Der Wohlfühlabstand

Manchmal versetze ich mich in die Position eines Außerirdischen, der neugierig das Alltagsverhalten der Erdlinge studiert. Nur so fällt einem auf, wie merkwürdig unsere Gewohnheiten oft sind!

Einst stand ich eingekeilt in der vollen U-Bahn und wusste nicht, wohin ich den Kopf wenden sollte. Die umstehenden Menschen waren alle etwa in meiner Größe, sodass ich ständig in irgend ein Gesicht glotzte. Schon Affenforscherin Jane Goodall meinte, dass direktes Anstarren Aggressionen auslöst, daher also ein flüchtiges, entschuldigendes Grinsen, denn laut Goodall ist Zähnezeigen ein Beschwichtigungsritual. Logischerweise gilt dies nur für Nicht-Raubtiere, wofür ich mich halte, beim Menschen generell aber nicht immer so sicher bin. Dann schielte ich insistent zu Boden, als gäbe es dort etwas Hochinteressantes zu entdecken.

Ungeschriebene Verhaltensregeln gibt es auch für den Umgang mit unfreiwilligem Hautkontakt: stocksteif dastehen und ignorieren. Wer uns im Gedränge aus Versehen zu nahe kommt, wird zur Nichtperson degradiert! In Japan sind die sogenannten Popograpscher sehr verbreitet, die genau diese Regel schamlos ausnutzen: Im Gedränge fassen sie scheinbar zufällig einer Dame ans Gesäß, die meist zu wohlerzogen ist, um aufzuschreien, aber wegen des Gedränges keine Fluchtmöglichkeit hat. Eine Münchner Bekannte, die dies eine Weile lang innerlich empört über sich ergehen ließ, verteilte irgendwann in der U-Bahn von Tokio schallende Ohrfeigen an die – vermutlich unschuldigen –  unmittelbar umstehenden Männer.

Auf einer Tanzveranstaltung hingegen beobachtet man als Außerirdischer verwirrt, dass hier völlig andere Regeln gelten. Nun muss das Gegenüber sogar, selbst wenn es ein Fremder sein sollte, eng umschlungen werden.

Dabei – so würde ich es im Bericht an meinen Heimatplaneten formulieren – zappeln beide mit den Füßen, während ein Hintergrundgeräusch abgespielt wird. Kommt das Geräusch zum Stillstand, ist die Umarmung umgehend zu lösen. Die kleinste Verletzung dieser Regel – etwa ein Weiterzappeln ohne das Geräusch, oder ein Verharren in der Umarmung – würde die Artgenossen zutiefst verstören.

Interessant ist, dass solche Regeln keiner macht. Räumliches Sozialverhalten basiert teils auf Gewohnheit, teils auf Instinkt und kann je nach Kulturkreis unterschiedlich ausfallen. Psychologe Julius Fast demonstrierte dies auf eindrucksvolle Weise: Er verteilte Matratzen an je eine Gruppe Deutsche und Araber, die sich in separaten Räumen ein Lager einrichten sollten. Die Deutschen eroberten sofort die Ecken und jeder steckte aus den mitgebrachten Gegenständen sein Revier ab, während die Araber alle Matratzen in einer Ecke zusammenschoben. Mischt man in dem Experiment verschiedene Kulturen, entsteht Verwirrung oder gar Aggression – und keiner kann erklären, warum!

In der Großstadt, wo grundverschiedene Individuen in konservendosenartigen Blockwohnungen zusammengestapelt sind, ignoriert man die Nachbarn oft, genauso wie in der U-Bahn. Denn wenn die Wohlfühldistanz unterschritten ist, wird der andere zur Nichtperson – andernfalls müsste man ihn als Bedrohung empfinden. Ganz anders auf dem Dorf, wo man Hinz und Kunz auf der Straße grüßt und jeder jeden kennt.

Vielleicht ist ja die Weite dieses Landes das Geheimnis der friedlichen Koexistenz der Ethnien in Rumänien? Als Außerirdischer würde ich mich jedenfalls nur auf dem Dorf niederlassen, mit einem Gärtchen um mein Raumschiff für den nötigen Wohlfühlabstand, aber Tanti Lenuţa und Nea Vasile gleich nebenan. Selbst auf die Gefahr, dass die bald alles, aber auch absolut alles über meine seltsamen, außerirdischen Gewohnheiten wissen...