Die Novellierung des Nichts

Das Dauer-Diktat der ständigen Reform/ Warum braucht Rumänien eine neue Verfassung?

Die 1991 in Kraft getretene Verfassung Rumäniens, die siebente in der Geschichte dieses Landes, steht kurz vor ihrer zweiten Novelle, nachdem sie bereits vor zehn Jahren einer ersten Änderung unterzogen wurde. Der einschlägige Parlamentsausschuss hat seine Tätigkeit beendet. Ein sogenanntes Verfassungsforum hat in verschiedenen Städten des Landes getagt. Es beteiligten sich Vertreter der rumänischen Rechtsschule, der Zivilgesellschaft, der Lokalbehörden, der Orthodoxen Kirche und anderer Interessengruppen. Im Fernsehen und in den Zeitungen wird das Thema am Rande, aber dennoch diskutiert. Der Ausschuss, dem das Verfassungsforum als eine Art wissenschaftlicher Beirat zur Seite stand, musste den Entwurf der neuen Verfassung rasch fertigstellen, sodass das Volk bis Jahresende per Referendum seine Meinung äußern und die Novelle in Kraft treten kann. So der Wunsch der regierenden Sozial-Liberalen Union.

Eine lange Vorgeschichte

Die rumänische Gesetzgebung nach der Wende ist ein riesiges Sammelsurium von Kuriositäten. Die Produktion an Gesetzestexten, Verordnungen, Beschlüssen, Erlässen und Anwendungsnormen ist beeindruckend. Das verwirrende Ausmaß des sich in Kraft befindenden Rechtsrahmens beruht auf der einfachen, jedoch grundfalschen Annahme des Gesetzgebers von gestern und von heute, dass Schuld an der Misere in der rumänischen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft allein das Gesetz trägt, sodass es abgeändert werden muss, damit der eine oder andere Bereich besser funktionieren kann. Das versteht man in Rumänien unter Reform.

Diese Annahme hat zu einem Wettbewerb in der Gesetzgebung geführt. Die Öffentlichkeit fordert unaufhörlich andere oder neue Gesetze und der Gesetzgeber antwortet entsprechend auf diese Forderung: Er produziert fortwährend Rechtsnormen, ersetzt alte mit neuen, schafft Texte ex nihilo oder lässt einfach Gesetze übersetzen, vorzugsweise aus Frankreich, aber inzwischen – wie teilweise in dem 2011 in Kraft getretenen neuen Bürgerlichen Gesetzbuch zu sehen ist – auch aus dem angelsächsischen Raum mit seiner Common-Law-Tradition. Es verfestigt sich somit der Eindruck, dass das Land nie über genug Gesetze verfügt und dass diese nur so lange gut sind, bis sie in Kraft treten. Sobald sie rechtskräftig geworden sind, müssen sie erneuert werden. In der Tat, sie werden es auch. Ein Beispiel: Das 1995 angenommene Bildungsgesetz wurde bis 2011, als eine vollkommen neue Regelung in Kraft trat, nicht weniger als 56 mal geändert.

Zurück zur Verfassung. Auch wenn sich in den letzten 20 Jahren rumänische Gesetze am laufenden Band änderten, schien das wichtigste Gesetz des Landes doch stabil zu bleiben. Zum ersten Mal tauchte der Gedanke auf, das 1991 entworfene Grundgesetz zu ändern, als Rumänien die ersten wirklichen Schritte in Richtung EU und NATO unternahm: nach dem Jahr 2000. Es hieß damals, man müsse die Verfassung novellieren, weil es der EU-Beitritt fordere. Die alte Verfassung hätte allerdings den Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union problemlos erlaubt. Einen Widerspruch zwischen der Verfassung und dem 2005 unterzeichneten Beitrittsvertrag gab es nicht. Kein Verfassungsrechtler konnte einen solchen Widerspruch entdecken.

Der wahre Änderungsgrund war 2003 ein anderer: Zwar hatte man den Rahmen der Rechte und Freiheiten erweitert, dem Recht auf Eigentum durch eine andere Wortwahl als 1991 eine erweiterte Garantie zugesichert, zusätzliche Rechte in die Verfassung aufgenommen, die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen in Verfassungsrang erhoben und die Wehrpflicht aufgehoben. Doch in Wirklichkeit ging es um die Erweiterung der Amtszeit des Präsidenten von vier auf fünf Jahre, um dem sich damals als eindeutiger Wahlsieger gerierenden Adrian N²stase ein Jahrzehnt an der Staatsspitze zu ermöglichen. Wie in Rumänien üblich, ist es anders gekommen. Der jetzige Entwurf kürzt die Amtszeit des Präsidenten auf vier Jahre. Ein Jahrzehnt unter Traian B²sescu war für viele eine bittere Lektion.

Übrigens: Um den wirklichen Zweck der Novelle in der einschlägigen Debatte untergehen zu lassen, hat das damalige Parlament eine heftige Diskussion entfacht, in dem es ein Kuriosum in Art. 20 Abs. 2 schreiben ließ, wonach in Rumänien die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO sowie andere internationale Abkommen (wie z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention) Vorrang genießen, es sei denn, die Verfassung oder andere Gesetze würden höhere Schutzstandards bieten (?!?).

Fünf Jahre nach der Verfassungsnovelle von 2003 ist eine vom Präsidenten ins Leben gerufene Kommission zum Schluss gekommen, dass der Text erneut revidiert werden müsse, weil der Staat wegen des fortwährenden Konflikts zwischen Präsident Băsescu und Regierungschef Tăriceanu seine Funktionsfähigkeit eingebüßt hätte. Das war 2008.
Drei Jahre später leitete der Staatschef die Verfassungsnovellierung ein, aber das damalige Projekt, von der Emil-Boc-Regierung und der PDL selbstverständlich unterstützt, hatte mit dem Bericht der Präsidentschaftskommission von 2008 nichts Gemeinsames. Nun hieß es, dass das Zweikammersystem abgeschafft werden müsse, weil das Parlament die Gesetzgebung, sprich die ausufernde Produktion von Gesetzestexten, durch seinen komplizierten und kostspieligen Aufbau erschwere. So meinte der Präsident. Und das Volk folgte ihm brav, sprach sich 2009 im Rahmen eines Referendums für ein Einkammersystem sowie für eine begrenzte Zahl von Parlamentariern aus.

Allgemein gültig ist aber, dass ein Land nicht viele Gesetze braucht, sondern wenige und gute. Gesetze sollten eher selten als oft entstehen; dass der Gesetzgeber sich mit dem einen oder anderen Text müht und nicht nach den Regeln des schnellen Feuerwehreinsatzes arbeitet, ist wohl nichts anderes als eine Garantie für die Freiheit der Bürger, weil es ihren Rechtsschutz gewährleistet. Weder 2003 noch 2008 oder 2011 war also klar, warum eigentlich die Verfassung geändert werden muss. Auch war nicht ersichtlich, welche Philosophie der geplanten Novelle zugrunde liegt, was für einen Gesellschaftsentwurf der Gesetzgeber vor Augen hat, wenn er besagte Änderungen plant. Zwar entdecken die Verfassungsväter den einen oder anderen angeblichen Funktionsfehler im Staatsgetriebe, den es zu korrigieren gilt, doch waren und sind sie nicht imstande zu erklären, was für eine Gesellschaft sie sich vorstellen und warum ihr Projekt eine bestimmte Verfassungsformel und nicht eine andere benötigt. Dies gilt auch für die jüngste Novelle, jene der Sozial-Liberalen Koalition.

Bedeutungsloses im Mittelpunkt

Ausführlich wurden der rumänischen Öffentlichkeit Themen aus den Kochtöpfen des Parlamentsausschusses vorgetragen, die entweder mit dem Sinn und Zweck einer Verfassung im Grunde genommen gar nichts zu tun haben oder, wenn sie es doch tun, von nachrangiger Bedeutung sind. Und somit wurde das Vorhaben der Lächerlichkeit preisgegeben. So zum Beispiel die Ehe, die der rumänische Gesetzgeber als Gemeinschaft zwischen Mann und Frau definiert – eine juristische Institution, die in das Bürgerliche Gesetzbuch gehört und nicht in die Verfassung. Oder die Einführung einer Präambel, in der es um die bedeutende Rolle des Königshauses, der Orthodoxen Kirche sowie der anderen Konfessionen in der Nationswerdung der Rumänen geht. Um welche Konfessionen handelt es sich denn? Um alle anderen, die der rumänische Staat anerkennt, oder nur um einige davon? Schwer zu sagen. Eine Antwort auf diese Fragen wäre aus der Perspektive des reinen Verfassungsrechts eher sinnlos, denn solche Präambeln haben in concreto keinen Zweck. Sie gleichen vielmehr einer zweckentleerten Proklamation. Große Worte, null Effekte.

Seit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán seinem Lande eine Verfassung fast aufgezwungen hat, an deren Anfang etwas über die bedeutende Beziehung zwischen Gott und den Magyaren steht, drohen solche Formulierungen Mode zu werden. In Rumänien hat man bereits durch die erste Novelle 2003 eine derartige Floskel in die Verfassung aufgenommen. Gesprochen wird seitdem in Art. 1 Abs. 3 von den demokratischen Traditionen des rumänischen Volkes und den Idealen der Revolution vom Dezember 1989, in deren Geist man Werte wie die Menschenwürde, die Rechte und Freiheiten sowie die freie Entwicklung des Bürgers, die Gerechtigkeit und den politischen Pluralismus zu verstehen habe. Kein rumänischer Verfassungsrechtler konnte bislang überzeugend erklären, was man – bevor man all jene Werte interpretiert – unter den demokratischen Traditionen des rumänischen Volkes und den Idealen der 1989er Revolution zu verstehen hat.
Eine, zugegeben schrullige, Bemerkung: Von den sechs Verfassungen, die es in Rumänien bis 1989 gab, bauen nur die ersten zwei, jene von 1866 und 1923, auf einen demokratischen Grundgedanken auf. Also hätte sich der Gesetzgeber von 2003 aus der Verfassung von 1923 inspirieren lassen oder diese in ihrer Gänze gleich übernehmen können, wenn ihm die demokratischen Traditionen des rumänischen Volkes so teuer waren...

Die ständige Reform

In der gegenwärtigen Diskussion hat man das Projekt von 2011 sowie die Empfehlungen des Präsidentschaftsausschusses von 2008 größtenteils aufgegeben. Der Novellierungsausschuss hat den Gedanken des Einkammersystems übergangen, will aber die Reform des Machtgefüges vorantreiben. Ohne jedoch von Anfang an deutlich zu bestimmen, was er für eine Republik haben möchte. So werden die Beziehungen zwischen Parlament, Präsident und Regierung neu geregelt. Ob aber die Arbeit dieser Institutionen dann tatsächlich besser wird, ist unklar. Aus der belgischen Verfassung übernimmt man nun eine Norm, wonach im Falle, dass das Parlament den Präsidenten seines Amtes enthebt, sich die Bürger per Referendum aber gegen dessen Absetzung aussprechen, die Volksvertretung als aufgelöst gilt. Neuwahlen stünden an. Im Grunde richtig und recht, doch würden in einem solchen Szenario die Abgeordneten nicht ein Auge zudrücken, egal was das Staatsoberhaupt anstellt, nur um die Auflösung ihrer selbst zu vermeiden? Viele solche Fragen könnten gestellt werden. Das Projekt, mit dem sich das Parlament im Herbst beschäftigen wird, birgt zahlreiche Risiken, die jedoch von der Öffentlichkeit kaum beachtet werden. Zugegeben: Viele sind rein juristische und deshalb eher schwer verständliche Angelegenheiten, doch sie könnten verheerende Wirkungen haben, sollten sie nicht rechtzeitig diskutiert und entfernt werden.

Schlussfolgernd: Solange der Gesetzgeber nicht von einzelnen Personen absieht und sich nicht auf den reinen Aufbau von Institutionen konzentriert, bzw. im Vorfeld klar definiert, was für ein Staat Rumänien sein soll und mit welchem gesellschaftlichen Entwurf dieser Staat ausgestattet werden soll, handelt es sich auch bei dieser Verfassungsnovelle um ein Gemisch aus kurzfristigem Denken, hochtrabender Wortwahl und unglücklichen Regelungen. Novelliert wird das Nichts. Der nächste Feuerwehreinsatz des Gesetzgebers ist vorprogrammiert. Gab es vor der Wende den berühmt-berüchtigten Satz von der ständigen Revolution als Teil der kommunistischen Doktrin, so leben die Bürger jetzt unter dem Dauer-Diktat der ständigen Reform.