„Der Herkunft eine Zukunft geben“

Gespräch mit dem Leiter des Hauses des Deutschen Ostens München, Dr. Ortfried Kotzian

Dr. Ortfried Kotzian leitet das HDO seit zehn Jahren.

Begegnungsstätte für Gemeinschaft und Kultur: das Haus des Deutschen Ostens in München.
Fotos: Christine Chiriac

Vorträge über das heutige Bessarabien oder Rabbi Löw aus Prag, Lesungen mit den Wissenschaftlern Meinolf Arens oder Ute Schmidt, der Westpreußin Brigitte Kasper oder der Kronstädterin Carmen Elisabeth Puchianu, Ausstellungen zur Luftfahrtgeschichte Schlesiens oder den deutschen Siedlungen in der Vorkriegszeit, Filmgespräche, Erzählcafés, Konzerte und Studienwochen – all das und noch mehr steht auf dem Programm des Hauses des Deutschen Ostens (HDO) in München. Die 1970 gegründete Einrichtung des Freistaats Bayern befasst sich mit „Kultur, Kunst, Bildung und Begegnung“ und stellt eine umfassende Bibliothek mit ostdeutscher Thematik zur Verfügung. Im vergangenen Jahr gab es insgesamt 80 eigene Veranstaltungen und einige Veröffentlichungen, die man im Internet unter www.hdo.bayern.de bestellen kann.

Der Direktor des Hauses, Dr. Ortfried Kotzian, feiert heuer zehnjähriges Dienstjubiläum: Seit März 2002 leitet er das HDO. Er ist 1948 geboren, „nicht in einem Vertreibungsgebiet“, wie er sagt, sondern nachdem sich seine aus dem Sudetenland vertriebenen Eltern im Bayrischen Schwaben wiederfanden. Er absolvierte das katholische Gymnasium in Illertissen sowie die Pädagogische Hochschule Augsburg der Universität München und ergriff „den Beruf, den damals fast jedes mittellose Flüchtlingskind ergriffen hat, wenn es etwas werden wollte“: Er wurde Volksschullehrer, später Dozent/Akademischer Rat an der Universität Augsburg. An der Minderheitenthematik hatte er „schon immer ein großes Interesse“: sowohl im Studium – seine Promotionsarbeit schrieb er über „Das deutsche Schulwesen in Rumänien im Spannungsfeld zwischen Volksgruppe und Staat“ – als auch in der beruflichen Tätigkeit –, er baute Ende der achtziger Jahre das Bukowina-Institut auf und wirkte hier bis 2001. Für die ADZ sprach Redakteurin Christine Chiriac mit Dr. Ortfried Kotzian.

Welches ist die Zielsetzung des HDO?

Bei der Gründung war es unser Hauptziel, den aus dem Osten stammenden Gruppen ein Begegnungshaus zu bieten, in dem sie ihre Gemeinschafts- und Kulturarbeit pflegen konnten. Der damalige Ministerpräsident Alfons Goppel nannte das HDO in seiner Eröffnungsrede „ein Geschenk an unsere vertriebenen Mitbürger in Bayern“. Die Änderung seither besteht darin, dass das Haus heute sein Kulturprogramm und den Veranstaltungskalender selbst bestimmt. Seit einigen Jahren arbeiten wir verstärkt unter dem Leitgedanken „der Herkunft eine Zukunft geben“. Es ist eine vielfältige Tätigkeit, die sich nicht nur auf München beschränkt, sondern das ganze bayrische Territorium ansprechen möchte. Denn sehr viele Mitbürger Bayerns, etwa 2,5 von insgesamt 11,5 Millionen, haben Wurzeln im Osten. Davon sind die Sudetendeutschen und deren Nachkommen mit einer Million die stärkste Gruppe, eine halbe Million sind Schlesier und mittlerweile auf die halbe Million zugehend Russlanddeutsche. Die noch fehlende halbe Million setzt sich aus den anderen Gruppen zusammen, selbstverständlich auch aus Rumäniendeutschen.

Wendet sich das Programm des Hauses hauptsächlich an die Deutschen aus dem Osten oder auch an andere Besucher?

Wir wenden uns auch an diejenigen, die nicht aus dem Osten stammen – an die bayrische Bevölkerung insgesamt. Die Themen, die uns wichtig erscheinen, versuchen wir somit auf eine breitere Basis zu stellen. Als Beispiel kann ich den Bereich der Lehrerfortbildung nennen – wir sind an der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen durch Lehrgänge beteiligt und betreuen u. a. einen Lehrgang zum Thema Minderheiten in Europa. Es ist meines Erachtens ein sehr spannendes Thema, und gerade die Deutschen aus dem Osten sind in ihrer Verschiedenheit ein wesentliches Beispiel. Selbstverständlich werden auch andere Minderheiten behandelt – wir versuchen unser spezielles Thema in den größeren europäischen und globalen Rahmen einzuordnen. Genauso das Thema „Flucht und Vertreibung“, das noch sehr aktuell ist. 

Sie haben die Bildungsarbeit erwähnt – das heißt, dass ein großer Teil des Publikums jung ist?

Bei den Fachvorträgen und bei den Ausstellungen ist das Publikum jünger, in den Kulturgruppen unterschiedlich: Da ist das Publikum jung, wenn die Tätigkeit aktive Beteiligung voraussetzt, wenn es um etwas Konkretes jenseits des rein Ideellen geht. Wenn beispielsweise die Siebenbürgische Blaskapelle München probt, dann spielen auch junge Leute mit. Ähnliches gilt für einen Teil der Chöre und Kurse. Heute haben auch mehr Eltern oder Großeltern ein Interesse daran, die Jüngeren mitzunehmen und ihnen zu zeigen, wie es in ihrer Heimat war, in welchem Kontext sie aufgewachsen sind, was sie erlebt haben. Früher scheuten es viele Eltern, als wäre diese Herkunft etwas Negatives gewesen. 

Erinnert man sich heute noch ungern an die Vergangenheit?

Meines Erachtens, je schlimmer das Schicksal war, desto weniger hat man darüber gesprochen. Nehmen wir als Beispiel die „Altvertriebenen“, die Mitte der vierziger Jahre vertrieben worden sind. Ihre Erfahrung war ausschließlich mit Leid und Krieg verbunden. Manche Historiker meinen, die betroffenen Menschen hätten dieses Schicksal einordnen müssen – sie hätten also erkennen können, dass es Rache- und Vergeltungsmaßnahmen im Gegenzug zu den Verbrechen der Nazis geben würde. Aber gerade die vielen vertriebenen Frauen und Kinder – die Männer waren meistens im Krieg oder bereits in Gefangenschaft – befanden sich in einer übermäßig schwierigen Lage. Als die Familien dann endlich nach ein paar Jahren wieder beisammen waren, hat man bestimmt nur das Nötigste ausgetauscht, weil man auch gar nicht wusste, was der andere an Grausamkeiten und schrecklichen Erfahrungen gesammelt hat. Gewiss wollte man die Kinder schützen, sie damit nicht belasten.

Bei den Deutschen aus Rumänien war es ähnlich – man erkennt es heute an der aufgeladenen Debatte um die Securitate-Akten. Mir selbst kommt es manchmal wie eine gespenstische Diskussion vor, weil die bundesdeutsche Öffentlichkeit nicht wirklich Zugang zu der Fragestellung und zu dem Kontext hat. Wer zum Beispiel in den achtziger Jahren – der ärgsten Sparzeit – in Rumänien war, der kennt die stockfinsteren Städte, wo das einzige Licht die Lampe an der Straßenbahn war. Derjenige hat zu der Problematik vielleicht einen direkteren Zugang. Aber ich könnte mir schwer vorstellen, dass sich der bundesdeutsche Normalbürger so einfach ins Thema hineindenken kann. Die Umsetzungsproblematik ist heute generell eine der Hauptschwierigkeiten: Man muss immer aktuelle Beispiele suchen, die ähnlich gelagert sind – trotzdem sind die wenigsten vergleichbar mit den früheren Erfahrungen.

Liegt das Problem auch daran, dass sich die Generation der Kriegszeitzeugen langsam verabschiedet?

Heute gibt es aber Zeitzeugen, die über die Integration in Bayern sehr viele Aussagen machen können. Neben den Fragen zu dem eigentlichen Flucht- und Vertreibungsgeschehen ist es sinnvoll, auch Fragen über die Ankunft in Bayern, das Verkraften der Ereignisse, die neuen Erfahrungen, den Ausschluss oder die Akzeptanz in der neuen Gemeinschaft zu stellen. Viele haben die damaligen fast dramatischen Zustände nicht vergessen, aber verdrängt. Mit der Zeit ging es ihnen besser und sie „gehörten dazu“, aber die Empfindlichkeiten blieben und wirkten ein Leben lang nach – manche fangen erst im fortgeschrittenen Alter mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Erfahrung an. Hier im HDO haben wir einen Gesprächskreis „Vertreibung“ für alle Interessierten eingerichtet, unter dem Motto „Wenn man ein ‘Wozu’ im Leben hat, erträgt man manches ‘Wie’.“ Es grenzt manchmal an die sozialtherapeutische Ebene. 

Fördert das HDO auch Projekte in den jeweiligen Herkunftsländern?

Ja, viele. Im Prinzip ist jede Einrichtung antragsberechtigt. In Rumänien haben wir zahlreiche Projekte mitfinanziert, wir haben zum Beispiel mit der Evangelischen Akademie Neppendorf, der „Banatia“ oder dem Regionalradio Sathmar zusammengearbeitet, um nur ein paar zu nennen. Unsere Mittel sind freiwillige Leistungen des Freistaates Bayern und daher sehr haushaltsabhängig. Manchmal gelingt uns mehr, manchmal weniger. Gebäudesanierungen würden uns völlig überfordern, aber im Moment ist es uns wichtiger, in Menschen zu investieren. 

Hat sich die Arbeit des HDO durch die EU-Erweiterung verändert?

Ja, denn fast alle Gebiete, aus denen Deutsche nach Bayern gekommen sind, sind jetzt Teil der Europäischen Union. Es ist natürlich um vieles leichter, dorthin zu reisen, die Kontakte mit der dortigen Bevölkerung wieder aufzunehmen und zu pflegen, Projekte ins Leben zu rufen. Die großen Ängste der kommunistischen Zeit sind verschwunden, nach der Wende entstand aber in vielen Ländern des Ostblocks eine Art Wertevakuum – man schien nicht zu wissen, was man an den Platz der von den Kommunisten verordneten Werte stellen sollte. Oft führte der Ausweg wieder in einen verstärkten Nationalismus. Die Werteneutralität, die die Demokratie mitbringt – früher hat man es „Wertepluralismus“ genannt – setzt sich nur sehr schwer und langsam durch.