Das Ende einer langgehegten Feindschaft

Integrative Medizin - Synergieeffekte zwischen klassischen und alternativen Therapien

Brechend voller Saal und interessante Gastredner aus Deutschland und Italien am ersten Kongress für integrative Medizin in Bukarest. Foto: die Verfasserin

Am 23. November fand im RIN-Hotel Otopeni der erste Kongress für integrative Medizin in Rumänien statt, der vom „Patronatul Medicinei Integrativă” (www.patmedin.ro) organisiert wurde. Ziel der integrativen Medizin ist, auf wissenschaftlichen Methoden basierende Therapien und alternative Behandlungsmethoden – etwa der traditionellen chinesischen Medizin oder der Homöopathie, in einem umfassenderen Gesamtkonzept zusammenzuführen und damit den Patienten von der Frage des Entweder/Oder zu erlösen. Der Kranke soll zudem nicht mehr als passives Zielobjekt der Ärzte, sondern als gleichberechtigter, an der Heilung ebenso beteiligter Partner wahrgenommen werden. Die integrative Medizin bezieht auch psychologische und soziale Aspekte sowie spirituelle Bedürfnisse des Patienten – die sich häufig bei lebensbedrohlichen Krankheiten einstellen – in die Therapie mit ein. Die auf der Konferenz angebotenen Präsentationen reichten daher von Psychoonkologie über molekularbiologische und nutrigenetische Heilungsansätze bis hin zu Akupunktur, Holotropisches Atmen, Aroma- und Kunsttherapie. Schwerpunkt der meisten Vorträge war Krebs, weil das Krebsgeschehen den Patienten in allen Facetten seiner Persönlichkeit extrem stark beeinflußt.

Psychoonkologie und alternative Krebsbehandlungen

Der Kölner Onkologe Prof. Dr. Volker Diehl präsentierte hierzu ein langjähriges Studienprojekt zur Behandlung des Hodgkin Lymphoms, einer seltenen Krebsform, die vor allem bei jungen Leuten auftritt und heute dank einer speziellen Antikörpertherapie zu fast 90 Prozent heilbar ist. Im Rahmen seiner Forschungen beobachtete er jedoch die parallele Hinwendung vieler Patienten zu alternativen Methoden, die sich signifikant auf den  Heilerfolg auswirkten. „Der Mensch ist ein Gleichgewicht aus Körper und Seele – Krankheit entsteht, wenn dieses durcheinander gerät”, fasst er seine Erfahrungen zusammen und verweist auf die chinesische Medizin als Vorbild, zumal diese präventiv auf den Erhalt dieses Gleichgewichtes abzielt. Krebspatienten suchen zudem häufig nach dem Sinn, nach seelischer Weiterentwicklung, oder zumindest einer Reduzierung der Nebenwirkungen von Chemo- oder Strahlentherapie durch Homöopathie, Phytotherapie, Meditation, Akupunktur.

Zunehmend werden bisher umstrittene alternative Therapien wissenschaftlich untersucht,  zum Teil mit erstaunlichen Ergebnissen: Erstmals wurde ein positiver Effekt der Misteltherapie bei Pankreaskrebs bewiesen, weitere Studien laufen. Aus eigener Erfahrung berichtete Prof. Diehl über die postive Wirkung von Tai Chi und Chi Gong zur Bekämpfung der chronischen Müdigkeit, unter der Hodgkin-Patienten – einige auch nach ihrer Heilung – häufig leiden. Jedwede andere Versuche, dieses stark beeinträchtigende Begleitsymptom in den Griff zu bekommen, seien bisher gescheitert. Die Bekämpfung der Müdigkeit erhöht jedoch nicht nur die Lebensqualität, sie könnte sogar lebensrettend sein, denn Statistiken zeigen, dass chronisch müde Jugendliche eine viermal so hohe Wahrscheinlichkeit haben, das Hodgkin Lymphom zu entwickeln, bzw. daran zu sterben, als diejenigen, die diese Erschöpfungszustände überwinden. Auch wenn die Mortalitätsrate mittlerweile nur noch zehn Prozent beträgt, müsse man sich klar darüber sein, dass hinter jedem Punkt auf der Statistik ein Menschenschicksal steht, betont der Mediziner.

Aufgrund dieser Erfahrungen orientiert sich die Psychoonkologie immer stärker an alternativen Therapien. Statistiken zeigen, dass Brustkrebspatientinnen, die psychoonkologisch behandelt wurden, wesentlich länger überlebten – obwohl die konkreten Mechanismen dafür noch unbekannt sind. Deswegen fordert Diehl ein generelles Umdenken im Krebsmanagement: Warum bleibt der Mensch gesund? Welche Schutzfaktoren gibt es? Diese Fragen müssten im Vordergrund stehen. Therapie solle nicht darauf abzielen, den bereits in den Brunnen Gefallenen vor dem Ertrinken zu retten, sondern rechtzeitig Hilfe zur Selbsthilfe anbieten.

Homöopathie – es wirkt, was eigentlich nicht wirken darf

Der italienische Gastredner Dr. Elio Rossi aus Lucca überrascht mit einer langjährigen, über 3000 Patienten umfassenden, klinischen Studie zur Anwendung homöopathischer Mittel. Als solche bezeichnet man hochverdünnte Stoffe, die nach materialistischem Weltbild eigentlich gar nicht wirken dürften, weil in dem verabreichten Produkt nur ein paar Moleküle der eigentlichen Substanz übrig bleiben. Das Projekt lief in einem öffentlichen Krankenhaus in der Toskana, das der Bevölkerung die homöopathischen Behandlungen gratis anbot. Sie zeigten vor allem bei Erkrankungen der Atemwege, dermatologischen und gynäkologischen Problemen erstaunliche Wirkung. Am besten sprachen Kinder an, wobei sich die nachhaltigsten Heilungserfolge bei einer langfristigen Verabreichung von 6 Monaten zeigten.

Ein Problem war jedoch die statistische Erfassung derjenigen, die nach der ersten Behandlungssitzung einfach wegblieben. Um den Grund zu erfahren, wurden sie telefonisch befragt,  mit dem Resultat, dass über die Hälfte zur Folgebehandlung nicht erschienen, weil die Symptome verschwunden waren, andere fühlten sich signifikant besser, und nur zwei Prozent klagten über gegenteilige Reaktionen. Die Ergebnisse der Studie wurden vor zwei Jahren im „Journal of Integrative Medicine“ veröffentlicht. Eine Langzeitstudie befasste sich außerdem mit der Nachhaltigkeit der Heilerfolge bei allergischem Asthma bei Kindern. Bei 33 Prozent aller homöpathisch behandelten Patienten stellte sich nach sechsmonatiger Therapie dauerhafter Heilerfolg ein. Bei 27 Prozent entwickelte sich anstelle des Bronchialasthmas eine wesentlich leichtere Allergieform der oberen Atemwege, Heuschnupfen. Je früher die Behandlung eingesetzt wurde, desto nachhaltiger war das Ergebnis. Homöopathie zeigte in dieser Studie sogar geringfügig bessere Resultate als der Einsatz klassischer Mittel, zudem eine deutlich geringere Rückfallrate.

Neues Zauberwort - Nutrigenetik

Hat Ernährung Einfluss auf unsere Gene? Eine Frage, die von Experten bisher meist nur belächelt wurde, die Prof. John Ionescu jedoch ernsthaft zur Diskussion stellte. In seiner Spezialklinik in Neukirchen behandelt er seit 25 Jahren erfolgreich schwerste Fälle von Allergien, Haut- und Umwelterkrankungen mit einer speziellen Diät. Zur Untersuchung dessen, was im Körper bei der Aufnahme bestimmter Lebensmittel passiert, misst er danach die Menge an freien Radikalen in der Zelle, die als Verursacher aller Entzündungsprozesse gelten. Sie häufen sich bei Allergien, Alzheimer, Parkinson, Psoriasis und Krebs im betroffenen Organ an und können auch Krebs auslösen. Um die Auswirkung eines Lebensmittels auf den Organismus zu messen, genügt es nicht, nach sichtbaren allergischen Reaktionen zu suchen, erklärt Ionescu. Denn viele Lebensmittelintoleranzen äußern sich so subtil, dass sie lediglich durch die Freisetzung freier Radikale auf Zellniveau erkennbar sind. Auf der Basis der Ergebnisse stellt er für jeden Patienten eine personalisierte Diät zusammen.

Viele Krankheiten beruhen auch auf versteckten Mangelerscheinungen, wenn trotz ausreichender Nahrungszufuhr ein Enzym zur Verarbeitung eines Stoffes fehlt. Eine Blutanalyse gibt hierzu wenig Aufschluss, sie reflektiert nur, was vor Kurzem gegessen wurde. Auf Zellniveau müsse man suchen, meint Ionescu und zitiert den Fall eines Kindes mit extrem ausgeprägtem Mangel an Omega-3 Säuren, der nur durch eine Analyse der Zusammensetzung der Phospholipidschicht in der Zellhaut zutage kam. Mit der speziellen Diättherapie erzielte er einen 67 prozentigen Rückgang der allergischen Entzündungsprozesse.

Ein Teil der Therapie besteht auch aus der Zufuhr von Stoffen, die freie Radikale hemmen: Natürlicher Grapefruitsaft etwa verringert schon eine Stunde nach Einnahme das Niveau der Radikale um 40 Prozent, während gezuckerter Saftersatz den Radikalspiegel sichtbar ansteigen lässt. Fertige Babynahrung hat ähnlich negative Auswirkungen. Sie zerstört wegen ihres hohen Zuckergehaltes zudem die natürliche Darmflora. Veränderungen der Darmflora aber betrachtet der Mediziner als Hauptauslöser versteckter Allergien bei Kindern! Schuld ist meist eine veränderte Scheidenflora der Mutter bei der Geburt, aufgrund vorhergehender Antibiotika- oder Hormonbehandlungen. Mit Spezialdiäten zur Instandsetzung der Darmflora verzeichnet er wesentlich mehr Heilerfolge als mit klassischen Methoden, etwa der Bekämpfung von Entzündungvermittlern wie Histamin, Tumornekrose-Faktor-Alpha oder Prostaglandinen, oder den üblicherweise angewandten Bestrahlungen bei Psoriasis.

„Diät kann sogar einen nutrigenetischen Effekt auslösen“, meint der Experte und erntet erstaunte Gesichter. Durch Zufuhr oder Weglassen bestimmter Nahrungsstoffe wird die Aktivität eines Gens entweder stimuliert oder unterdrückt, erklärt er seine durch eigene Untersuchungen belegte Behauptung, denn mithilfe eines speziellen Mikrochips kann man die Menge der freigesetzten Messenger-RNA eines Gens bestimmen, die in ein elektrisches Signal umgewandelt die Genaktivität reflektiert. So lässt sich konkret nachweisen, welche Nahrungsmittel in welcher Form auf ein bestimmtes Gen einwirken. Auf diese Art hofft Dr. Ionescu, eines Tages sogar Anti-Krebs Gene mit Nahrungsmitteln gezielt zu stimulieren, oder an der Krebsentstehung beteiligte Gene zu „beruhigen“. Dann zählt nicht mehr nur die Frage, ob wir ein krankmachendes Gen geerbt haben, sondern vielmehr, wie man es mithilfe einer geeigneten Diät deaktiviert!

Wirkt „Chi“ Energie auf Mitochondrien?

Nach Prof. Diehls Vortrag riet ihm Ionescu spontan, bei der Suche nach der Ursache für die chronische Müdigkeit seiner Hodgkins Patienten, doch mal die Aktivität der Mitochondrien (energieproduzierende Zellorganellen) zu untersuchen, denn in den von ihm getesteten Fällen sei diese extrem niedrig gewesen. Zuerst war es so still im Saal, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Denkerpose, Gehirnwindungen knarren. Dann erhellte sich auf einmal das Gesicht des Angesprochenen und er bedankte sich erfreut: Tatsächlich, an diese Möglichkeit hatte er noch gar nicht gedacht!

Wenn Mitochondrien den Schlüssel zum Verständnis der chronischen Erschöpfung beim Hodgkins Lymphom liefern... und Techniken wie Tai Chi oder Chi Gong – die laut chinesicher Medizin den Fluss der „Lebensenergie Chi“ bewusst dirigieren helfen – nachweislich wirken... dann öffnet sich ein Fenster zu einem neuen Erkenntnisrahmen. Alternative Techniken könnten direkt auf molekularem Niveau gemessen werden! Höchste Zeit, dass die alte Feindschaft zwischen Wissenschaft und „esoterischen“ Heilmetoden begraben wird, damit sich die Wissensspirale endlich um eine Windung weiter drehen kann.