Die Lehre Senecas wieder beleben

Das erste Anti-Café Rumäniens wird nach stoischen Prinzipien geführt

Das Anti-Café wurde im November 2014 eröffnet.

Ştefania Oprina mit dem Mond von Leonid Tishkov.

Jeden zweiten Sonntag wird ein Workshop für Kinder zum Thema Ökologie organisiert.
Fotos: Aida Ivan

Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen. Für den Stoiker, der als einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit gilt, war Philosophie ein Haus, in dem er lebte. Als ein Haus, wo die Prinzipien der Stoiker ans Licht gebracht werden, hat sich das Bukarester Seneca-Anti-Café in der Ion-Mincu-Straße etabliert. Ursprünglich gab es nur den Seneca-Verlag, der sich als Ziel setzte, ausschließlich Werke des Philosophen zu veröffentlichen. Der Verlag und das Anti-Café sind eng miteinander verbunden, gehören zu demselben Verein und haben dasselbe Ziel. „Ein gemeinsamer Nenner ist die Ökologie“, sagt Ştefania Oprina, eine derjenigen, die viel Zeit in das erste rumänische Anti-Café investiert haben.

Die Idee hinter dem Anti-Café

Seit anderthalb Jahren gibt es das Anti-Café Seneca, wo Verantwortungsbewusstsein, Umweltschutz und die stoischen Prinzipien die erste Geige spielen. Das Konzept ist in mehreren osteuropäischen Ländern bekannt, wo es unter verschiedenen Formen erschienen ist. Erst einmal haben die Gründer des Seneca-Anti-Cafés im Internet gründlich recherchiert. Das rumänische Anti-Café hat einige Merkmale von den ausländischen Anti-Cafés übernommen. „Wir wollten, dass es ein Ort ist, wo Menschen Zugang zu Büchern haben. Es hat sich viel durch die Reaktion der Menschen entwickelt. Wir werden zu dem, was die Leute sich von uns wünschen. Unser Ziel ist, ihnen zu helfen“, lächelt Oprina. Das erste Anti-Café in Rumänien richtet sich nach Büchern, Wissen und Ökologie und will die Leute daran erinnern, dass Zeit das wichtigste Gut ist.

Das Anti-Café funktioniert als Buchhandlung und Bibliothek, als Teehaus und Hub, als Co-Working-Büroplatz oder Meeting-Raum, letztendlich als Plattform für Menschen, die arbeiten. Die Atmosphäre ist ganz entspannt, man hat Zugang zu einem Wlan-Netzwerk, Projektor, Drucker, Light-Desk und Scanner, Büchern, Laptops und Computern, Fachzeitschriften und Brettspielen. Hier gelten aber andere Regeln: Nicht für die Snacks oder die vielen Ressourcen bezahlt man, sondern für die Zeit, die man dort verbringt. So lernt man, die Zeit besser zu nutzen. „Das funktioniert sehr gut. Wenn man weiß, dass man für die Zeit zahlen muss, dann wird diese wirkungsvoller eingesetzt“, meint Oprina. Sie erzählt von einer Frau, die ihnen eine Uhr geschenkt hat, die gegen den Uhrzeigersinn tickt. „Weil sie Zeit bei uns gewonnen hat. Wenn man zu Hause ist, dann räumt man ein bisschen auf, bevor man zu arbeiten beginnt oder man macht etwas anderes. Hier weiß man, dass man die Zeit bezahlt und verschwendet sie nicht mehr. Es ist auch sehr ermutigend, wenn alle um dich herum arbeiten“, fügt sie hinzu.

Ein Zuhause für Bücher und Leser

Eine Oase für Bücherwürmer: Es gibt ein paar Tausend Bücher auf Rumänisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch, die meisten aus den Bereichen Philosophie, Psychologie, Selbsthilfe – alles, was den Leuten helfen kann. Der Verlag und das Anti-Café wollen das mit allen Mitteln erreichen, durch das Veröffentlichen von Büchern, Periodika und Broschüren, durch die Förderung von Büchern, durch Organisieren von erzieherischen Veranstaltungen. „Wenn man diesen Ort verlässt, soll man besser sein. Ich wünsche mir, dass wir Sir Ken Robinson (Anm.: britischer Autor und international geachteter Berater in der Gesellschaftsentwicklung zu Innovation und Humanressourcen) hierher bringen“, sagt Ştefania Oprina.

Einen besonderen Platz im Anti-Café haben die Bücher, die im Seneca-Verlag erschienen sind. Diese befinden sich am Eingang, wo man eincheckt. Geht man hinein, so nimmt man eine andere Identität an, durch ein Lesezeichen, das man erhält. Unten auf dem hölzernen Lesezeichen steht „Ich habe heute auf dich gewartet“, mit der Unterschrift eines berühmten Schriftstellers wie Thomas Mann, Immanuel Kant oder Wolfgang Goethe.

Gelbe Tulpen, überdimensionierte Wanderpinguine, ein reisender Halbmond, hängende Papierhäuser: Man betritt den großzügigen Raum, in dem die Bücherregale die Wände völlig bedecken. Das Anti-Café wurde so eingerichtet, dass man sich wie zu Hause fühlt. Es gibt sogar eine Küche, damit man sich selbst mit Keksen, Obst, Gemüse oder Tee bedient, die zur Verfügung gestellt werden. „Wir hängen ab und zu Rezepte für Salate auf. Es gibt eine Menge Salate, die man sehr schnell machen kann. Wir hatten viele Veranstaltungen, die zeigen, wie man vegan kocht, die waren sehr erfolgreich“, erinnert sich Oprina. Essen oder nicht-alkoholische Getränke kann man von Zuhause mitbringen, oder im benachbarten Supermarkt oder Speiselokal kaufen. Zum Aufwärmen oder Kühlen stehen eine Mikrowelle und ein Kühlschrank zur Verfügung.

Neben der Küche haben die Kunden einen anderen Raum, wo man in aller Ruhe lernen oder arbeiten kann. Ein weiteres kleines Zimmer wird für Therapiesitzungen, Privatunterricht oder Skypegespräche benutzt. „Das System ist einfach, am Anfang des Monats kleben wir an die Tür einen Kalender, in den die Leute schreiben, wann sie den Raum brauchen. Manchmal überlappen sich die Zeiten, dann lösen Menschen solche Probleme alleine, ohne unsere Hilfe. Es ist wunderbar, Leute freunden sich hier sehr leicht an“, meint Oprina. Erwartet haben die Gründer auch nicht, dass man das Anti-Café als Ort für Therapiesitzungen benutzen würde. Der Ort kann sich ständig ändern, je nach Bedürfnis der Kunden. Akkus, Handcreme und Schmerztabletten – hier kann man auch so etwas finden. „Mir fällt nichts ein, was noch fehlen könnte. Wir haben alles Mögliche“, sagt Oprina nachdenkend. „Wir haben sogar ein Lineal für Architekten gekauft, damit sie nicht mehr das eigene mitbringen müssen“, ergänzt sie.

Ein Mehrzweckraum

Im Laufe der Zeit wurden viele Psychologie- und Philosophieveranstaltungen und Workshops organisiert. Das Motto: Alles, was der persönlichen Entwicklung des Menschen helfen könnte, ist willkommen. Die Interessenten sind viele und verschieden - Freiberufliche, Kinder und Jugendliche, Omas und Opas, Intellektuelle u.a. „Für die Veranstaltungen haben wir viele Bereiche ausprobiert, um zu sehen, was bei dem Publikum ankommt. Die Menschen hier kommunizieren sehr gut, unsere Rolle wurde immer kleiner. Die Interaktionen sind sehr schön und natürlich, weil der Raum so gestaltet ist“, meint Oprina.

Organisiert wurden im Anti-Café Seneca zwei kleine Ausstellungen. Der Fotograf Leonid Tishkov reiste um die Welt mit seinem Mond und fotografierte ihn. Ein paar Fotografien, die in Rumänien geschossen wurden, werden hier gezeigt. Dazu gibt es ein Ökomuseum: „Da haben wir informative Plakate zum Thema Ökologie und Kompost und es wird gezeigt, wie viel Müll eine Familie in drei Wochen produziert.“ Im Anti-Café Seneca sortiert man den Müll, die Gründer möchten sogar eine Müllpresse einrichten. Gearbeitet wird gerade an einer Partnerschaft mit dem Tudor-Vianu-Gymnasium, auf diese Weise können die Schüler eine Menge über Wiederverwertung und Ökologie lernen.

Am Anfang kamen die Schüler hierher, um die Zeit an einem warmen Ort beim Schwänzen zu verbringen. „Wir haben ein Landkarte-Puzzlespiel aus Holz, irgendwann hatten sie ein paar Stunden und wollten das Rätsel lösen. Jeder, der vorbeikam hat ihnen ein bisschen geholfen, sie wollten nicht schummeln. Nach dem Spiel haben sie mit Bücherlesen weitergemacht. Jetzt kommen sie nach dem Schulprogramm in großen Gruppen und schreiben ihre Hausaufgaben zusammen. Der Ort erreicht sein Ziel“, betont Oprina. Organisiert wurde auch ein „Tisch der geschickten Hände“, wo Interessierte praktische Sachen lernen können, wie man strickt, wie man Seife macht, wie man Origami faltet.

Mihai T. arbeitet im Büro

Es ist Spätnachmittag im Anti-Café, die Kunden sind vertieft in ihre Aktivitäten. Auf dem Tisch haben die meisten einen warmen Tee und ein Buch, dazu gedämpfte Musik, die den Raum füllt. Das Anti-Café ist mit allerlei Holzelementen in natürlichen Farben geschmückt. Mihai T., ein groß gewachsener Mann mit tiefer Stimme, ist Stammkunde und hat ein Abo. Er ist in der Werbebranche tätig und arbeitet hier jeden Tag, sogar am Wochenende. Für seine Firma suchte er schon 2014 einen Sitz zum Mieten und das Anti-Café wurde gerade eröffnet. Er macht gerade eine kleine Pause. Mihai T. spricht über seine Gewohnheiten am Arbeitsplatz: Jeden Tag um 9.30 Uhr kommt er hierher und geht nach ungefähr zehn Stunden nach Hause. „Es ist ein freundlicher Raum, wie ein Hub, man kann andere Leute in die eigenen Projekte einbeziehen oder umgekehrt“, sagt er. Die Räume benutzt er in verschiedener Weise: Es hängt davon ab, in welcher Etappe des Projektes er sich befindet. Wenn er ein Projekt entwerfen muss, dann braucht er Ruhe und geht in den Studienraum. Wenn er mit seinem Team etwas zu besprechen hat, dann benutzt er den Freiraum.

Wenn er mit Partnern und Lieferanten spricht, geht er in den kleinen Raum, der für zwei Personen konzipiert wurde. „Manchmal habe ich so viel zu tun, dass ich gar keine Zeit zum Essen habe“, sagt er ernst. Mihai will bald auch sein Kind ins Anti-Café mitbringen.

„Viele haben ihr offizielles Büro hier und ein Abo für 30 Tage. Sie haben uns darum gebeten, das Anti-Café um 9 Uhr zu öffnen, damit sie von 9 bis 5 arbeiten können“, erklärt Oprina die Änderung der Öffnungszeiten. „Wir möchten zukünftig, dass Leute hier einchecken, denn viele freie Mitarbeiter benutzen diesen Raum als Büro. Es wäre gut, wenn sie sich auf der Seite einloggen, dann wird dort angezeigt, wie viele Architekten da sind, oder Übersetzer oder Designer, falls man sie für irgendein Projekt braucht“, meint Oprina.