Der Mann im grauen Anzug

1975, zwei Jahre nach Uni-Abschluss, ich war gerade 25 und arbeitete als Lehrer in Reschitza, besuchte mich meine Ex-Kollegin Doina in den Sommerferien. Sie hatte als Musiklehrerin an derselben Schule wie ich gearbeitet, war jedoch vor zwei Jahren nach Westdeutschland ausgewandert, und nun war sie wieder als Westlerin in ihrer östlichen Heimat auf Besuch. Da sie auch eine leidenschaftliche Schwimmerin war, fuhren wir eines Morgens zusammen mit dem Bus nach Valiug, zu diesem Bergsee. Es roch nach frisch gemähtem Gras und Tannen. Wir schwammen eine Weile umher, dann sonnten wir uns auf den warmen Brettern des Holzstegs am Seeanfang.

Plötzlich bemerkte ich, dass außer den zwei, drei Touristen, die auf ihren Handtüchern vor sich hindösten, noch ein kleiner, rundlicher Mann im grauen Anzug und Krawatte, ein paar Schritte weiter, im Schatten einer Tanne auf einem Stuhl Platz genommen hatte, mit einer Aktentasche auf den Knien. Er passte wie die Faust aufs Auge in die Landschaft, und als Fan der surrealistischen Malerei wusste ich dieses verrückte Bild sehr zu schätzen. Nicht so erbaulich fand ich aber die Identität des Krawattenmenschen, den ich auf Anhieb wiedererkannte: Es war Puiu Haralamb, ein in der Stadt wohlbekannter Securitate-Offizier. Es war mir völlig schleierhaft, wo er diesen Stuhl mitten im Wald hergenommen hatte, doch eins war mir sonnenklar: Er war uns hierher gefolgt, denn, wer sich mit Besuch aus dem Westen abgab, machte sich hochverdächtig, womöglich des Landesverrats. Ich hätte Doina ja irgendwelche streng geheimen Fische im Wasser oder sozialistische Tannenbäume oder parteifeindliche Vögel am Himmel zeigen können, und sie hätte es dann drüben an den Bundesnachrichtendienst weitergegeben.

In gebührendem Abstand folgte Haralamb Doina und mir wie ein entfernter Schatten zum Berglokal nebenan, wo wir jeder ein Bier kippten. Er saß in dieser Zeit zwei Tische weiter, ohne etwas zu konsumieren, und machte sich eifrig Notizen in einem der Aktentasche entnommenen blauen Heft.  Er observierte uns mit großer Sorgfalt und hielt akribisch fest, was wir alles Verdächtiges über die mangelnden Wolken und die unerträgliche Hitze anzumerken hatten, und wie bedenklich häufig wir schluckten, bis die Bierflaschen leer waren. Er wahr offenbar ein sehr eifriger Offizier und erledigte makellos seine Aufgaben, doch sehr bald stellte sich heraus, dass auch er nicht ganz perfekt war. Als wir wieder zurück zum Steg kamen und uns ins Wasser stürzten, blieb er wie angenagelt auf seinem Stuhl sitzen. Er konnte offensichtlich nicht schwimmen, sonst wäre er uns gewiss in Anzug und Krawatte pflichtbewusst nachgesprungen, aber nun saß er ratlos da und hatte noch nicht einmal ein Fernglas, um uns nachzuschauen. Und was muss er arg gelitten haben, als wir dann zu allem Überfluss auch noch buchstäblich abtauchten und als den Sozialismus gefährdende menschliche U-Boote eine längere Strecke unter Wasser zurücklegten.

Nach der Rückkehr Doinas nach Deutschland wurde ich jedoch überraschenderweise nicht wie erwartet zur Securitate beordert, um über meine Unterwasseraktivitäten Rechenschaft abzulegen. Möglicherweise hatte Haralamb diese besorgniserregende Zeitlücke bei seiner Observierung in seinem Bericht bewusst verschwiegen. Ich nehme an, er war extrem wasserscheu und wollte keineswegs riskieren, von seinen wachsamen Vorgesetzten zu einem peinigenden Schwimmkurs verdonnert zu werden.
Nun stecken wir mitten im Winter, und es ist eine willkommene Abwechslung, mich an vergangene Sommertage zu erinnern. Um regelmäßig zu schwimmen, muss ich Vorlieb mit dem Schwimmbecken um die Ecke nehmen, das nicht nach Tannen, sondern nach Chlor riecht. Ich bin kaum motiviert hinzugehen, ich mache es nur, wenn mich meine Enkelin Isabelle hinführt.

Isabelle ist acht Jahre alt, und wenn sie eine Woche lang nicht schwimmen geht, macht sie Theater. Diese Theaterleidenschaft, wie auch die Schwimmgene hat sie von mir. Das Seepferdchenabzeichen hat sie bereits vor vier Jahren geschafft, mit Magna cum laude. Sie schwamm nicht bloß 25 Meter am Stück, sondern gleich 50 Meter, holte nicht bloß einen Ring aus dem schultertiefen Wasser herauf, sondern gleich drei auf einmal, und sprang sooft vom Beckenrand, bis der Schwimmlehrer ihr mit dem Rausschmiss drohte. Ihr kleiner Bruder David ist neun Monate alt und ein wahrhaftes Schwimmgenie. Bereits als Neugeborener konnte er wie eine Eins schwimmen, er hatte es im Fruchtwasser neun Monate lang fleißig geübt. Im nächsten Sommer fahre ich mit den beiden nach Valiug, dort werden wir in diesem Bergsee schwimmen gehen.