„Die eigenen Werte weitergeben“

Ein Gespräch mit Dr. Steffen Schlandt, Kantor der Schwarzen Kirche in Kronstadt

Foto: Béla Benedek

Zu Pfingsten nahm der Kronstädter Kantor der Schwarzen Kirche, Dr. Steffen Schlandt, im Rahmen des Heimattags der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl den Ernst-Habermann-Preis entgegen. Der Musiker wurde für die 2013 abgeschlossene postgradualeArbeit an der Nationalen Universität für Musik in Bukarest geehrt, die seine zehnjährige Forschungstätigkeit und die Bestandsaufnahme der Musikalien der Schwarzen Kirche gekrönt hat. Außerdem initiierte und leitete er die CD-Einspielung „Wiederentdeckte Kantaten aus der Schwarzen Kirche“. Steffen Schlandt, Jahrgang 1975, hat in Klausenburg/Cluj-Napoca, Trossingen und Würzburg studiert und ist seit zehn Jahren Kantor in Kronstadt/Braşov sowie Koordinator mehrerer Konzertreihen und Kulturprojekte in seiner Heimatstadt und dem Burzenland. Mit Steffen Schlandt sprach ADZ-Korrespondentin Christine Chiriac.

Kronstadt wird heute sehr oft mit Industrie, Tourismus und Sport in Verbindung gebracht – weniger mit Kultur. Wie schätzen Sie die kulturelle Entwicklung der Stadt ein?

Gerade Kronstadt sollte sich meiner Meinung nach nicht zu einem Museum entwickeln: Die Stadt ist alt, besitzt sehr schöne Bauten aus den vergangenen Jahrhunderten, und man versucht, kulturell in die Vergangenheit zu flüchten, sich auf die Historie zu fixieren. Natürlich ist das berechtigt und wichtig, selbstverständlich ist der Stadtkern für Touristen sehr attraktiv. Aber das allein ist zu wenig: Wenn man sich darauf beschränkt, dass man sich selber beschaut und sich wiederholt, ist das meiner Meinung nach der erste Schritt vor dem Einsturz. Vor hundert Jahren war Kronstadt eine Stadt, die Künstler wie Brassaï (Gyula Halás), Hans Mattis Teutsch und Henrik Neugeboren (Henri Nouveau) hervorgebracht hat – und diese waren mitten in der europäischen Avantgarde. Heute ist das anders. Deshalb müssten wir erst einmal versuchen, eine Vision zurückzuerobern, die uns abhanden gekommen ist. Sonst können wir nicht von lebendiger Kultur sprechen, sondern höchstens von Reproduktion oder Wiederholung.

Versucht ein Festival wie „Musica Barcensis” also eine Lücke zu füllen?

Die Burzenländer Konzertreihe steckt noch in den Kinderschuhen und muss wachsen – aber der Grundgedanke ist, dass vor fünf Jahren kaum Konzerte in siebenbürgischen Dörfern und Gemeinden veranstaltet wurden. Dabei sind die Kirchenburgen ein hervorragender Ort für Musik. Das ist die Lücke, die wir gerne von innen, also von unseren evangelischen Gemeinden her, füllen wollen. Interessanterweise gab es niemals eine „sächsische“ Tradition, Konzerte in den Kirchen zu veranstalten – die Musik war in den Gottesdienst integriert. Aber jetzt können wir etwas Neues versuchen und andere Gemeinschaften bilden.

Wie geht es weiter mit „Musica Barcensis”?

Wenn wir in einigen Jahren das Glück haben werden, dass unsere Kirchen bei den Konzerten voll sind, muss man den nächsten Schritt überlegen: Was wollen und können wir mit diesen Konzerten erreichen? Natürlich nehmen wir uns vor, europäische und vornehmlich deutsche Kultur sowie geistliche Werte zu vermitteln, aber die nächste Frage wäre, an wen wir uns damit wenden möchten: nur an Touristen? Oder auch an die Menschen aus unserer Gegend, die wir mitbilden, formen möchten? Wenn Letzteres der Fall ist, dann sollte meines Erachtens viel in die Verständlichkeit unseres deutsch-evangelischen Hintergrunds für Anderssprachige – die die Mehrheit im Publikum darstellen – investiert werden. Außerdem ist es uns bewusst, dass die Musik, die im Rahmen von „Musica Barcensis” gemacht wird, nicht allen gefällt – man sollte nicht arrogant werden, sondern jedem Menschen seine Musik gönnen.

Sind die Konzerte in Kronstadt und Umgebung auch eine Form der interkulturellen Kommunikation?

In Siebenbürgen hat man jahrhundertelang nebeneinander gelebt, zum Glück selten gegeneinander, aber eben auch selten miteinander. Heute sind Deutsche, Rumänen, Ungarn auf Zusammenarbeit und Kräftebündelung angewiesen, wenn sie qualitätsvolle Kulturprodukte realisieren wollen. Man kann sich meiner Meinung nach nicht mehr strikt auf die eigene Gemeinschaft beschränken. Andererseits wäre es schade, die eigenen Werte nicht weitergeben zu können. Wir sollten also froh sein, wenn unsere Konzerte und Kirchenburgen zu Orten der Begegnung und des Miteinanders werden – jenseits von konfessionellen und ethnischen Unterschieden. Persönlich sehe ich das als große Chance.

Welches wäre der Idealzustand für „Musica Barcensis” in, sagen wir, zehn Jahren?

Ein Teil der Antwort ist profan, aber unvermeidlich: Wenn man sich alles wünschen dürfte, dann steht die finanzielle Absicherung oben auf der Liste. Zurzeit kämpfen wir noch jedes Jahr um Förderer, die Konkurrenz ist sehr groß. Abgesehen davon wünschen wir uns, dass nicht nur Touristen die Kirchen und Kirchenburgen interessant finden, in denen die Konzerte dargeboten werden, sondern dass sich die Einheimischen – egal welcher Volkszugehörigkeit – mit diesen Kulturgütern identifizieren, sich dafür mitverantwortlich fühlen. Letztlich wünsche ich mir persönlich, wie gesagt, dass wir uns als Kulturschaffende nicht nur auf die Vergangenheit beziehen, sondern aus ihr heraus kreativ werden. „Musica Barcensis“ sollte 2024 eine Vernetzung von Kulturgut, Musik, Kunst, Fahrradwegen und Ökotourismus sein.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit der Kulturschaffenden in Kronstadt?

Ab diesem Jahr gibt es offiziell das Kulturkonsortium Corona, das an dem Besprechungstisch im Blauen Haus der Honterusgemeinde entstanden ist. Zuallererst hat dieser Rahmen unsere Kommunikation verbessert – das Konsortium könnte mit der Zeit die Rolle eines lokalen Kulturministeriums erfüllen. Außerdem werden für die Zukunft größere Projekte angestrebt, die von mehreren Kulturträgern gemeinsam vorbereitet werden. Unser Wunsch ist es, irgendwann groß genug zu sein, um internationale, niveauvolle Veranstaltungen in Kronstadt anzubieten – was zurzeit leider unmöglich ist, weil sich Kreis- und Stadtrat kaum implizieren, wenn es um regionale Kultur geht. Darüber hinaus wollen wir im Konsortium langfristig bewirken, dass neue, entsprechende Gebäude entstehen, und dass insgesamt viel mehr Innovation und Experimente gewagt werden.

Weil Sie von der Bündelung der Kulturkräfte sprachen: Sie sieht in diesem Jahr das Programm der Konzertreihe „Musica Coronensis“ aus?

„Musica Coronensis“ hatte schon im Mai einen Vorläufer im Athenäum in Bukarest – wir haben dort ein Konzert mit Musik aus den vergangenen zwölf Auflagen der Festspiele aufgeführt und eine „musikalische Geschichte Kronstadts“ dargeboten. Das Schöne war, dass es dabei nur um Kronstädter Komponisten und fast nur um Kronstädter Interpreten ging. Dieses Konzert wollen wir auch im Herbst in Kronstadt geben. „Musica Coronensis“ beginnt am 30. September mit dem letzten Orgelkonzert der Sommersaison in der Schwarzen Kirche. In der Aula der Universität wird der Pianist Horia Mihail einen neuen Steinway-Konzertflügel einweihen, im Patria-Saal gibt es Musik für zwei Klaviere mit Viniciu Moroianu und Corina Ibănescu, wir haben außerdem ein Kammermusik-Ensemble aus Österreich zu Gast. Es wird auch eine Gheorghe-Dima-Aufführung der Schüler des Şaguna-Lyzeums geben, sowie ein Blasmusik-Konzert, das an die zahlreichen Kapellen erinnern soll, die vor hundert Jahren in Kronstadt aktiv waren. Kronstadt hatte vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges als Grenzstadt etliche sehr bunte Kapellen. In diesem Jahr will ich gerne zwei unbekannte Musiker in den Lichtkegel stellen. Es handelt sich um den aus Böhmen angereisten Ignaz Hajek und dessen Sohn Egon. Von beiden habe ich passende Werke im Musikalien-Archiv der Schwarzen Kirche gefunden.

Sie haben mehr als zehn Jahre lang diese Musikbestände geordnet und erforscht. Welche Glanzstücke haben Sie gefunden?

Eindeutig ist das am wertvollsten, was wir nur hier haben, und zwar originale Manuskripte der Kronstädter Komponisten wie Daniel Croner, Martin Schneider, Rudolf Lassel, Paul Richter, Johann Lukas Hedwig und Egon Hajek. Darüber hinaus haben wir zahlreiche Abschriften kirchenmusikalischer Werke des 18. Jahrhunderts aus Sachsen und Thüringen, Musik die hier aufgeführt wurde. Es war eine Puzzlearbeit, aber jetzt kann das musikalische Kronstadtbild ein bisschen klarer gezeichnet werden. Beispielsweise wusste ich bis vor Kurzem nicht, dass nicht nur Rudolf Lassel, sondern auch seine Schwester und sein Sohn komponiert haben. Außerdem kann man anhand der Bestände und Hinweise das musikalische Leben der Stadt und die Tätigkeit der Kantoren – von Aufführungen bis zur Anschaffung von Noten und Instrumenten – rekonstruieren. Eine interessante Arbeit, die für einen Musikforscher anstehen würde, wäre Johann Lukas Hedwig: Es gibt gute Monografien über Bickerich, Lassel und Richter, aber noch keine über Hedwig.

In den vergangenen Jahren haben Sie die Restaurierung zahlreicher Orgeln (nicht nur) im Burzenland mitkoordiniert. Was ist in dieser Hinsicht geplant?

Für die Orgeln der Gegend waren die vergangenen 14-15 Jahre tatsächlich „fette Jahre”: Die Gemeinden, Heimatortsgemeinschaften und Förderer haben erfreulicherweise viel in die Restaurierung investiert und wir hatten das zusätzliche Glück, dass eine Orgelbauwerkstatt in Honigberg angesiedelt wurde. Allein im Burzenland konnten dadurch zwölf Instrumente restauriert werden. Insgesamt ist es den Gemeinden gelungen, eine traurige Tendenz mit sanierungsbedürftigen Kirchen, verlassenen Orgeln und Mangel an Veranstaltungen ins Positive zu wandeln. 2014 ist nun ein Sabbatjahr für die Restaurierungsarbeiten – wir wollen erstmal das Erreichte stabilisieren, die neu eingeweihten Orgeln in das Konzertleben aufnehmen.

Wie lockt man junges Publikum in alte Kirchen?

Gerade bei „Musica Barcensis” probieren wir neue Ansätze aus: Etwa letztes Jahr, als der Radfahrerverein „Braşovul pedalează” ins Konzert geradelt ist, oder die Schüler der Musikschule ein eigenes Konzert gestalten durften. Jugendliche tasten sich so an die Ruhe und Würde eines Kirchenraums an, sie erleben internationale Gastmusiker und gemeinsames Singen, sie probieren lokale Gerichte wie den Wolkendorfer Baumstriezel aus. Sie entdecken somit Werte, die früher für andere selbstverständlich waren. Natürlich bleibt die klassische Musik ein Bereich, der vornehmlich von Menschen höheren Durchschnittsalters bevorzugt wird, aber uns ist es wichtig, Berührungsängste bei Jugendlichen abzubauen. Denn Kinder, die von klein auf ins Konzert gebracht werden, haben keinerlei Zurückhaltung gegenüber der Klassik, doch je später man damit in Kontakt kommt, desto schwieriger wird es, sie zu begeistern. Genauso ist es mit dem Ausüben der Musik: Leider machen hierzulande viel zu wenige Kinder selber Musik. Die Kronstädter Musikschule hatte in den neunziger Jahren doppelt so viele Schüler wie heute.

Dafür gehört musikalische Bildung zu den Zielen der Stiftung Forum ARTE, deren Vorsitzender Sie sind...

Unter anderem veranstaltet die Stiftung jährlich ein Weihnachtskonzert in der Schwarzen Kirche, bei dem Kinder mitmachen, die gerne singen. Langfristig überlegen wir aber auch, eine alternative Musikschule ins Leben zu rufen.

Die Mitglieder des Bachchors, den Sie leiten, sind größtenteils keine professionellen Musiker. Macht das Ihre Arbeit schwieriger?

Die Arbeit ist dankbarer: die Choristen kommen mit großem Interesse und Energie zu den Proben und zu den Konzerten. Für sie ist nicht der finanzielle Aspekt wichtig, sondern das Ergebnis, und alle wollen gute Konzerte mitgestalten. Es gibt gewisse Grenzen was die Stimmtechnik anbelangt, aber jeder kann besser singen, wenn er sich bemüht. Persönlich habe ich nie den Anspruch gehabt, in einem Opernhaus oder einer Philharmonie zu arbeiten, sondern als Kirchenmusiker – und die Kirchenmusik wird eben mit Laien gemacht. Diese Arbeit ist für mich mit großer Genugtuung verbunden und ich würde es mir nicht anders wünschen.


Die nächsten Kulturtermine von Forum ARTE

Musica Barcensis, 5. Auflage: Geistliche Musik in den Kirchen und Kirchenburgen Zeiden/Codlea, Weidenbach/Ghimbav, Honigberg/Hărman, Tartlau/Prejmer, Rosenau/Râşnov, Wolkendorf/Vulcan sowie Kronstadt-Bartholomae und Kronstadt-Martinsberg. 5. Juli bis 20. August 2014.
Workshops der Künstlerin Renate Mildner-Müller: 19.-20. Juli. Ausstellung, 21. Juli bis 31. August 2014.
Musica Coronensis, 12. Auflage: Festspiele der Kronstädter Musik. 30. September bis 5. Oktober 2014