„Das Bild des Anderen in Literatur, Sprache und Gesellschaft“

Internationaler Germanistikkongress an der Lucian Blaga-Universität Hermannstadt

Germanisten im Gespräch (v.l.n.r.): Stehend die Lehrstuhlleiterin Maria Sass; die Plenarreferentin Ioana Crăciun-Fischer; die Dekanin der Philologischen Fakultät Alexandra Mitrea

Vorige Woche fand in Hermannstadt/Sibiu ein internationaler Kongress statt, an dem Germanistinnen und Germanisten aus Deutschland, Österreich, Serbien sowie aus allen Landesteilen Rumäniens teilnahmen. Gefördert wurde die wissenschaftliche Tagung vom Departement für Interethnische Beziehungen der rumänischen Regierung, vom Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Hermannstadt, vom österreichischen Bundesland Kärnten, vom Deutschen Wirtschaftsclub Siebenbürgen und von der Donauschwäbischen Kulturstiftung des Landes Baden-Württemberg. Die Planung, Organisation und Durchführung der Tagung lag in den Händen der Germanistikabteilung der Lucian Blaga-Universität und ihrer Leiterin, der Hermannstädter Germanistikprofessorin Maria Sass, der auch die Idee und das Thema zu diesem germanistischen Forschungssymposion zu verdanken ist.

Die feierliche Eröffnung des Kongresses fand in festlicher Atmosphäre im Senatssaal der Lucian Blaga-Universität statt. Nach einleitenden Willkommensgrüßen seitens der Gastgeberin und nach verschiedenen Grußadressen seitens einzelner Vertreter der die Tagung fördernden Institutionen begann der wissenschaftliche Teil des Symposions mit zwei Plenarvorträgen von rumänischen Germanistikprofessorinnen: Ioana Crăciun-Fischer aus Bukarest sprach über „Das Bild des Doppelgängers in den expressionistischen Verfilmungen der Erzählung ‘Der Student von Prag’ von Hanns Heinz Ewers“ und Roxana Nubert aus Temeswar/Timişoara referierte über „Das Bild der Diktatur in Herta Müllers Roman ‘Herztier’“. Beide Vorträge, an die sich jeweils interessante Diskussionen anschlossen, reflektierten den Begriff des Anderen, sei es wörtlich und darstellerisch in der Analyse der Doppelgängergestalt in Literatur und Film, sei es metaphorisch und sprachkritisch in der Analyse der von einer Diktatur geknechteten Sprache, deren Sprechen unter den Bedingungen der Unfreiheit immer auch ihr Anderes, das Schweigen, anhaftet.

Bereits in ihrem Grußwort hatte die Dekanin der Hermannstädter Philologischen Fakultät, Alexandra Mitrea, auf das Werk des französisch-jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas verwiesen, der den konstitutiven Bezug des Ich auf den Anderen als grundlegende Bedingung seines In-der-Welt-Seins verstanden hat und der daraus die ethische Maxime ableitete, dass das Ich die Andersheit des Anderen absolut zu respektieren habe und demzufolge den Anderen niemals zu einem bloßen Objekt degradieren dürfe. Ein später gehaltener Vortrag verdeutlichte dies am Beispiel der schweizerischen Literatur: Weil es der Titelgestalt von Max Frischs Roman „Stiller“ nicht gelingt, seine Frau und seine Freunde in ihrer Andersheit zu respektieren, weil Stiller vielmehr sein jeweiliges Gegenüber in einem Bild, das er sich von ihm macht, zum Objekt degradiert, tritt er schließlich die Flucht aus seinem eigenen Leben an. Der erste Satz in Frischs Roman: „Ich bin nicht Stiller!“ markiert diese Ich-Flucht und zugleich das Scheitern des Protagonisten, der sich kein Bildnis vom Anderen machen möchte und doch beständig um das Goldene Kalb dieses von ihm selbst geschaffenen Bildnisses tanzt.

Die zweitägigen Kongressarbeiten des Hermannstädter Germanistiksymposions vollzogen sich in zwei Sektionen: in einer literaturwissenschaftlichen Sektion sowie in einer Sektion, die sich mit den Bereichen Sprachwissenschaft, Landeskunde, Kulturgeschichte und Deutsch als Fremdsprache auseinandersetzte. Die literaturwissenschaftliche Sektion untersuchte das Bild des Anderen in Romanen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: in Sibylle Bergs „Der Mann schläft“ (Sunhild Galter) und in Saša Stanišics „Wie der Soldat das Grammofon reparierte“ (Ivana Pajic); ferner in der Kinder- und Jugendliteratur (Kinga Boitor); in der Literatur vergangener Jahrhunderte (Alexandra Chiriac über den siebenbürgischen Bertoldo und Alexander Rubel über Ernst Jüngers Kriegstagebuch „In Stahlgewittern“); in verschiedenen deutschsprachigen Regionalliteraturen wie der Literatur der Bukowina (Francisca Solomon), Galiziens (Maria Irod über Leopold von Sacher-Masoch) und Siebenbürgens (Thomas Schares über Adolf Meschendörfer und Maria Sass über Andreas Birkner). Ein besonderer Schwerpunkt der literaturwissenschaftlichen Diskussionen über Alterität und Andersheit lag dabei auf der literarischen Verarbeitung der Andersartigkeit der Roma-Kultur und auf der kryptokolonialistischen Perspektive von literarischen Werken in pluriethnischen und multinationalen Kontexten.

Die zweite Sektion des Kongresses befasste sich mit dem Bild des Anderen in linguistischer Hinsicht: mit dem Phänomen der Alterität in den Straßennamen von Mühlbach/Sebe{ (Lucia Nistor), mit der Differenzerfahrung in der Bezeichnung von Vögeln (Sigrid Haldenwang) und mit dem Bild des Anderen in Sprichwörtern und Redewendungen (Nora Căpăţână); ferner in kulturgeschichtlicher Hinsicht mit ethnisch mehrfach bestimmten Persönlichkeiten wie János Bolyai (Joachim Wittstock); in politikgeschichtlicher Hinsicht mit dem Machtdiskurs in Gedenkreden auf verstorbene Politiker wie den Mitbegründer der SED und DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck (Adriana Dănilă); in translatologischer Hinsicht mit der Übersetzung ins Rumänische von österreichischen Gesetzbüchern (Iulia Zup) und von mittelhochdeutschen Gerichtsprotokollen (Ioana Constantin und Carmen Popa) bzw. mit der Übersetzung ins Deutsche von rumänischen Volksballaden durch Robert Reiter (Lăcrămioara Popa); in kommunikationswissenschaftlicher Hinsicht mit dem Verständnis von siebenbürgischen Gerichtsprotokollen aus dem 17. Jahrhundert (Dana Dogaru); in genrespezifischer Hinsicht mit der Literatur von Populärschriftstellern (Alina Bruckner); in literaturfördernder Hinsicht mit der Vermittlung von Schweizer Literatur für rumänische Leser im 21. Jahrhundert (Maria Trappen); in fachdisziplinkritischer Hinsicht mit Irrtümern der Linguistik (Doris Sava) sowie in sprachgeschichtlich-zeitgenössischer Hinsicht mit der Entwicklung des Deutschen nach der Wende in Mittelosteuropa (Ellen Tichy). Schließlich hatten auch noch zwei Doktorandinnen (Angharad Frandes und Teodora Moraru) der Lucian Blaga-Universität die Gelegenheit, ihre germanistischen Dissertationsprojekte vor dem in Hermannstadt versammelten Fachpublikum zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen.

Auch in kultureller Hinsicht wurde den Tagungsteilnehmern in Hermannstadt einiges geboten. Am ersten Kongressabend konnten sie der Aufführung des Zweipersonenstücks „Pflegefall“ von und mit Carmen E. Puchianu und Robert G. Elekes im Hermannstädter GONG-Theater beiwohnen, wobei die Kongressteilnehmer außerdem den Genuss und das Vergnügen hatten, am darauf folgenden Vormittag einen wissenschaftlichen Vortrag der Germanistin, Autorin und Schauspielerin Carmen E. Puchianu genau zu diesem Theaterstück hören zu können.

Und am letzten Kongressabend stand eine zweisprachige Lesung aus der Übersetzerwerkstatt von Germanistinnen aus Hermannstadt auf dem Programm: Nora Căpăţână las aus ihren deutschen Übersetzungen von Gedichten Mircea Ivănescus, die von Maria Trappen rezitiert wurden; und Rodica-Ofelia Miclea las ihre rumänische Übersetzung der Erzählung „Glasikone“ von Joachim Wittstock, die vom Autor selbst vorgetragen wurde. Der Schlussbeifall galt nicht nur dem anwesenden Autor sowie den Rezitatorinnen und Übersetzerinnen, sondern auch der Hermannstädter Germanistik und ihrer Leiterin Maria Sass, die insgesamt eine Tagungsatmosphäre geschaffen hatte, in der man frei denken und offen diskutieren, dabei vieles lernen und seinen eigenen Horizont erweitern konnte.