Das Bild der Siebenbürger Sachsen bei den Rumänen nach 1918

Eine Fallstudie zu Auffassungen in den Kreisen Hunedoara, Alba und Hermannstadt

Prof. Dr. Hans Klein, Dr. Vasile Ciobanu, Hannelore Baier, Dr. Cosmin Budeancă und Prof. Dr. Sorin Radu (v. l. n. r.) bei der Buchvorstellung in Hermannstadt.
Foto: die Verfasserin

Die von Cosmin Budeancă unlängst in Hermannstadt in der Buchhandlung Habitus vorgestellte Studie „Das Bild der Siebenbürger Sachsen bei den Rumänen nach 1918“ (auf Rumänisch) überrascht nicht nur durch den Umfang – sie umfasst 448 Seiten – sondern auch durch die akribische Ausarbeitung der 122 durchgeführten Interviews mit Rumänen aus den Kreisen Hunedoara, Alba und Hermannstadt. Wie diese die Siebenbürger Sachsen sehen, welches ihre Meinung über die Siebenbürger Sachsen sei, dieses erfragte Cosmin Budeancă Zeitzeugen nach 1918. Die Befragten wurden bewusst mit unterschiedlichem Hintergrund und aus verschiedenen Altersgruppen gewählt. Frauen und Männer sagen ihre Meinung, erzählen, beschreiben und bringen nicht selten überraschende Details aus dem Zusammenleben der Siebenbürger Sachsen mit den Rumänen in Siebenbürgen zum Vorschein. Die Studie erschien in diesem Jahr im Verlag Cetatea de Scaun in Târgoviște, mit der Unterstützung der Abteilung für Interethnische Beziehungen der Rumänischen Regierung durch das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien.
„Oral history“ ist der in den 30er Jahren in den USA geprägte und im deutschsprachigen Raum übernommene Begriff für Geschichtsschreibung anhand der freien Erzählung der Zeitzeugen. Cosmin Budeancă hat diese Form der Geschichtsschreibung an der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg studiert, am eigens dieser Fachrichtung gewidmeten, 1997 gegründeten Institut (Institutul de istorie orală). Der Band stellt eine überarbeitete Fassung seiner Dissertation dar, mit der er 2008 die Doktorwürde der genannten Universität erlangte.
In die theoretischen Grundlagen und die Methodologie der Untersuchung führt Budeancă im ersten Kapitel ein. Die offensichtlich subjektive Perspektive der Ereignisse in „oral history“ wird als positiver Faktor in der Geschichtsschreibung gewertet, insofern als gerade diese das „Element des Neuen“ in die Geschichte mit sich bringt. Facetten der Vergangenheit, die weder in Archiven noch in anderweitigen Dokumenten zu finden sind, können aus den Schilderungen der Befragten hervortreten und sogar Bekanntes ergänzen. Bezüglich der Rolle des Gedächtnisses für die Geschichtsschreibung hält Budeancă mit Paul Ricoeur fest, dass dieses zunächst bei den Zeugen zu finden ist und nicht in den Archiven. Wie Hannelore Baier, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für die Veröffentlichung der Studie, bei der Buchvorstellung betonte, ist etwaige Skepsis bezüglich „oral history“ beim Lesen des Bandes bald behoben: Der Autor analysiert jedes Interview mit großer Genauigkeit und führt den Leser in mögliche Hintergründe und Zusammenhänge der Aussagen ein.
Ethnische Imagologie, wie sie in diesem Band vorgeschlagen wird, ist ein verhältnismäßig neuer Forschungszweig. Diese wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere in Europa und den USA eingeführt. Mentalitäten und Vorstellungskraft spielen in die jeweils eigenen Auffassungen ein. Budeancă greift Lucian Boias These auf, dass im Unterschied zu Mentalitäten das Imaginäre konkrete Bilder liefert. Das kollektive und das individuelle Imaginäre ergänzen dabei einander im Bild, das man sich vom jeweils Anderen macht. Und gerade darum geht es in dieser Untersuchung: Mehr noch als darum, wie die Siebenbürger Sachsen nach dem Ersten Weltkrieg tatsächlich waren, geht es darum, wie die Rumänen sie gesehen und verstanden haben.
In der Vorlage für die durchgeführten Interviews werden die Themenbereiche festgehalten und später zu Abschnitten im Buch ausgearbeitet. So erfährt der Leser zunächst die Meinung der befragten Rumänen bezüglich allgemeiner Daten über die Siebenbürger Sachsen: Woher sie gekommen sind, wie viele in den jeweiligen Ortschaften gelebt haben und so weiter. Im Weiteren werden im Abschnitt „Öffentlicher Raum“ Zeitspannen in Betracht gezogen: die Zwischenkriegszeit, der Zweite Weltkrieg, die Deportation in die Sowjetunion, die kommunistische Zeitspanne, die Zeit nach 1989. Auch einige Vertreter der Siebenbürger Sachsen werden befragt. So wird etwa festgehalten, wie Siebenbürger Sachsen den Zweiten Weltkrieg aufgefasst haben. Im Abschnitt „Der Raum der Nähe. Imagologie“ werden Themen wie Feiertage, Kleidung, Familie, Haushalt, Gemeinschaftsleben, Kommunikation, Typologien und Stereotypen, Aspekte des Alltagslebens aufgegriffen. All diese Aspekte des Alltags- und Zusammenlebens werden sehr detailliert angeführt.
Die Studie beschränkt sich auf gewisse, am Ende des Bandes angeführte Orte in den Kreisen Hunedoara, Alba und Hermannstadt. Ob die Ergebnisse somit für ganz Siebenbürgen und für die Meinung der Rumänen zur deutschen Volksgemeinschaft in Rumänien repräsentativ sind, dürfte als Frage offen bleiben. Zwar scheint dieser Anspruch im Titel des Bandes erhoben zu sein, wird aber im Weiteren nicht angeführt. Vielmehr eröffnet die akribisch ausgearbeitete Studie ein Forschungsfeld, in dem weitere Studien ergänzend sein könnten. Für den Leser mag sie einen Überraschungseffekt bergen: Das Bild, das man vom anderen hat, ist oft nuancierter und vielseitiger, als man annehmen möchte, und vielleicht tritt es erst dann hervor, wenn danach gefragt wird. In genau diesem Aspekt, jenseits der wissenschaftlichen Leistung, setzt dieses Buch einen weiteren Meilenstein der Verständigung zwischen den Völkern.