„Die Entfernung zwischen mir und mir“

Dokumentarfilm über Nina Cassian im Kino / ADZ-Gespräch mit Regisseurin Mona Nicoară und Co-Autorin Dana Bunescu

Am 8. März wurde der Dokumentarfilm „Distanța dintre mine și mine“ (Die Entfernung zwischen mir und mir) in den rumänischen Kinos lanciert, der Nina Cassians Persönlichkeit gewidmet ist. Im Film der Regisseurin Mona Nicoară und der Co-Autorin Dana Bunescu (bekannt als Schnitt- und Tonmeisterin und Sounddesigner) ist die umstrittene Dichterin in ihrem letzten Lebensjahr (89) zu sehen. Cassian geht mit scharfem Verstand und Humor eine Gegenüberstellung mit einem reichen Filmarchiv, Musik, Gedichten, Fernsehauftritten, einmaligen privaten Aufnahmen und erstaunlichen Verfolgungsdokumenten der Securitate an. Anhand der Spannung zwischen der persönlichen Erinnerung und dem öffentlichen Archivmaterial, zwischen der aktuellen Realität und den Geschichten, die man um die eigene Vergangenheit herum baut, entsteht ein komplexes Bild über ihr Leben, ihre Überzeugungen. Über den Film, der im Vorjahr mit dem Publikumspreis beim Filmfestival „Les Films de Cannes a Bucarest“ ausgezeichnet wurde und von Überzeugungen, Kunst und Macht handelt, hat ADZ-Redakteurin Laura Căpățână Juller von den beiden Autorinnen Mona Nicoară und Dana Bunescu Näheres erfahren.

Wie kam es zu diesem Film?

Mona Nicoară (MN): Ada Solomon (Anm. Red. Filmproduzentin) hatte die Idee zum Film und hat mich eingeladen, ihn zu gestalten. Ich habe das sofort angenommen.

Dana Bunescu (DB): Die Idee eines Films über Nina Cassian hatte Ada Solomon schon seit der Mitte der 90er Jahre. Dessen Verwirklichung war möglich, als sie Mona Nicoară angeboten hat, diesen zu gestalten. Sie ist Dokumentarfilmemacherin, hat Philologie studiert und lebt in New York, wo Nina Cassian seit 1986 wohnte. Die beiden Damen, Nina Cassian und Mona Nicoară, haben sich zum ersten Mal 2013 getroffen, als sie das erste der fünf Interviews geführt haben.

Was wusstet ihr über Nina Cassian, bevor ihr den Film gemacht habt?

MN: Ich wusste viele verschiedene Sachen. Ich bin mit ihrer Kinderliteratur aufgewachsen, habe auch heute noch den von mir als vierjähriges Mädchen bekritzelten Band „Între noi copiii“ zu Hause, in den Schulbüchern gab es ihre Gedichte. In meiner Jugend, als ich begann, Gedichte zu schreiben, habe ich ihre avantgardistischen Schriften und ihre komplizierte Lebensgeschichte entdeckt, vom Bukarester literarischen Klatsch über sie erfahren. Was ich nicht wusste, war, wie und auf welche Weise alle diese zerstreuten Elemente zusammenpassen. Die Antwort hat mir bei den Dreharbeiten Ninas Persönlichkeit gegeben.

DB: Zu ihrer Literatur habe ich erst nach der Wende Zugang gehabt und ich habe alles gelesen, was sie geschrieben hat. Bis dahin wusste ich, dass sie die vornehme Freundin unserer Familienfreunde war. Ich hatte im Fernsehen ihre Ähnlichkeit zu meiner Großmutter aus Hermannstadt, die ich sehr liebte, bemerkt und sie sogleich ins Herz geschlossen, ohne als 10-jähriges Mädchen viel davon zu verstehen, was sie im Fernsehen redete. Nina Cassian war ein Eindruck, eine Stimme, ein Profil.

2010 habe ich sie in New York, beim „Making Waves“-Film-Festival, kennengelernt, bei der Aufführung des Dokumentarfilms „Autobiografia lui Nicolae Ceaușescu“ (Regie: Andrei Ujică). Ich war sehr aufgeregt. Ihre Hand war schön, knochig, ihr Körper schwach, aber ihr Blick war klar, spielerisch und schelmisch. Der direkte Kontakt war wie ein Stromschlag für mich.

Wie hat Nina Cassian reagiert, als du den Wunsch geäußert hast, einen Film über sie zu machen?

MN: Es war ihr gleichgültig. Sie hatte schon alles in ihren Memoiren („Memoria ca zestre“) geschrieben, was ihr wichtig gewesen war, und hatte keinen Film nötig, um sie in einem guten Licht darzustellen.
Mehr noch, als Künstlerin, die bei der Gestaltung einiger Filme mitgewirkt hatte, war ihr klar, dass der Film die Vision der Autoren über das Thema widerspiegelt, sodass sie sich nicht in den kreativen Prozess eingemischt hat.

DB: Ich kann nur annehmen, dass sie skeptisch war. Das geht aus mehreren Interviews hervor, die Mona geführt hat. Sie hat bezweifelt, dass ein reales Interesse für ihre Biografie existiert, weil sie alles in ihren Memoiren aufgeschrieben hatte. Außerdem hat sie befürchtet, dass erneut dieselben Fragen aufkommen werden, die ihr jahrelang gestellt wurden und die sich hauptsächlich auf ihr Intimleben bezogen. Mona hat aber das Wesentliche in Nina Cassians Erinnerung gesucht, die schon alle Schichten ihres Lebens geordnet und neu geordnet, ihre Vergangenheit bearbeitet und Frieden damit geschlossen hatte, sodass sie uns ihr Leben gut organisiert und sehr ehrlich vorstellen konnte. Ihre Antworten beinhalteten komplette Ideen, ganze Paragraphen.
Nichtsdestotrotz hat Mona weiterhin mit Geistesgegenwart, Humor und Ehrlichkeit ihre Interviews weitergeführt.

Erzählt uns etwas vom Dreh oder aus dem Schnittraum, das beeindruckend war.

MN: Ich habe noch den Tisch aus ihrem Zimmer wach in Erinnerung: zahlreiche Medikamente für allerlei Altersbeschwerden, nicht vollständig bearbeitete Manuskripte und Zeitungen aus New York und Bukarest – „Dilema“, die sie immer las, darauf die Gauloises-Zigaretten, die sie rauchte, der Aschenbecher, die Johnny-Walker-Flasche. Beeindruckend war auch, dass sie gegen Ende ihres Lebens das Bedürfnis hatte, wieder die erste Dichterin, Sappho, zu lesen.

DB: Nina Cassians Reaktionen beim Anblick des Archivmaterials haben mich sehr bewegt und ihre Antworten, die man von den Lippen ablesen musste. Das Gesicht des Menschen, der seine Vergangenheit bewertet, ist bewegend. Für sie war das Archivmaterial mit persönlichem Charakter, in dem sie Bekannte und ihr liebe Leute sehen konnte, besonders wichtig. Das hat in ihr energische Reaktionen ausgelöst und das war für mich erstaunlich und rührend.

Wusstet ihr von Anfang an, dass der Film eine Kombination von Archivmaterial und Bildern sein wird?

MN: Nur in gewisser Hinsicht. Wir wussten, dass wir die Spannung zwischen Archiv und Erinnerung im Film haben wollen und dass wir einen chronologischen Aufbau verfolgen werden, der sich auf das Emotionelle stützt. Den roten Faden und die Struktur haben wir aber nur im Schnittraum gefunden.

DB: Ja. Wir haben ausschließlich die im Jahr 2013 gefilmten Interviews, Archivmaterial von TVR (dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender) sowie vom ANF (Nationales Filmarchiv) und Ausschnitte aus den Dossiers des Rats für die Aufarbeitung der Securitate-Archive (CNSAS) benutzt. Ein klarer Entschluss war auch, nur Material mit Nina zu benutzen, kein Zusatzmaterial zum Bebildern oder Erläutern gewisser geschichtlicher Umstände, oder Material mit anderen Persönlichkeiten, die über Nina Cassian erzählen.

Wie seid ihr auf den Titel gekommen?

MN: Ich habe diese Formulierung in ihren Memoiren gelesen und sie für passend gefunden, weil sie den Kern des Projekts enthält. Wir haben kürzere Titel gesucht, die leichter zu „verdauen“ sind, aber dieser Titel passt doch am besten, weil er am ehrlichsten ist und das Wesentliche des Films enthält: unsere Absichten als Autoren, Ninas Stellung gegenüber der Vergangenheit und, so will ich hoffen, die Fragen, die wir nach der Betrachtung des Films mitnehmen.

Was ist euch nach dem Treffen mit Nina Cassian geblieben?

MN: Seit der Beendung der Dreharbeiten habe ich das Verlangen, ehrlicher zu mir selbst zu sein und zu versuchen, meine Grenzen zu durchbrechen. Nina hatte eine intellektuelle Begierde, die sie, auch im hohem Alter, geleitet hat. Sie hat mich gelehrt, Prioritäten im Leben zu setzen.

DB: Mit der Freude, eine außergewöhnliche Person, einen Menschen mit so vielen Facetten getroffen zu haben. Das bedeutet sehr viel für mich, weil sie mich innerlich bewegt und mir gezeigt hat, dass man im Leben Schritte nach vorne wagen muss. Ich kann nicht sagen, dass ich sie verehre, aber ich liebe sie sehr.
Warum sollen die Leute diesen Film sehen und was sollte ihnen bleiben?

MN: Ich finde, es ist ein Film, der in dir Fragen weckt und dich dazu bewegt, die Beziehung zu deiner eigenen Vergangenheit zu überdenken, die Beziehung zwischen Kunst und Macht und deine Beziehung zu dir selbst zu reflektieren. Es ist ein Ansporn zur Ehrlichkeit.

DB: Ich finde, in jedem einzelnen bewegt das Treffen mit einer so starken, angenehmen, humorvollen, intelligenten Persönlichkeit, wie Nina es ist (ich kann die Vergangenheit nicht benutzen, weil sie für mich noch lebt), eine Veränderung. Wenn das den Zuschauer dazu bewegt, ihr Werk in Antiquariaten und Buchhandlungen zu suchen und zu lesen, ist es wunderbar.
Ich lade die Leute ein, den Film auf großer Leinwand zu sehen, weil er eigens dafür gemacht wurde.

Mona, du bist Dokumentarfilmemacherin, Dana, du hast bei Dokus wie „Autobiografia lui Nicolae Ceaușescu“ mitgewirkt. Wie sieht die Dokumentarfilm-Landschaft in Rumänien aus?

MN: Sie sieht ganz gut aus. Seit Kurzem ist das Publikum am Dokumentarfilm interessiert und versteht dieses Genre. Und es kommen viele neue, tolle Stimmen auf, die Dokumentarfilme zu sehr vielfältigen Themen und mit unterschiedlichen Herangehensweisen gestalten, was ich für sehr gut halte. Das gibt mir Hoffnung, dass immer mehr Dokumentarfilme gemacht werden, soweit es Finanzierung dafür gibt. Leider gilt dieses Genre beim CNC (Rumänischen Filmzentrum) noch als Aschenputtel, das von den Resten der anderen Genres lebt, und das ist ein Problem. Nichtsdestotrotz kann ich nur sagen: Macht Filme, macht Filme, macht Filme!

DB: Es gibt sehr viele Themen und es gibt zweifelsohne immer mehr, die es wagen, Dokumentarfilme zu machen. Dass die Finanzierer, sprich CNC, dieses Genre nicht ausreichend unterstützen, ist ein Problem. Doch die technischen Fortschritte machen Filmen, Schnitt, Farb- und Tonbearbeitung leichter und mit geringeren Kosten als beim Spielfilm möglich. Die Gelegenheiten, Dokumentarfilm zu sehen, sind auch selten: bei den Dokumentarfilmfestivals (für Menschenrechte) One World Romania, in Bukarest, das „Astra“ in Hermannstadt und das „fArad“ in Arad, sowie das internationale Projekt zum Vertrieb von Dokumentarfilmen in alternativen Räumlichkeiten, KineDok. In Kinos werden Dokumentarfilme kaum ausgestrahlt, und auch dann nur, wenn sie Gewinne einbringen. Doch entwickelt sich der Online-Bereich zur Plattform der Ausstrahlung und Diskussion und dann wird es leichter sein, Dokumentarfilm zu machen und zu sehen, sich darüber zu unterhalten.

Herzlichen Dank für das Gespräch!