Der Freund hört mit

Vom Briefeschreiben und dem Abrutschen des Rechtsstaates zum Präventionsstaat

Symbolfoto: sxc.hu

Wann haben Sie das letzte Mal einen Brief geschrieben? Ich meine einen echten Brief, auf dem Papier, der per Post, Brieftaube oder Boten zugestellt wurde. Heutzutage erledigt man den „Briefverkehr“ mit einem einfachen Klick auf den Send-Button der E-Mail-Box. Auch die kurzen Mitteilungen sind im 21. Jahrhundert zu Kurzmitteilungen (SMS) geworden. Einfach, praktisch, schnell. Und genau das kann zu einem Problem werden. Beziehungsweise ist bereits zu einem Problem geworden.

Völkerrecht ist dagegen

Mit den Enthüllungen durch die britische Zeitung „The Guardian“ (Der Wächter – der Name ist Programm) über das Überwachungssystem „PRISM“ der US-amerikanischen Nationalen Sicherheitsbehörde (NSA) sowie ihrem britischen Pendant „Tempora“ begann die sogenannte „Überwachungs- und Spionageaffäre 2013“. Dabei handelt es sich um eine großangelegte Überwachung der Telekommunikation und insbesondere des Internets durch die US-amerikanischen und britischen Sicherheitsbehörden. Die Einzelheiten dieser Affäre wurden den Journalisten von Edward Snowden, einem technischen Mitarbeiter der Geheimdienste CIA und NSA, zugespielt.

Es ist gewiss keine Neuigkeit, dass die Regierungen der Welt gerne wissen würden, was ihre Bürger, denen die Regierung eigentlich dienen sollte, denken, machen oder vorhaben. Dabei geben die Umfragen, die man ab und zu durchführt, keine so genauen und befriedigenden Antworten, wie das direkte Abhören oder die Überwachung des Schriftverkehrs. Nun ja, ein interessantes und illegales Vorhaben. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (besser bekannt als „UN-Menschenrechtscharta“) verbietet es ausdrücklich im 12. Artikel: „Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr (sic!) oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden“.

Schön und gut, nur ist die Menschenrechtscharta kein völkerrechtlicher Vertrag und daher nicht verbindlich. Es ist eben, wie es in der Präambel heißt, das „zu erreichende gemeinsame Ideal“. Ein Stück Papier also, auf dem die zu nichts verpflichtenden Absichten der Generalversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948 stehen. Ganz im Gegenteil zum „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“, der sowohl ein völkerrechtlicher Vertrag ist, als auch von Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika unterschrieben und ratifiziert wurde. Hier heißt es im 17. Artikel – man achte auf die gravierenden Unterschiede: „Niemand darf willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr (sic!) oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden.“ Na, haben Sie den Unterschied bemerkt?

Ein Wort verändert die Gesellschaft

Spätestens seit dem 11. September 2001 bedienen sich die Regierungen weltweit eines Wortes, um auch so unpopuläre Gesetze durchzuboxen – „Terrorbekämpfung“ heißt das Stichwort. Der USA PATRIOT Act ist das erste Beispiel der völkerrechtswidrigen Gesetze, die unter anderem das Recht auf Schutz des Schriftverkehrs aufheben und nach dem 9/11 verabschiedet wurden. Der zuständige Richter in den USA muss nun nicht mehr von der Notwendigkeit einer Telefon- und Internetüberwachung überzeugt werden, sondern ist dazu verpflichtet, eine solche Aktion zu genehmigen. Auch die deutsche Regierung nahm mit dem Terrorismusbekämpfungsgesetz mehrere Änderungen an verschiedenen Gesetzen zur inneren Sicherheit vor. Dabei wurde das Recht auf Post- und Fernmeldegeheimnis weiter eingeschränkt. „Der internationale Terrorismus hat sich zu einer weltweiten Bedrohung entwickelt. Das Ausmaß der Gewalt, die logistische Vernetzung der Täter und ihre langfristig angelegte, grenzüberschreitende Strategie erfordert die Fortentwicklung der gesetzlichen Instrumente“, heißt es in der Problembeschreibung zum Gesetzesentwurf. Dass die gesetzlichen Instrumente dabei die Grundrechte der Menschen verletzen, wird dank des Zauberworts „Terrorismus“ einfach übersehen.

Die Renaissance eines Buchs

Nach dem Bekanntwerden des geheimen, umfassenden PRISM-Überwachungsprogramm im Juni 2013 stieg insbesondere in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien die Verkaufszahl eines eigentlich sehr bekannten Buches wieder. George Orwells „1984“ erlebte ein Revival. Der von Orwell zwischen 1946 und 1948 beschriebene Überwachungsstaat Ozeanien bediente sich der Teleschirme, um die Mitglieder der Äußeren Partei zu beobachten. Die heutigen Regierungen nutzen technologisch modernere Mittel, um eigene und fremde Bürger zu bespitzeln. Das alles selbstverständlich zum Besten des eigenen Staates und des Volkes. Das Bild eines Feindes - ob wie bei Orwell der Konterrevolutionär Goldstein oder heutzutage der „internationale Terrorismus“ - sowie der Hass auf diesen soll den normalen Bürger nicht nur erschrecken, sondern auch von seinen alltäglichen Problemen ablenken. Man will ja nicht, dass der übermächtige, allgegenwärtige Feind die gestandene, gutbürgerliche Ordnung der westlichen Welt zerstört. Dass durch die Handlungen der Sicherheitsdienste, die von den jeweiligen Regierungen abgesegnet sind, die allgemein gültigen Menschenrechte beschränkt werden und der Rechtsstaat immer weiter zum Präventionsstaat abrutscht, wird von den meisten Bürgern übersehen.

Freiheit durch Sicherheit?

Als ein gesetzestreuer Bürger könnte man meinen, die Überwachung meines E-Mail-Verkehrs, das Abhören meiner Telefonate störe mich nicht. Ich plane ja nichts Böses – sollen sie doch mithören, -lesen. Hauptsache sie schnappen die wirklich bösen Jungs, bevor sie etwas Schlimmes anrichten können. Die Vertreter der US-amerikanischen Sicherheitsdienste behaupten tatsächlich, dass im Laufe des PRISM-Programms über 50 nicht genannte Terrorakte in den USA selbst und in  weiteren 20 Staaten verhindert worden seien. Komisch, dass laut einer Umfrage 53 Prozent der befragten Amerikaner der „schützenden“ Überwachung im Inland ablehnend gegenüberstehen. Der Abhörung im Ausland stimmen etwas mehr Befragte zu. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass der breite Eingriff in die Privatsphäre der Bürger die Bombenattentäter des Boston-Marathons nicht gestoppt hat, obwohl diese „ihre Spuren überall im Internet hinterlassen haben“, wie der rechtskonservative Fernsehmoderator Bill O´Reilly anmerkte.
Die totale Überwachung des E-Mail-Verkehrs der rechtschaffenen Bürger kann keinesfalls durch die Sorge des Staates um die Sicherheit des Volkes gerechtfertigt werden. Denn genau diese Überwachungsaktionen müssen einen begründeten Verdacht eines geplanten Verbrechens haben. Theoretisch. Sonst stempelt man ausnahmslos alle Bürger zu potenziellen Verbrechern.

Im Übrigen baut die NSA in Utah, südlich von Salt Lake City, ein Datenzentrum, dessen Gesamtfläche 93 Quadratkilometer betragen soll. Der ehemalige technische Direktor der NSA schätzt die Speicherkapazität dieses Zentrums auf fünf Zettabyte, mit einer Speicherrate von 20 Terabytes pro Minute: das entspräche dem Gesamtbestand der Kongress-Bibliothek der Vereinigten Staaten jede Minute. Sollte man die Datenmenge von fünf Zettabyte ausdrucken wollen, würde das Papier 42 Billionen Aktenschränke füllen und eine Fläche von 17 Millionen Quadratkilometern einnehmen – die Fläche von Russland. Zum Vergleich: Die von der Stasi gesammelte Information passte in lächerliche 48.000 Aktenschränke. Willkommen in der Zukunft. Orwell hat sich wohl nur mit dem Jahr vertan.