellt sich heraus: Wenn sich Städte wie Stuttgart am Personal in Rumänien bedienen,  tun sich wiederum dort große Löcher im Bildungssystem auf. Der Autor hat sich in Stuttgart und in Westrumänien umgehört.

 

„Und wir lernen hier alle Deutsch, stimmt’s Nora? Ja. Können wir vielleicht was singen, zusammen? Tief einatmen, ausatmen…eins, zwei, drei….Am Montag muss das Minimonster…..“ Wenn gut ein Dutzend Vier- und Fünfjährige das Lied vom Minimonster auf Deutsch singen, ist das in diesem Fall für jemand, der aus Deutschland kommt, ziemlich ungewöhnlich: Die Knirpse leben in Westen Rumäniens. In Temeswar/Timisoara besuchen sie den deutschen Kindergarten „Kinderwelt“. Eine Privatinitiative, die bislang erfolgreich ist. Wer bereits als Kleinkind Deutsch lernt, hat bessere spätere Chancen in Schule, Studium und Beruf. Davon sind viele Eltern überzeugt. Das Problem ist nur: Von den 18 Erzieherinnen, die bei „Kinderwelt“ in Temeswar arbeiteten, haben sich drei beim Jugendamt der Stadt Stuttgart um eine Stelle beworben. Vorerst drei. Aber das sind fast 17 Prozent des deutschsprachigen Erziehungspersonals.

„Es geht um Erfahrung, um Geld. Es kommt darauf an. Jeder, was er braucht,“ sagt Martina, Mitte 20, eine der Erzieherinnen in der „Kinderwelt“. Ihre Kollegin Alina hat bereits einen Arbeitsvertrag unterschrieben und fängt im September in einer Stuttgarter Kinderbetreuung an. „Für mich ist das eine Opportunität, meine Kenntnisse der deutschen Sprache im `Sprachbad Deutschland` zu verbessern, die Pädagogik zu erleben, zu lernen. Ich bin neugierig, was und wie es dort ist“.

So vielfältig die Motive für die rumänischen Erzieherinnen auch sein mögen, nach Deutschland zu gehen – für die deutschen Kindergärten in Rumänien, in denen sie arbeiten, bedeutet ihr Weggang einen großen Aderlass.

„Wir waren natürlich erst einmal ein bisschen geschockt, weil wir seit Jahren ein Kindergarten sind, der gut funktioniert“. Geradline Zipple leitet den deutschsprachigen Kindergarten in Temeswar – und ist alles andere als glücklich über die Abwerbungsvorstöße des Jugendamtes Stuttgart. „Was uns vor allem berührt hat: dass Mitarbeiter, die seit sieben, acht oder neun Jahren bei uns tätig sind, plötzlich bereit waren, dort mitzumachen und sich zu bewerben, bereitwillig abwerben zu lassen“.

Deutschsprachige Erzieherinnen seien schließlich in Rumänien sehr schwer zu finden. Und schon alleine vom Gehalt her könne sie mit den Angeboten aus Stuttgart nicht mithalten, klagt Geraldine Zipple: „Sicherlich sind die Löhne und Gehälter, die wir unseren Erziehern und Helfern anbieten, nicht so attraktiv. Die Lohne aus Stuttgart sind wie Kampfangebote. Das muss man schon zugeben“. Und so stehen dann Monatsgehältern zwischen 300 und 400 Euro in Rumänien Einstiegsgehältern von 1400 Euro aufwärts in Stuttgart entgegen: Schon alleine deswegen sei der Bildungs-Exodus von Ost nach West vorprogrammiert, fürchtet Geraldine Zipple.

Gut 1200 Kilometer entfernt, nämlich im Jugendamt der Stadt Stuttgart, finden diese Argumente durchaus Gehör: „Das Problem, dass wir gut ausgebildete Personen aus einem Land nach Stuttgart holen, wo auch jenes Land selbst diese gut ausgebildeten Personen gut brauchen könnte, war uns von Anfang an klar“, so der stellvertretende Amtsleiter Heinrich Korn. Allerdings sei seine Behörde durch die gesetzliche Verpflichtung, Kleinkindern garantierte Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen, selbst in Zugzwang. Und sucht nach Lösungen, überall dort, wo die sich eben anbieten. „Gleichzeitig haben wir eine EU-Freizügigkeit, mittlerweile. Und da gehört Rumänien dazu. Und diese Freizügigkeit besteht eben auch darin, das Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer innerhalb der EU in einem anderen Land arbeiten gehen können und arbeiten gehen sollen“…Erzieherinnen selbstverständlich mit inbegriffen.

Dass das Anwerben von Erziehungspersonal in Rumänien zur existentiellen Bedrohung ganzer Kindergärten vor Ort werden könnte, hat Heinrich Korn allerdings dann doch überrascht. Denn nicht nur die „Kinderwelt“  in Temeswar meldete Bedenken an, sondern beispielsweise auch die Bürgermeisterstellvertreterin im zentralrumänischen Hermannstadt/Sibiu. Deshalb wird Stuttgart vorerst keine weiteren Anwerbungskampagnen in Rumänien mehr auf den Weg bringen. „In der Praxis sehe ich es genauso, dass es nicht sein kann, das unsere Vorgangsweise zum Ausbluten einzelner Kindergärten in anderen Ländern führt“, so die Erkenntnis aus Stuttgart.

Allerdings: Nicht nur die rumänischen Kindergärten bluten aus, sondern auch die vielen deutschsprachigen Schulen, die es im Land gibt: Viele Deutschlehrer arbeiten lieber in gut bezahlten Übersetzerjobs bei deutschen Firmen, oder in den Bereichen Public Relations und Sekretariat oder gehen gleich ganz nach Deutschland. Geraldine Zipple: „Selbst das Temeswarer  „Nikolaus-Lenau“-Lyzeum hätte mehr als genügend Vorschulklassen und erste Klassen ab September. Was fehlt, sind die deutschsprachigen Lehrer“.

Im Stuttgarter Jugendamt überlegen sich die Fachleute immerhin, ob sie in Zukunft nicht auch Erzieherinnen und Erzieher zu einem Praktikum in die deutschsprachigen Kindergärten Rumäniens schicken könnten. Dem könnte auch  Geraldine Zipple von der Temeswarer „Kinderwelt“, bei guter Feinplanung, etwas abgewinnen. Sie befürchtet allerdings, dass sich dadurch das personelle Ausbluten deutschsprachiger Kindergärten und Schulen in Rumänien nicht verhindern lässt, jedoch, dass sich eher implizite Schleichwerbung breitmachen würde. Diese Gefahr besteht auch, denn: „Jetzt, im Moment, sucht Stuttgart. Ich bin mir aber sicher, Städte wie München, Berlin oder Köln werden sicherlich dieses Modellprojekt aufgrund seines Erfolgs aufnehmen und fortsetzen: Was passiert danach mit dem Unterricht in deutscher Sprache in Rumänien?“