Der Schrei voller Sehnsucht

Ein Foto von Martin Cloos, das er auf eine Postkarte angenäht und aus der Sowjetunion nach Hause geschickt hat.

Martin Cloos mit jungen Frauen aus Nussbach im sowjetischen Arbeitslager

2015 ist in vieler Hinsicht ein Jahr des Gedenkens, doch

„Schau ich in die tiefste Ferne,
Meiner Kinderzeit hinab …“

steigt ein eiskalter Januartag herauf, der Tag, an dem unser Vater verschleppt wurde. In das ferne Sowjet-Russland hieß es. Wie lange wir ihn nicht sehen sollten, war ungewiss.

Es war vor 70 Jahren. Am 13. Januar 1945 traten in der Abenddämmerung bewaffnete Männer in unseren Hof – mit Listen in den Händen. Was sie sagten, was sie befahlen, daran erinnere ich mich nicht, doch an das Geschehen, das nach ihrem Abzug folgte: Ein eiliges, aufgeregtes Packen begann. Einen roten Henkeltopf mit in Fett aufbewahrtem, gebratenem Fleisch sehe ich auch heute noch vor meinem inneren Auge. Verwandte kamen vorbei. Ich entsinne mich der Worte „flüchten, verstecken“. D

er Geisterwald grenzte ja an unser Dorf ... Dann hörte ich meinen Vater sagen: „Wohin alle gehen, da gehe ich auch hin.“ Diese Aussage wiederholte meine Mutter noch lange Zeit danach.
Am nächsten Morgen – ganz früh, es war noch dunkel – stapften wir durch den hohen Schnee: unser Vater (40 Jahre alt), meine Mutter (35 Jahre alt), meine Brüder (13 bzw. 11 Jahre alt) und ich (8 Jahre alt). Wir gingen Richtung Schule, dem Sammelort.

Vor der Schule angekommen, welch Menschenmenge! Meinen Brüdern war es gelungen, mit dem Vater ins Schulgebäude zu schlüpfen. Als ich das auch versuchte, hörte ich ein barsches „Stai!“ („Bleib stehen!“). Ängstlich wich ich sofort zurück. Alles Flehen meiner Mutter half nichts – wir mussten draußen in der Kälte bleiben und sahen zu den Schulfenstern hoch, von wo ab und zu der Vater oder einer meiner Brüder uns zuwinkten.

Dann fuhr plötzlich ein Fahrzeug mit Zeltplane vor. Dorthin mussten alle Betroffenen einsteigen. Es wurde an den Schnüren gerissen und gezerrt. Da sah ich eine Hand winken – es war die Hand meines Vaters, denn ich hörte klar und deutlich seine Stimme: „Adje, Noaßbächer Turm!“ (Ade, Nussbacher Turm). Noch lange Zeit danach klangen diese Worte in mir nach. Wie ich das Fahrzeug hasste! Wie ich alle Fahrzeuge dieser Art hasste, die uns liebe Menschen brutal entrissen hatten!

Unruhige und beängstigende Tage folgten. Besonders in der Nacht. Da wurde an Tore und Türen gehämmert. Wir wurden aus dem Schlaf gerissen. Mit Gebrüll wurde das Haus von oben bis unten durchsucht und alle Schranktüren aufgerissen. Wir zitterten jedes Mal. In der Zeit danach musste unsere Mutter anpacken – und wir Kinder mit ihr, wo und wie es nur ging, denn wir standen nun da „wie der Finger“. Waren wir eigentlich noch Kinder? Konnten wir es sein? Meine Brüder waren über Nacht erwachsen geworden. Jeder Tag war für sie ein harter Arbeitstag. Abends waren sie oft zu müde, um Hausaufgaben zu machen, doch das Verständnis der Lehrer hat nie gefehlt.

Das Leben in unserem elterlichen Haus verbitterte uns der fremde neue „Besitzer“, ein sogenannter „Kolonist“. Er spielte sich als Herr und Gebieter auf. Schnell hatten wir Kinder herausgefunden, dass er des Lesens und Schreibens unkundig war. Wir wurden selbstsicherer und drohten ihm mit der Heimkehr unseres Vaters: „Atunci să vezi!“ („Dann sollst du sehen!“), obzwar wir drei Jahre lang in Ungewissheit schwebten und nicht wussten, ob er überhaupt noch am Leben war. In uns lebte aber die Hoffnung. Wir sehnten uns nach ihm. „Wenn er dann kommt, wenn er dann kommt …“ In unseren Gesprächen war er immer anwesend. Nie konnte ich die Augen schließen, bevor ich nicht in meinem kindlichen Glauben um seine Heimkehr betete.

Dann endlich welch ein Jubeltag! Das erste Lebenszeichen! Eine Postkarte! Weinend lief uns unsere Mutter damit entgegen, als wir einmal aus der Kirche kamen. Ganz Nussbach war in Aufregung. Alle, die noch lebten, hatten geschrieben. – Unser Vater lebte! Er lebte! Im Donbass im Lager „Nikanor“. In gewissen Abständen erreichten uns dann immer wieder Postkarten, sogar mit aufgenähten Fotos.

Das erhöhte die Freude und stärkte die Hoffnung. Ich besitze noch einige dieser Fotos und betrachte sie des Öfteren in Gedanken versunken. Mit Arbeit und Lernen, Krankheit und Bangen, aber auch hellen Tagen, täglich auf Postkarten mit aufgenähten Fotos wartend, vergingen noch zwei Jahre.
Steig ich nun wieder in die tiefste Ferne meiner Kinderzeit hinab, taucht ein unvergesslicher sonniger Herbsttag auf. Im Oktober 1949 hieß es: „Se kunn! Se kunn!“ („Sie kommen! Sie kommen!“) Die frohe Botschaft war den Überlebenden vorausgeeilt. Ein Gerücht wie so viele andere? Nein! Für uns gab es kein Halten mehr, kein Zuhausebleiben, keine Schule. Wir rannten zu jedem Zug – ob Personen- oder Lastzug. Mich ließ nur ein Gedanke nicht los. „Werde ich wohl meinen Vater wieder erkennen?“ Schüchtern näherte ich mich meiner Mutter mit dieser Frage. Sie sagte nichts, strich mir nur lächelnd über den Kopf.

Züge und Züge rollten an uns vorbei. „Da sieh! Wieder einer! Wird er anhalten?“ Näher und näher dampfte er heran. Ein Mann stand schon auf dem Trittbrett. „Menj Tati, menj Tati!“, schrie es aus mir, dass ich selbst erschrak. Ein Sehnsuchtsschrei entlud sich unbewusst – fünf Jahre hatte ich gehofft und gewartet. Wie Trauben hingen wir alle drei an ihm, als wir vom Bahnhof nach Hause gingen. Einer meiner Brüder trug stolz das Mitbringsel – eine Gitarre. Unsere Mutter hatte ihre Arbeit ruhen lassen und lief uns entgegen.

Unser Vater war kein wortkarger Mensch, eher ein begnadeter Redner und Erzähler. Er berichtete viel von Ereignissen, die ganz Nussbach, Land und Leute betrafen. Allein mit den Erlebnissen aus dem Donbass hielt er sich zurück. Wollte er uns den Glauben an das Wahre, Gute und Schöne nicht rauben? Nur ab und zu erging eine Ermahnung an uns: „Fangt ja nicht an zu rauchen! Ein Glück, dass ich kein Raucher war. Viele Raucher haben in unserem Lager die kleine Brotration gegen Zigaretten eingetauscht und damit ihre Gesundheit noch mehr gefährdet. Schätzt das tägliche Brot, das wir jetzt auf dem Tisch haben! Das Brot dort war ein klebriges Etwas wie Seife. Aber der Hunger, Kinder, der Hunger …“ Heute habe ich oft den „Hungerengel“ aus Herta Müllers „Atemschaukel“ vor mir, wenn ich die vielen erschütternden Berichte anderer Zeitzeugen lese.

„Lernt!“, ermutigte uns der Vater. Lebensrettend seien ihm auch die Kenntnisse über Pflanzen und deren Wurzeln gewesen – er hatte sich diese an der Ackerbauschule angeeignet. Anfangs, in den Jahren der Hungersnot, habe er immer eine Konservenbüchse bei sich getragen und jedes armselige essbare Pflänzchen auf seinen Wegen gepflückt.

Fünf Jahre in Tag- und Nachtschichten fuhren sie ohne Schutzkleidung in die Kohlegruben. Die Arbeit war schwer und gefährlich – oft standen sie bis zu den Knien im Wasser. Täglich ereignete sich ein Unfall, einige endeten tragisch: mit vielen Toten, die dann einfach nur „verscharrt“ wurden. Eine Gnade, wenn mindestens ein „Vaterunser“ gesprochen werden konnte. Wenn er unbeobachtet am Wächter vorbeikommen konnte, hat mein Vater unter der Kleidung ein paar Kohlestücke unter seiner Jacke versteckt. Der Abnehmer war eine arme russische Familie, die auf die paar Kohlestücke angewiesen war. Die Entlohnung für diesen Dienst war „etwas zum Beißen“.

Über die heimtückische Krankheit Malaria meinte mein Vater lakonisch: „Haut und Knochen! Alle hatten mich schon aufgegeben!“ Ja, daran kann ich mich auch erinnern: Als lange Zeit keine Nachricht mehr von ihm kam, hatte ihn sogar meine Mutter aufgegeben.

In den ersten Jahren gab man ihnen nach den Entlausungsprozeduren keine Unterwäsche, nur die wattierte russische Kleidung: „Da klapperten uns in der Kälte die Zähne.“

Fünf Jahre lang wurde ihnen kein Sonntag, kein gemeinsamer arbeitsfreier Tag gegönnt.

Als mein Vater wieder bei uns war, litt er anfangs unter den vorgefundenen Umständen sehr: Haus und Hof waren von fremden Menschen besetzt, sie hielten sich für die rechtlichen Besitzer; auf dem eigenen Grund und Boden mussten wir als Tagelöhner arbeiten; unsere wertvollen landwirtschaftlichen Geräte waren überall verstreut und unter freiem Himmel allmählich verrostet.

Das ließ meinen Vater von Tag zu Tag schweigsamer werden. Vor uns Kindern haben die Eltern nie darüber gesprochen, doch gefühlt haben wir es, schließlich waren wir fünf Jahre älter geworden.
1952 ereilte uns ein zweiter Schicksalsschlag. Es ging wieder ins Ungewisse: aus Nussbach, unserem Heimatort, nach Odorhellen/Udvarhely/Oderheiul Secuiesc. Wir wurden ohne jegliche Begründung zwangsevakuiert – eine großzügige Geste der „neuen, menschenfreundlichen Regierung“, ein Willkürakt wie viele andere in der Zeit. Wieder wurde in Eile und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gepackt: Unser weniges, noch übrig gebliebenes Hab und Gut stellten wir bei Verwandten unter. Mit ein paar Habseligkeiten verließen wir Nussbach: „Wenn dich die Menschen auch kränken, weine nicht …“, sang meine Familie in ihrer Not, ich begleitete sie auf der Flöte oder der von unserem Vater mitgebrachten Gitarre.

In einem Dorf nahe Oderhellen nahm uns eine ungarische Familie auf. Die Meinigen mussten schwer arbeiten, während ich nach einer Unterbrechung von einem Jahr – dank eines verständnisvollen Schulleiters – wieder in die Schule gehen durfte.

1954, nach zweieinhalb Jahren, kehrten wir heim. Unser Hof war noch immer von Fremden bewohnt und total heruntergewirtschaftet. Erst 1956/57 zogen die Hausbesetzer aus. Ich studierte bereits in Klausenburg – als ich diese gute Nachricht erhielt, atmete ich auf. Mein Vater war immer wieder auf der Suche nach einem Arbeitsplatz, bis er schließlich eine stabile Stelle als Pförtner eines C.F.R.-Unternehmens in Kronstadt bekam. Von hier erreichten mich ausführliche Briefe über sein geliebtes Burzenland und das Geschehen in der Familie. 1968 trat er in den Ruhestand und durfte sich zusammen mit meiner Mutter über seine Enkel und Urenkel freuen. Meine Mutter wurde 72 Jahre alt, mein Vater 80.