Der virtuelle Wald

Löchrig wie ein Schweizer Käse – der Wald nördlich von Deutsch-Tekes.
Foto: Google Earth

Zum Jahreswechsel besuchten wir Freunde in Deutsch-Tekes/Ticuşu vechi im Landkreis Kronstadt/Braşov. Weil die Sonne gar so freudig strahlte, was diesen Winter nicht oft vorkam, brachen wir nachmittags gemeinsam zu einem Spaziergang auf. Wie auch sonst folgten wir dem Pfad hinter dem Pfarrhaus auf den Hügel. Kurz darauf bogen wir in einen idyllischen Waldweg ein und stapften bald querfeldein über den weichen, nadelbedeckten Boden, erst die spärlichen Schneeflecken, dann die immer häufiger werdenden Baumstümpfe geschickt umschiffend. Ringsum herrschte paradiesische Ruhe. Was für ein herrlicher Silvestertag!

Nur aus der Ferne tönte der liebliche Gesang einer Motorsäge. Wärmende Sonnenstrahlen überfluteten die gewaltige Lichtung, die wir kurz darauf erreichten. Nanu? Die war aber im Sommer noch nicht da gewesen! Beglückt taumelten wir über ein Bett aus  weichem, weißem Sägemehl. Endlich konnte unser Blick ungehindert bis zum Horizont schweifen. Da wurde aber ganze Arbeit geleistet! Tief in den Schlamm eingegrabene Treckerspuren zeugten jedenfalls davon, dass man dieserorts klotzt und nicht kleckert. Die armen Zigeunerlein aus dem Dorf, die sonst für alles Mögliche herhalten müssen, waren es diesmal bestimmt nicht gewesen...

Die nicht nur hier in Ticuş, sondern im ganzen Land anzutreffenden, fleißigen „freiwilligen“ Holzfäller widerlegen das verbreitete Vorurteil, dass sich in der rumänischen Wirtschaft wenig bewegt. Der Wald als natürliche Ressource, wo so mancher meint, sich wie beim Blümchenpflücken – nur halt in größerem Stil – frei bedienen zu können, wird jedenfalls heftigst bewegt. Erst von der Senkrechte in die Waagrechte, dann ohne große Umwege direkt in den Geldbeutel irgendeines Lokalbarons. Rationell, effizient, ökonomisch – und vermutlich steuerfrei, was wertvolle Beamtenarbeitskräfte spart. Schont also das Staatssäckel und fördert die lokale Kaufkraft: Wieder einer mehr, der sich einen dicken BMW leisten kann.
Aufforsten? Ach, so ein Quatsch! Man sagt zwar, der Wald sei die Lunge der Natur – aber mal ehrlich: Ohne Bäume ist doch viel mehr Platz für Luft. Wenn man mal ausrechnet, was so ein Baum an Luft verdrängt – und dann erst ein ganzer Wald! Und die vielen Viecher darin, die uns die wenige verbliebene Luft auch noch vor der Nase wegatmen. Alles Schädlinge! Abschießen, ausrotten –  fort, fort mit der lästigen Natur! Gottlob sind wir auf dem besten Weg dahin...

Andererseits sieht es schon idyllisch aus, wenn man beim Nachmittagskaffee von der Terrasse unserer Gastgeber direkt auf den bewaldeten Hügel blickt. Doch das geht auch jetzt noch, denn die ersten paar Baumreihen hat man netterweise stehen lassen. Von dort aus merkt man nicht einmal, dass dem Wald überhaupt etwas fehlt. Umsichtige Landschaftsplanung nennt man das. Man will die paar Touristen, die sich ab und zu in dieses Kaff verirren, schließlich nicht ganz vergraulen.
Zuhause haben wir dann gleich bei Google Earth nachgeguckt – und nicht schlecht gestaunt: Der gewaltige Forst, der sich über die ganze Hügelkette erstreckt, sieht aus wie ein Schweizer Käse! Oder wie ein von Motten zerfressener Lappen, von dem bald nur noch kleine grüne Fitzelchen übrig bleiben werden. Wenn das so weitergeht, steht bei unserem nächsten Besuch von dem dichten Wald, den wir früher in stundenlanger Wanderung durchquerten, bloß noch der Rand. Ein virtueller Wald, sozusagen. Dann können wir auch da endlich mit dem Quad durchknattern. Oder vielleicht sollte man im Inneren einen Golfplatz anlegen? Dann kommen bestimmt auch bald die Touristen.