Der Kampf ums Leben hört nie auf

PAVEL lässt krebskranke Kinder und ihre Familien nicht im Stich

Camelia Dima erzählt die Geschichte ihrer Tochter, die zu schwach ist, es selbst zu tun.

Iuliana Ghidu und Alina Mitroi erklären die Probleme, mit denen krebskranke Kinder in Rumänien konfrontiert werden
Fotos: Aida Ivan

Der Parkplatz des Bukarester Instituts ist voll mit Wagen. Sie fahren hastig hin und her. Pförtner machen die Fahrer darauf aufmerksam, dass ihre Autos vor dem Institut nicht lange bleiben dürfen. Auf der anderen Seite der Straße gibt es ein Perückengeschäft. In der Nähe – das Fundeni-Krankenhaus. Betritt man das rote Ziegelgebäude, so sieht man als Erstes eine weiße Wand auf der linken Seite. „Nicht aufgeben!“ oder „Es wird wieder gut!“, „Verliere nicht den Glauben!“ – solche handschriftlichen Ermutigungen bedecken eine ganze Wand beim Eingang. In diesem Gebäude befindet sich das größte Onkologie-Institut (IOB) des Landes.

Krebs ist die zweithäufigste Ursache für den Tod der Kinder zwischen vier und 15 Jahren. Jedes Jahr werden rund 500 Kinder mit einer onkologischen Erkrankung diagnostiziert. Letztes Jahr wurden 540 Einzelfälle am Onkologie-Institut registriert. Es geht um Kinder, deren Behandlung von ein paar Tagen bis zu mehreren Monaten dauert. In wenigen Fällen werden krebskranke Kinder geheilt. Das liegt wahrscheinlich an der mangelnden Information der Menschen und der späten Diagnostizierung, an unzureichenden Arbeitskräften und dem Fehlen eines multidisziplinären Teams, so Iuliana Ghidu von dem Verein der Eltern mit krebskranken Kindern, PAVEL.
Im ersten Stock des Onkologie-Instituts befindet sich der Sitz des Vereins. In ihrem Büro sitzen Iuliana Ghidu, die geschäftsführende Direktorin des Vereins, mit Psychologin Alina Mitroi, die Daten über die Situation der krebskranken Kinder in Rumänien liefern. Ihr ständiges Bestreben ist, die Behandlungsbedingungen der Kleinen zu verbessern.

Ein landesweites Programm seitens des Gesundheitsministeriums ist nicht vorhanden, erklärt Ghidu ihre Sorgen bezüglich der betroffenen Kinder. „In Rumänien gibt es kein einheitliches System, das ihren Bedürfnissen entspricht: Behandelt werden die Kinder nur aus einer medizinischen Perspektive, aber sie brauchen auch psychosoziale Beratung“, verdeutlicht Iuliana Ghidu. Ein Schritt vorwärts wurde trotzdem gemacht: Angefangen hat der Verein PAVEL ein schweizerisch-rumänisches Kooperationsprojekt für die krebskranken Kinder in unserem Land. Anvisiert sollen 700 krebskranke Kinder, Patienten des Onkologie-Instituts, des Fundeni-Instituts und anderer ähnlichen Krankenhäuser in Bukarest sein.

Die Eltern können nicht alles machen

PAVEL war der erste Verein seiner Art hierzulande. Das Zentrum für Kinder und Eltern im Onkologie-Institut Fundeni wurde 2007 nach einem britischen Modell gegründet. Im Rahmen des Vereins werden Dienste wie Sozialhilfe, psychologische und juristische Beratung geleistet. All das, damit die Zeit, die die Kinder im Krankenhaus verbringen, besser wird. „Die meisten kommen aus sehr armen Regionen des Landes, aus der Moldau, der Dobrudscha und aus dem Süden. Die Medikamente und die Untersuchungen sind sehr kostspielig. Wir helfen mit Lebensmitteln, mit dem Transport, manchmal auch mit Finanzierung für die Beerdigung“, verdeutlicht Ghidu. Ein Spielraum, eine Bibliothek und eine Krankenhausschule wurden inzwischen eingerichtet.

Manche Krebskranken haben sogar das Bakkalaureat hier abgelegt. Die Krankenhausschule gibt es seit zwei Jahren: Die Lehrer gehen zum Bett der Kinder und helfen ihnen beim Lernen, damit sie in derselben Klasse bleiben. „Die Heilung des Kindes hängt von der Krebsart, an der es leidet“ ab, erläutert Psychologin Mitroi. „Leukämie und Lymphome können im Gegensatz zu den soliden Tumoren geheilt werden. Wesentlich dabei ist der Zeitpunkt, an dem die Behandlung beginnt“, macht sie deutlich.
Im Bereich der pädiatrischen Onkologie mangelt es in Rumänien an Behandlungszentren, Methoden zur richtigen Diagnostizierung, sogar Medikamenten. Die Mängel im Gesundheits- und Sozialsystem führen zur Beeinträchtigung der Behandlung. Das alles hat zur Folge, dass krebskranke Kinder weniger Chancen zum Überleben haben. Die Heilung und Wiedereingliederung der Kinder ist nicht so häufig im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Der Verein spricht sich für die Entstehung eines multidisziplinären Teams, das krebskranke Kinder pflegt, aus: Abgesehen vom Arzt sollen ein Psychologe, ein Sozialassistent, Therapeuten und Berufsberater hinzukommen.

Bei dem Verein PAVEL arbeiten Menschen, die die Krebskranken und die ihnen nahestehenden Personen beraten und moralisch, psychologisch und finanziell unterstützen können. Sehr wenige Zentren für palliative Pflege sind landesweit vorhanden. „Es muss Experten geben, die die Familien unterstützen. Die Eltern können nicht alles machen“, meint Iuliana Ghidu. Unter dem Namen „Unsere Kinder wählen die Gesundheit“ wird ein dreijähriges schweizerisch-rumänisches Projekt durchgeführt. Angeboten werden Sozialberatung, psychologische Beratung und Therapie durch Spielen, aber auch Dienste für den Genesungsprozess und Rechtsberatung. All das ist kostenlos für die Familien, deren Kinder im Krankenhaus sind. Im Rahmen dieses Projektes  wird landesweit auch eine Kampagne für die frühe Diagnostizierung des Krebses bei Kindern durchgeführt. Iuliana Ghidu spricht sich für eine sorgfältige Beschäftigung mit jedem Krebsfall aus – das beinhaltet eine langfristige Intervention und ein multidisziplinäres Team. „Diese Methode wird den Aufenthalt der Kinder im Krankenhaus wesentlich verbessern“, versichert Iuliana Ghidu. Der Verein verfügt auch über ein Haus für Eltern. Das ist eine Wohnung, nicht weit entfernt vom Onkologie-Institut, wo Eltern und ihre krebskranken Kinder kostenlos übernachten können. Gedacht ist sie für diejenigen, die nicht in Bukarest wohnen. Das Haus der Eltern funktioniert seit mehr als 15 Jahren im Bukarester Stadtteil Dristor.

Die Standard-Geschichte eines Patienten

Der Patient und seine Verwandten werden nicht in richtiger Art und Weise über die Ursache der Krankheit, die möglichen Behandlungen, die Institutionen im In- oder Ausland oder die Rechte der Patienten informiert, so Iuliana Ghidu. Wenn  bei einem Patient  Krebs diagnostiziert wird, fühlt er Angst und Panik. Im Laufe der Zeit muss er meistens Isolierung, Wut oder Depression durchleben. Sobald die medizinische Behandlung beginnt, muss die Familie des Patienten die teuren Analysen mitfinanzieren. Dazu kann noch eine Schwierigkeit kommen: Manche Medikamente kann man hierzulande gar nicht kaufen. Teure chirurgische Interventionen in Rumänien oder anderswo können auch nicht ausgeschlossen werden. Manche Patienten brauchen auch Prothesen.

Jedes Kind hat das Recht auf kostenlose Pflege, so das Gesetz. Trotzdem müssen die Eltern tief in die Tasche greifen, damit ihre Kinder eine Chance auf Leben haben. Diese Eltern haben meistens noch zwei-drei Kinder zu Hause, die vernachlässigt werden. Ein anderer Faktor ist das sehr niedrige Einkommen, manchmal gibt es gar keines. Die Situation wird äußerst kompliziert, wenn die Eltern nicht mehr arbeiten können: Sie gehen ständig ins Krankenhaus mit dem Kind. Die Eltern sind zweifelsohne überfordert: „Es sollte eine Art Unterstützung vom Staat für diese besonderen Fälle existieren. Und nicht nur symbolisch, wie das Kindergeld“, meint Ghidu. Die Kinder bleiben im Onkologie-Institut zwischen zwei Wochen und mehreren Monaten. Dementsprechend können sie den Kontakt mit der Schule verlieren. Das kann die Isolierung der Patienten bewirken, später könnte das zur sozialen Ausgrenzung oder zum Ausschluss vom Arbeitsmarkt führen.

Alle Kinder haben trotzdem das Recht auf Bildung. Mihai Benchea spricht über die Schule im Krankenhaus, die hierzulande ein neues Konzept ist. Sie existiert aber in den USA und in anderen Ländern schon seit längerer Zeit. Dabei geht es um ein individuelles Unterrichtsprogramm, das von den physischen Fähigkeiten des Patienten und dem Wissensniveau abhängt. „Wir versuchen, die Lernfähigkeiten der Kinder funktional und möglichst aktiv zu halten. Gearbeitet wird individuell oder in kleinen Gruppen“, erklärt Benchea, der für diese Abteilung zuständig ist. Es gibt fünf Lehrer, die in zwei Krankenhäusern arbeiten, in drei Abteilungen, mit Kindern aus mehr als 16 Landkreisen. „Unsere Lehrer kommen auch am Wochenende, um mit den Kindern zu arbeiten“, fügt er hinzu. „Wir wollen die Behörden überzeugen, solche Spitalsschulen zu gründen. Angepasste Bildung soll eine Abteilung des Bildungswesens werden“, erklärt Benchea. Geplant ist der erste Kongress in Südosteuropa mit Debatten über angepasste Bildung.

Camelia und Florentina

Im Haus der Eltern wird gerade ein besonderer Fall untergebracht. „Florentina geht es nicht so gut. Aber das sagen die Ärzte seit Langem und das Kind hat den ausgeprägten Wunsch zu leben“, erklärt Ghidu die Situation der jungen Frau. Im Haus der Eltern in dem Dristor-Viertel werden wir von Camelia Dima empfangen. Florentina, Camelias Tochter, wartet auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie ist sehr schwach und spricht kaum.

Seit 13 Jahren leidet sie an Krebs. Als sie in der vierten Klasse an einer Schule in Tulcea lernte, bekam das Mädchen Sehstörungen und fürchterliche Kopfschmerzen. Damals war sie eine der Klassenbesten. Die Ärzte in ihrer Heimatstadt haben ihr empfohlen, Brillen zu tragen. Ihre Schmerzen wurden aber unerträglich und ihr linkes Auge wurde größer als das rechte. „Ich brachte sie nach Bukarest. Da wurde ein Tumor auf dem Augennerv entdeckt. Mit dem linken Auge wird sie nie mehr sehen“, erzählt ihre Mutter. In der Neurochirurgie-Abteilung wurde der Mutter nicht erklärt, woran ihre Tochter leidet: „Sie haben nur gesagt, dass sie nach der Operation gestärkt werden muss“. Erst in der Abteilung für pädiatrische Onkologie hat die Mutter erfahren, was das war. Als ihr gesagt wurde, dass Florentina an Krebs leidet, war sie verzweifelt.

Und das war nur der Anfang: Nach langjährigen Zytostatikabehandlungen und Radiotherapie wurden bei Florentina immer wieder neue Tumoren auf den Nerven entdeckt, die operativ im In- und Ausland entfernt wurden. Manche medizinischen Geräte so wie in Deutschland oder in der Türkei gibt es in Rumänien nicht. Inzwischen leidet die 23-jährige Florentina unter vielen anderen Krankheiten, wie Hirntumor, Hydrozephalus und Epilepsie.  
„Ich glaube, man kann die Krankheit besiegen. Es sind schon 13 Jahre vergangen. Wesentlich ist es, dass man unterstützt wird“, meint die gläubige Mutter. „Der Verein PAVEL spielt eine sehr wichtige Rolle: Die Leute haben täglich mit mir gesprochen, haben mich ermutigt und finanziell unterstützt. Es gibt so viele Medikamente und Analysen zu bezahlen. Die Krankenkasse hat niemals geholfen. Es musste eine Platte eingesetzt werden, die sie noch immer in ihrem Kopf hat. Diese mussten wir bezahlen“, erklärt die Mutter. Sie massiert den Rücken ihrer Tochter leicht.

Ab 2004 hat Florentina nach einer der zahlreichen Operationen alles vergessen – die Buchstaben, das Schreiben. Mithilfe des Vereins haben Mutter und Tochter neu angefangen: Sie konnte kaum erwarten, dass die Lehrer täglich zu ihr kamen. Außerdem ist sie sehr glücklich, dass sie letztes Jahr etwas gelernt hat. Es gefällt ihr sehr und es hilft ihr auch viel, Armbänder und Halsketten aus kleinen Plastikperlen anzufertigen. Letztes Jahr war besonders schwierig für die beiden: Bei der Mutter wurde auch ein Tumor entdeckt, sie war völlig geschockt, da sie dachte, sie könne ihrer Tochter nicht mehr helfen. Auf der anderen Seite fiel es Florentina sehr schwer zu wissen, dass ihre Mutter auch an Krebs leidet. Leute von PAVEL haben aber ihre Aufmerksamkeit davon abgelenkt. Sie arbeiteten zusammen im Rahmen verschiedener Werkstätten. Am meistens gefällt  Florentina, Armbänder und Halsketten zu machen, jetzt kann sie auch Ohrringe anfertigen. Diese werden verkauft. Florentina freut sich, dass sie auf diese Weise auch etwas Geld verdient. Dann können weitere Medikamente gekauft werden. Um die Schmerzen ertragen zu können, nimmt Florentina seit zwei Jahren Morphium. Außerdem wir sie mit Bestrahlungen behandelt.

Krebspatienten sollten eigentlich alle Medikamente kostenfrei bekommen, in Wirklichkeit ist das aber ganz anders: „Sie brauchte ein Zytostatikum, das man hierzulande nicht kaufen konnte. Und das kostete 600 Euro. Der Lohn meines Ehemanns ist nicht so groß. Jetzt bekommen wir die Zytostatika kostenfrei, für alles andere müssen wir bezahlen. Es gab Momente, in denen ich kein Geld in der Tasche hatte“, erklärt Dima den schwierigen Weg, den sie geht. Die Operationen im Ausland wurden von anderen Menschen finanziert. Der Verein PAVEL hat Camelia und Florentina Dima unterstützt. „Die Rente meiner Tochter ist 290 Lei. Sie hat uns, ihre Familie, die für sie kämpft. Aber es gibt Menschen, die niemanden haben. Was sollen sie machen?“, fragt sich die Mutter.

„Unser Kampf mit der Krankheit ist ununterbrochen“, sagt die Mutter, die ganze Monate im Krankenhaus mit ihrer Tochter verbracht hat, ohne ein einziges Mal nach Hause zu gehen. Die Mutter war noch nie zum Geburtstag ihres anderen Kindes zu Hause. Ein Krebskranker müsse rund um die Uhr betreut werden, meint sie. Camelia Dima ist sehr dankbar für das Verständnis der anderen Familienmitglieder. Der Ehemann arbeitet in Tulcea und und kümmert sich um ihren Sohn.  „Heutzutage kann man Krebs beseitigen, aber nicht alleine. Ich habe viele Eltern gesehen, die aufgegeben haben. Sie müssen ermutigt werden“, schlussfolgert Camelia Dima.