Die Hauptstadt entdecken ohne einen Schritt

Mini-Serie Bukarest – Teil 1: Rund um den Universitätsplatz

Denkmal vor dem Nationaltheater. Fotos: George Dumitriu

Universität für Architektur und Stadtplanung „Ion Mincu“

Constantin Brâncoveanu in der Kirche zum hl. Georg (Neu)

Colțea-Spital, gesehen durch das Einfahrtstor zum Bukarester Stadtmuseum (Șuțu-Palast)

Palast Șuțu, Sitz des Bukarester Stadtmuseums

Sightseeing ohne einen Schritt? Das muss ein Scherz sein! Und nein, es geht nicht um passiven Tourismus vor dem Fernsehgerät. Vielmehr soll demonstriert werden, wie dicht die Sehenswürdigkeiten in unserer Hauptstadt gesät sind: Nimmt man einen beliebigen Platz in der Innenstadt ein und dreht sich 360 Grad um die eigene Achse, hat man praktisch ein vollständiges Sightseeing-Programm vor Augen – noch ohne einen einzigen Schritt getan zu haben!

Zitternd bleibt die Nadel auf der Stadtkarte stecken. Getroffen: Universitätsplatz. Theoretische Beobachterposition: die Blumeninsel im Kreisverkehr, in der Realität natürlich nicht zu empfehlen. Doch als Mittelpunkt einer hypothetischen Uhr, nach der wir uns in Soldatenmanier orientieren, nahezu ideal: Vor uns liegt im Norden „zwölf Uhr“. Bereit für eine spannende Zeitreise?

Der Armenier, der Bukarest veränderte

Blickrichtung „fünf vor 12 Uhr“: Vor uns erhebt sich das Gebäude der Universität für Architektur und Stadtplanung „Ion Mincu“, 1912-27 erbaut, Werk des berühmten Architekten Grigore Cerchez (1850-1927), dem die Hauptstadt gleich mehrere bedeutende Gebäude verdankt, unter anderem das Odeon-Theater, einen Teil des Cotroceni-Palasts oder die Fassade des Museums „Grigore Antipa“. Der Baumeister gehörte der armenischen Minderheit an und war Verfechter des rumänischen Baustils, obwohl er in Paris studiert hatte.

In der Universität „Ion Mincu“, Nachfolgeinstitution der 1904 gegründeten höheren Schule für Architektur, wird nicht nur Baukunst gelehrt, sondern auch deren Geschichte bewahrt. Das Museum verfügt über ca. 900 Exponate seit 1916: Projekte von Studenten, Modelle berühmter Gebäude, Fragmente von den Demolierungen der 80er Jahre. Generationen von Studenten und Professoren befassten sich hier mit dem Studium der Entwicklung der rumänischen Architektur. Eine der berühmtesten Studentinnen: Anca Petrescu, Chefarchitektin des zweitgrößten zivilen Verwaltungsgebäudes der Welt, des heutigen Parlamentspalasts.

Vom Bombenangriff zum roten „Röhrenpilz”

Drehen wir uns mit dem Minutenzeiger auf „zehn nach 12 Uhr“: Vor uns liegt das moderne Gebäude des nationalen Staatstheaters „Ion Luca Caragiale“: Das karminrote Dach erinnert an einen überreifen Röhrenpilz – ein absoluter Hingucker! Davor ein Ensemble amüsanter Bronze-Figuren: Der Namensgeber des Theaters, sitzend, blickt auf einen Wagen voller Charaktere aus seinen eigenen Werken. Ihre Gesichter ähneln den Schauspielern, die sie auf der Bühne verkörperten.
Die Institution datiert auf 1852 zurück, doch lag das alte Nationaltheater auf der Calea Victoriei. 1944 von deutschen Fliegern zerbombt – eigentlich sollten sie den Telefonpalast treffen - konnte es nicht mehr gerettet werden. Doch eine Replik der alten Fassade wurde in den modernen Glasbau des Novotel sehr geschmackvoll integriert. 1973 entstand dann das neue Theater am Universitätsplatz, das den Beinamen Caragiales erhielt. 1978 durch einen Brand teilweise zerstört, wurde es in den letzten Jahren auf internationalen Standard gebracht.

Armenspital mit schwedischem Turm

In Blickrichtung „fünf vor halb Eins“ liegt das rot-weiß gestreifte Gebäude des Colțea-Spitals. Man kann es schon aufgrund seiner Architektur nicht übersehen. Nicht minder faszinierend seine Geschichte: Der Name Colțea geht auf eine Bukarester Familie zurück, die zur Zeit Brâncoveanus (1698-1714) dieses Stadtviertel dominierte. Stifter des Spitals ist Mihai Cantacuzino (1640-1716), Schwertführer am walachischen Fürstenhof, der 1704 ein Armenkrankenhaus hinter der Kirche des Klosters Colțea eröffnete – das erste Spital der Walachei! Behandelt wurden dort Bettler, Bedürftige und Fremde. Neben einem 24-Betten Trakt wurden mönchszellenartige Unterkünfte und eine Schule für die rumänische und die slawonische Sprache eingerichtet. Finanziert wurde das Projekt aus den Einkünften des Wirtshauses Colțea und des Klosters, beide ebenfalls von Mihai Cantacuzino gegründet, sowie aus Spenden mildtätiger Bojaren.

1709-1714 erbauten Soldaten des schwedischen Königs Karl XII. einen Glockenturm von über 50 Metern, den damals höchsten der Stadt, für die Kirche. Der Colțea-Turm, dessen Baukunst in höchsten Tönen gerühmt wurde, fiel leider dem Erdbeben 1802 zum Opfer. Die 1700 kg schwere Glocke krachte herunter und begrub einen fliegenden Händler unter sich. Sie wurde ins Kloster Sinaia verbracht - auch eine Stiftung von Mihai Cantacuzino. Teile des Colțea-Turms - zwei Konsolen der Balustrade - kann man noch im Lapidarium im Hof des Stavropoleos Klosters in der Bukarester Altstadt bestaunen. Die Grundmauern des Turms liegen heute unter der Fahrbahn des Bv. Bratianu auf der Spur in Richtung Piața Unirii. Eine Zeit lang markierte ein Viereck aus weißen Steinen vor dem Șuțu-Palast den Grundriss.

Warum aber wurde der Turm von schwedischen Soldaten errichtet? In „Geschichte des transalpinischen Daciens“ (Sulzer Verlag Wien 1787) wird erzählt, Brâncoveanu hätte die Soldaten Karls XII beherbergt, die sich nach der verlorenen Schlacht von Poltava auf dem Rückzug befanden.
Interessant ist, dass 1712 eine schwedische Postlinie vom Exil König Karls XII in Bender (Osmanisches Reich) über Jassy, Honigberg und Kronstadt führte. 1710 besuchte eine schwedische Delegation Honigberg und überbrachte der dortigen Kirche als Dank eine Geldspende, von der Orgel und der Altar finanziert wurden. Eine ähnliche, aber unbestätigte Geschichte gibt es auch über den Colțea-Turm: die Schweden sollen ihn aus Dankbarkeit erbaut haben.

Eine andere Theorie hingegen besagt, der Turm sei von den Rückkehrern des Regiments der „Walloschen“ erbaut worden: Walachen, die als Söldner König Karls XII von Schweden an der Schlacht von Poltava teilgenommen hatten. Ihr Kommandant soll ein Sandu Colțea gewesen sein, der vermutlich aus diesem Bukarester Viertel stammt. In den Bau kann er jedoch nicht selbst impliziert gewesen sein, denn er war für zehn Jahre in russische Kriegsgefangenschaft geraten.
Der Historiker G. I. Ionnescu-Gion beschreibt das Colțea-Spital, basierend auf einem Dokument von 1732, als sauber und gut geführt. Jene die dort sterben, werden vom Kloster auf eigene Kosten begraben, egal welcher Religion, wunderte er sich. Nach dem Erdbeben von 1802 bleibt auch von dem Krankenhaus nur eine Ruine. 1837-42 wird nach Plänen des Architekten Heinrich Feiser ein neuer Bau errichtet - mit 60 Betten, bis 1849 sogar 150. Dort entsteht die erste Schule für „kleine Chirurgie“ und 1852 schließlich die erste Fakultät für Medizin.

Die Schule für Slawonisch blieb übrigens bis ins 18. Jh bestehen. Generationen von Diakonen und Kantoren wurden dort ausgebildet, bis endlich das Rumänische als Kultsprache anerkannt wurde.1867-1888 wird das Spital nach Plänen des holländischen Architekten Joseph Schiffler erneut völlig umgebaut.
Nur wenige Schritte vom Colțea Spital entfernt liegt in Blickrichtung die orthodoxe Kirche des Hl. Georg dem Neuen. Das von Constantin Brâncoveanu anstelle einer älteren Kirche neu erbaute, wegen seiner prächtigen Innengestaltung sehr sehenswerte Gotteshaus, wurde 1707 im Beisein des Patriarchen von Jerusalem geweiht. Sechs Jahre nach Brâncoveanus Hinrichtung in Konstantinopel 1714 ließ seine Gattin Marica dessen sterbliche Überreste, von treuen Christen heimlich aus dem Bosporus gerettet und versteckt, in dieser Kirche bestatten.

Gleich daneben liegt die katholische Bărăția-Kirche, deren merkwürdiger Name sich von „brat“ - Bruder auf slawonisch - ableitet. Als Bărăția bezeichnete man im Mittelalter sämtliche katholischen Klöster und Kirchen im Süden und Osten der Karpaten. Die Bukarester Bărăția stammt aus dem 17. Jh. und gilt als ältestes katholisches Gotteshaus der Stadt. Es wurde mehrmals von Bränden und Erdbeben zerstört und von lokalen Gläubigen und bulgarischen Händlern wieder aufgebaut. Der aktuelle Bau datiert auf 1848.

Rauschende Bälle im Haus des Griechen

Auf unserer imaginären Uhr drehen wir auf „10 nach halb Eins“: Im Blickfeld liegt nun das schmucke Gebäude des Bukarester Stadtmuseums, der Șuțu-Palast. Als eins der ältesten und am wenigsten veränderten Bojarenhäuser hat es gut 180 Jahre auf dem Buckel. Seinen Namen verdankt es Costache Șuțu, dem Nachkommen einer griechischen Familie aus Epirus, dessen Ehefrau dort rauschende Bälle gab. Sie sollen sogar denen des Königspalasts Konkurrenz gemacht haben.
Der Familie Șuțu entstammten mehrere Fürsten der Walachei und der Moldau aus der Phanariotenzeit. In dieser - zwischen 1711 (Moldau) bzw. 1715 (Walachei) und 1821 - hatten die einheimischen Bojaren nicht mehr das Recht, einen Fürsten aus ihren Kreisen zu wählen. Statt dessen setzten die Osmanen Phanarioten an die wichtigen Posten in Armee, Diplomatie und Regierung: So nannte man byzantinische oder osmanische Adelsfamilien im Osmanischen Reich des 17. bis 18. Jh, die im Stadtteil Phanar von Konstantinopel die Oberschicht bildeten .

Die Pläne des 1833-1835 erbauten Șuțu-Palastes entstammen den Wiener Architekten Conrad Schwink und Johann Veit. 1956 wurde das Gebäude Sitz des Bukarester Stadtmuseums und beherbergt nicht nur eine beeindruckende Sammlung zur Stadtgeschichte, sondern gehört auch zu den lebhaftesten Veranstaltungsorten.
Wir haben unser 360-Grad-Sightseeing-Programm vollbracht. Na, schwindlig geworden auf der Blumeninsel? Dann tun jetzt vielleicht doch ein paar Schritte zu Fuß ganz gut.