Die Folgen eines Präzedenzfalls

Das Krim-Referendum im Kosovo-Spiegel oder Quod licet Iovi, non licet bovi

Am Sonntag stimmten die Bürger der Republik Krim über ihre Zukunft ab. Das Referendum sollte die Unabhängigkeitserklärung vom 11. März des Parlaments entweder bestätigen oder ablehnen. Die Volksbefragung sowie ihre Ergebnisse wurden im Voraus von der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten von Amerika sowie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa für verfassungswidrig und illegal erklärt. Nichtsdestotrotz fand das Referendum statt und seine Ergebnisse sind mehr als klar: 96,6 Prozenten der Wähler haben für den Beitritt zu Russland gestimmt. Die Teilnahme am Referendum lag bei 82,71 Prozent.

Der Fall Kosovo

Der Morgen des 2. Juli 1776 zeichnete sich in Philadelphia durch angenehme 25 Grad Celsius (78 Fahrenheit) aus, wie Thomas Jefferson in seinen Aufzeichnungen vermerkte. An diesem warmen Sommertag entstand ein Staat, der heute von vielen als der mächtigste Staat der Welt betrachtet wird – die Vereinigten Staaten von Amerika. Erst zwei Tage später wurde der Beschluss der 13 Kolonien in einer Erläuterung, die nun als die Unabhängigkeitserklärung bekannt ist, moralisch und rechtlich legitimiert.
Wahrscheinlich beachteten die zehn Richter des Internationalen Gerichtshofes auch diese Trennung vom britischen Mutterland, als sie am 22. Juli 2010 den Beschluss fassten, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo von Serbien vom 17. Februar 2008 keine Verletzung des Völkerrechtes ist: „Während des achtzehnten, neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts gab es zahlreiche Fälle von Unabhängigkeitserklärungen, denen der Staat, von dem die Unabhängigkeit deklariert wurde, oft energisch entgegen gewirkt hat“, heißt es im Paragraf 79 des konsultativen Beschlusses. Weiter wird festgehalten, dass „kein generelles Verbot für einseitige Unabhängigkeitserklärungen aus der Praxis des UNO-Sicherheitsrates abgeleitet werden kann“ (Paragraf 81). Und schließlich steht es im Paragraf 84 schwarz auf weiß: „Das Gericht ist der Auffassung, dass das Völkerrecht keine anwendbaren Verbote für Unabhängigkeitserklärungen enthält“.
In einer schriftlichen Stellungnahme zur Frage, ob die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo dem Völkerrecht entspreche, behaupteten Vertreter der Vereinigten Staaten, dass „das Prinzip der territorialen Integrität nicht die Entstehung neuer Staaten auf dem Gebiet der bestehenden Staaten ausschließt“. Sowie: „Zweifellos kann die Unabhängigkeitserklärung, was auch oft passiert, den Landesgesetzen widersprechen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass sie auch das Völkerrecht verletzt“. Das galt also nach der Meinung des demokratischsten aller Staaten der Welt im Bezug auf das Zerschlagen der Republik Serbien.

Quod licet Iovi, non licet bovi

Am selben Tag, an dem das Krim-Parlament die Unabhängigkeit von der Ukraine erklärt hat (11. März 2014), teilte Didier Burkhalter, der amtierende Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und Außenminister der Schweiz, mit, dass das für den 16. März vorgesehene Referendum zur Frage der Unabhängigkeit „im Widerspruch zur ukrainischen Verfassung steht und als illegal betrachtet werden muss“.
Auch der US-Präsident, Barack Obama, teilt die Meinung des schweizerischen Außenministers. Er sowie die meisten westlichen Politiker und Kommentatoren sehen im Streben der Krim-Bevölkerung zur Unabhängigkeit keine Parallelen zum Kosovo. Von „sui generis“ sprach im Juni 2008 die damalige Außenministerin Condoleezza Rice. Ihr argentinischer Amtskollege Jorge Taiana meinte jedoch bereits im Februar, dass die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien „einen gefährlichen Präzedenzfall darstellt“. Der tschechische Präsident Vaclav Klaus sprach vom Öffnen der „Büchse der Pandora“. Noch vor der Unabhängigkeitserklärung sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow in einem Interview am 23. Januar 2008: „Dieser Präzedenzfall betrifft nicht nur Südossetien und Abchasien, sondern schätzungsweise weitere 200 Territorien auf der ganzen Welt. Wenn jemandem erlaubt wird, etwas zu tun, werden viele andere ähnliche Behandlung erwarten“. Sechs Jahre später erwartet es die Republik Krim. Man sollte nicht vergessen, dass Gewohnheitsrecht zum Völkerrecht werden kann und meistens auch wird.
Obwohl, und daran gibt es keine Zweifel, man die erschreckenden Ereignisse während des Jugoslawienkriegs nicht mit den Geschehnissen in der Ukraine und auf der Krim vergleichen kann, legitimiert gerade der Fall Kosovo das Referendum auf der Krim. Es gibt einen eindeutigen Beschluss des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, welcher es dem Krim-Parlament ermöglichte, die Unabhängigkeit zu erklären. Jedoch ging es auf der Krim, anderes als im Kosovo, weiter: Die endgültige Entscheidung trafen die Bürger beim Referendum, der zweifelsohne demokratischsten aller Möglichkeiten.

Die Demokratien sind dagegen

Sehr entschieden klang beim ersten Zuhören die Regierungserklärung zur Ukraine, welche die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 13. März im Bundestag vorlas. Sie erklärte ebenfalls, dass das Referendum der ukrainischen Verfassung widerspreche, dass Deutschland und die EU auf der Respektierung der UNO-Prinzipien bestehen, dass die heutige Situation auf der Krim „in keiner Weise mit der in Kosovo vergleichbar ist“. Die Bundeskanzlerin meinte sogar, dass der Bruch der grundlegenden völkerrechtlichen Prinzipien nicht einmal „dadurch legitimiert wird, wenn es andere Völkerrechtsverletzungen gegeben hätte“. Und das, nachdem sie den NATO-Alleingang gegen Jugoslawien und die Notwendigkeit der Unabhängigkeit des Kosovo mit Völkerrechtsverletzungen begründet hat. Eine Antwort bekam Merkel vom Oppositionsführer Gregor Gysi, der sie daran erinnerte, dass der legitime Präsident der Ukraine, Wiktor Janukowitsch, vom Parlament mit 72,88 Prozent der Stimmen abgewählt wurde, obwohl laut Verfassung dafür 75 Prozent notwendig sind. „Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagen, dass ein solcher Volksentscheid nach der ukrainischen Verfassung verboten ist. Wann gilt sie (die Verfassung) nun und wann nicht?“, fragte Gysi rhetorisch.

Russland erstarkt

Die einzige einigermaßen starke Reaktion, abgesehen von Protesten im Sicherheitsrat der UNO, die sich Russland während des Jugoslawienkriegs erlaubte, stellte ein in der Diplomatie bis dato einzigartige Vorfall dar. Am 24. März 1999 ließ der damalige russische Premierminister Jewgeni Primakow, der sich auf dem Weg in die USA befand, das Flugzeug über dem Atlantik wenden und kehrte nach Moskau zurück, nachdem er erfuhr, dass die Luftanschläge nicht mehr aufzuhalten seien. Damals war Russland nach dem Zerfall der UdSSR geschwächt und hatte einen zwar charismatischen, aber sehr schwachen Präsidenten. 15 Jahre später sitzt ein anderer Mann im Kreml, der vermutlich die „serbische Niederlage“ nie überwunden hat. Russland warnte 2008 davor, dass die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo zu schwerwiegenden Folgen führen wird. Bereits im August desselben Jahres zeigten sich diese im Konflikt um Abchasien und Südossetien. Nun erntet der demokratische Westen den Sturm, nachdem er den Wind gesät hat. „Niemand kann sich heute, im 21. Jahrhundert, darauf beschränken, nur seine eigenen Belange im Blick zu haben. Und wenn er das doch tut, dann schadet er sich selbst, über kurz oder lang“, sagte Merkel am 13. März. Das gilt für alle, auch für den Westen.

Der Westen droht mit Sanktionen

Bundeskanzlerin Merkel nannte drei Stufen der Sanktionen. Die erste ist bereits eine Tatsache: Suspendierung der EU-Russland-Verhandlungen über die Visafragen. Diese Verhandlungen scheinen bereits seit Jahren in einer Sackgasse angekommen zu sein und sollten Russland bei guter Laune halten, weil der Westen zum Beispiel auf die russische Hilfe bei der Lösung der Syrien-Frage angewiesen ist. Die zweite Stufe der Sanktionen sieht Einreise- und Kontosperren sowie die Absage des EU-Russland-Gipfels vor. Dieselben Maßnahmen wollen und werden auch die USA ergreifen. Einige Experten sind der Meinung, dass es sich dabei nur um Schaumaßnahmen handele. „Es ist weniger die Bestrafung Russlands, sondern mehr ein Alibi für den Präsidenten Obama, um seine viel zu harte Rhetorik mit irgendwelchen Taten zu unterstützen“, meint Dimitri Simes, Leiter des Zentrums für Nationale Interessen. Die dritte Stufe, die laut Merkel bei „besorgniserregenden Entwicklungen“ eintreffen wird, betrifft die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland. „Niemand von uns wünscht, dass es zu solchen Maßnahmen kommt“, sagte Merkel im Bundestag. Das stimmt: Bestrafen will man, nur weiß man nicht genau, wer es machen soll. Deutschland bezieht 39 Prozent seines ungedeckten Erdgasbedarfs aus Russland. Ungarn liegt bei 70 und Griechenland bei 54 Prozent. Bulgarien, die Slowakei, Finnland und Polen beziehen 100 Prozent des ungedeckten Gasbedarfs aus Russland. Der EU-Durchschnitt liegt bei 31 Prozent. Besonders die Europäer haben sich selbst an die russische Rohstoffquelle gesetzt, von der sie nicht so einfach abspringen können.
Die Sanktionen gegen Russland werden einen starken Rückschlag für die westliche, besonders die europäische Wirtschaft bedeuten. Vor den Folgen der Wirtschaftssanktionen warnen der Präsident des Außerhandelsverbandes, Anton Börner, sowie der Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken, Jürgen Fitschen. Auch der chinesische Botschafter in Deutschland, Shi Mingde, spricht von „unabsehbaren Folgen“, die für alle Seiten unangenehm wären. „Die Sanktionen sind keine Strategie. Es ist das Fehlen einer Strategie“, sagte einmal Henry Kissinger.