Die schwerste Woche seiner Jugend

Johann Gabel aus Marpod erzählt von Aushebung und Flucht aus dem Arbeitslager im Schiltal

Das Ehepaar Anna und Johann Gabel feierte am 23. Juli diamantene Hochzeit.

Blick auf das Dorf Marpod im Harbachtal.
Foto: Holger Wermke

„Es war Mitte Februar im Jahr 1945.“ So begann Johann Gabel seine Erzählung über eine für ihn wichtige Episode in seinem Leben. Diese, aber auch viele Erinnerungen und Einzelheiten aus seinem Heimatdorf Marpod im Harbachtal, erzählte er seinem Landsmann Willi Schneider Mitte Juli 2012, die Geschichte aufgeschrieben hat der Enkelsohn. Zum Glück, denn eine Woche darauf verstarb der Erzähler.

Die Geschichte, die im Folgenden von Hannelore Baier bearbeitet wurde und gekürzt abgedruckt ist, handelt von der Aushebung des am 6. Oktober 1928 geborenen Mannes zusammen mit fünf Freunden, um in ein Arbeitslager im Schiltal gebracht zu werden. Die arbeitsfähigen Rumäniendeutschen, die der Deportation in die Sowjetunion im Januar 1945 entgangen waren, wurden bis 1948 zu Arbeitseinsätzen ins Innere des Landes gebracht.

Ihrem Mut, aber auch der verständnisvollen Hilfe mehrerer dort angetroffener Menschen verdankten die jungen Männer es, dass sie dem Arbeitslager entgingen. Außer dem Erlebnis der Marpoder ist der Schilderung die in der unmittelbaren Nachkriegszeit herrschende Atmosphäre zu entnehmen.

Johann Gabel, in Marpod „Josef Honz“ genannt, Michael Kraus, der „Kraus um Gesken“, Christian Wilk, bekannt als „Pradijer Krestel“ und Franz David feierten zusammen mit anderen Klassen- und Jugendkameraden bei Maria Schuster an einem Sonntagabend eine Tanzunterhaltung. Diese wurde durch zwei Männer unterbrochen, die die Jungen festhielten.

Außer den oben Genannten waren dies noch Michael Kraus, genannt Stefan Misch und Georg Schneider, bekannt als Klingosch Gerj, die aber nach Hause geschickt wurden. Am Ende blieben sechs junge Männer übrig, deren Eltern man verständigte, sie sollen ihnen Arbeitskleidung und Lebensmittel bringen.

In derselben Nacht noch wurden sie auf Pferdewagen ins Nachbardorf Holzmengen/Hosman gebracht und von da ging es am nächsten Morgen per Bahn nach Hermannstadt/Sibiu. Um eine Flucht zu vermeiden, waren jeweils  zwei der Marpoder zusammengekettet. Am Rücken trugen sie den Rucksack und in der freien Hand den Koffer.

In Hermannstadt nahm ihnen der Polizeibeamte die Ketten ab, ermahnte sie aber, dass er auf sie schießen würde, wenn sie zu flüchten versuchten. Die Fahrt endete vorerst in Neppendorf/Turnişor in der zur Sammelstation umfunktionierten Schule, wo sie zwei Tage blieben, bis weitere Personen aus den umliegenden Ortschaften zusammenkamen. Am Mittwoch dann fuhren sie im Viehwaggon weiter bis nach Meri im Schiltal, wo an der Bahnlinie ein Tunnel durch das Gebirge gebaut wurde (an der berühmt-berüchtigten Strecke Bumbeşti – Livezeni).

Nach der Übergabe der jungen Männer an den Direktor der Arbeitsstelle wies dieser „die Freiwilligen“ an, sie mögen sich in zwei Reihen aufstellen, um auf die Baracken verteilt zu werden. Die Marpoder hatten das Glück, in dieselbe Baracke zu kommen und Michael Kraus wurde zu deren „Chef“ ernannt. „Wir sind doch nicht freiwillig hergekommen. Wir wurden an den Händen zusammengekettet und hierher verschleppt,“ meinte dieser und sprach aus, woran alle dachten. Er schlug vor, nach Einbruch der Dunkelheit zu flüchten, womit die Freunde einverstanden waren.

Flucht und „Freikauf“

Zu Fuß machten sich die jungen Männer bei Nacht auf den beschwerlichen Heimweg. Sobald sich ihnen ein Auto näherte, gingen sie, um nicht entdeckt zu werden, am Ufer des Schils in Deckung. Dennoch griffen zwei Beamte in Zivil sie nach zwei Stunden auf und baten sie in ihr Auto. Die Marpoder konnten sich mit Fleisch und Speck freikaufen.

Kurze Zeit danach wurden sie von weiteren Beamten angehalten und ausgefragt. Auch diesmal wurden sie nach Überreichen von Nahrungsmitteln laufen gelassen. Die Kunde, dass von den Jungen etwas zu erbeuten sei, machte schnell die Runde, sodass man sie noch weitere zwei Male anhielt und ihnen schließlich nur das Geld übrig blieb, um sich Zugfahrkarten kaufen zu können.

In dieser Nacht legten sie mit ihren Koffern und Rucksäcken bei Frost rund 20 Kilometer zu Fuß zurück und trafen am Morgen in Livezeni ein. Sie waren nur noch zu viert, denn zwei der Jungen waren geschnappt worden. Am Bahnhof wollte der Schalterbeamte ihnen keine Fahrkarten verkaufen, da sie doch zum Arbeiten hierhergebracht worden seien.

Kurz darauf trat ein Mann mit Schlips und Kragen auf die Jungen zu und wollte wissen, was sie in dieser Gegend machten. Sie seien auf Arbeitssuche, da sie aber keine gefunden hätten, führen sie wieder nach Hause, erklärte Michael.

Der Mann sagte ihnen auf den Kopf zu, dass sie von Meri weggelaufen waren, nahm sie in sein Büro mit, von wo er in Meri anrief und anordnete, man solle sie abholen. Nachdem der Mann das Büro verlassen und die Marpoder dort allein gelassen hatte, machten diese sich auf den Weg in Richtung Ortsende, um zum Bahnhof der nächsten Ortschaft zu gelangen, da sie vermeiden wollten, in Livezeni nochmals festgenommen zu werden.

Hinter dem Bretterzaun des letzten Hauses im Ort streckten sich die Marpoder, von der Nachtwanderung erschöpft, aus, um Kräfte für den weiteren Weg zu sammeln. Bald kam aus dem Haus jedoch eine Frau und rief die jungen Leute ins Warme. Die Frau sagte ihnen, sie kenne jemanden mit einem Auto, der Personen in ähnlicher Lage in andere Ortschaften bringe.

Den Marpodern konnte der Mann dann aber nicht helfen, weil er die Grenze des Verwaltungskreises hätte überschreiten müssen und danach hätte man seine Papiere kontrolliert. Schließlich bekam es auch die Frau mit der Angst zu tun und bat die Flüchtigen weiterzugehen. Die Jungen bedankten sich für die Aufnahme in ihrem Haus und machten sich auf den Weg. Bald konnten sie in der Ferne Petroschen/Petroşani erkennen und schlugen sich zum dortigen Bahnhof durch. Empfangen wurden sie erneut von einem Polizeibeamten, der sie zur Polizeiwache brachte. In dem Raum war bereits ein Mann und der machte ihnen Mut, es seien auch andere junge Männer in ihrer Lage freigelassen worden.

Verhör und Arbeitsdienst

Gegen Mitternacht weckte man die Männer und brachte sie zum Verhör. Johann wurde von einem bewaffneten Soldaten in einen Raum geleitet, in dem zwei Offiziere und eine Frau an einer Schreibmaschine saßen. Die Offiziere fragten, warum er aus dem Arbeitslager geflüchtet sei, er wäre doch dorthin als Freiwilliger gebracht worden.

Johann sagte ihnen, dass er ganz und gar nicht freiwillig gegangen sei, sondern mit Ketten gefesselt und dass er zu Hause alte Eltern hätte, die seiner Hilfe bedürften und momentan nicht wüssten, wohin man ihn verschleppt habe. Auch teilte er mit, dass seine Schwester Regina nach Russland deportiert worden war.

Die Offiziere wiesen die Frau an der Schreibmaschine an, das Papier zu wechseln und die Aussagen nochmals aufzunehmen und forderten ihn auf, nur die Wahrheit zu sagen. Johann Gabel wiederholte das Gesagte, wurde aufs Zimmer zurückgebracht und der nächste Junge kam zum Verhör.
Am Morgen trat ein Hauptmann ins Zimmer und sagte, sie müssten alle nach draußen und arbeiten.

Christian erhielt die Aufgabe, das Plumpsklo zu säubern, den anderen wurde ein Besen in die Hand gedrückt und sie mussten Hof und Straße kehren. Danach wurden sie erneut in den Raum gesperrt. Bald kam jedoch der Hauptmann und ordnete ihnen an, mit ihren Sachen im Hof anzutreten, ein Auto würde sie abholen. Als sie im Hof in Reih und Glied standen, sagte der Offizier: „Wir lassen euch nach Hause fahren.

Auf Grund eurer Aussagen haben wir festgestellt, dass es ein Fehler war, euch hierher zu bringen. Gesucht werden sollten Männer, die bei der Waffen-SS oder in der Wehrmacht waren.“ Er fügte jedoch hinzu, falls es sich herausstelle, dass sie falsche Aussagen gemacht haben, werde man sich wiedersehen und sie müssten mit einer hohen Strafe rechnen. Die vier Marpoder waren glücklich, dass man sie nach Hause ziehen ließ.     
    
Gebracht wurden sie auf den Bahnhof von Petroschen – wo sie erneut den Polizeibeamten antrafen, der sie tags zuvor in Empfang genommen hatte. Da er vermutete, sie seien geflohen, rief er sie in sein Büro und rief bei der Wache an. Der Hauptmann bestätigte jedoch, dass man die jungen Männer verhört und auf freien Fuß gesetzt hatte und sie nach Hause fahren dürfen.

Daraufhin riet ihnen der Polizeibeamte, einer von ihnen solle zur Polizeiwache zurückgehen und sich einen Entlassungsschein aushändigen lassen. Sonst bestehe die Gefahr, dass sie noch weitere Male verhaftet werden. Michael ging zur Wache zurück und besorgte für jeden eine entsprechende Bestätigung. Er kam noch rechtzeitig zurück, um den Zug von Petroschen in Richtung Heimatdorf zu erreichen. In Subcetate mussten die jungen Männer umsteigen und die dortige Polizei wurde erwartungsgemäß auf sie aufmerksam. Sie konnten jedoch die  Entlassungsscheine vorweisen und  dank ihrer den Weg nach Hermannstadt fortsetzen. Dort angekommen, hatten sie kein Geld mehr für die Schmalspurbahn und mussten das letzte Stück des Weges zu Fuß zurücklegen.  

Wenige Tage nach der Rückkehr sah der Polizist aus Holzmengen Johann Gabel und fragte, wieso er im Heimatort sei. Der junge Mann zeigte ihm den Entlassungsschein. Der Polizist verlangte ihm das Papier ab, doch gab es Johann nicht aus der Hand. Der Polizist war erbost und drohte, sollte ein nächster Aushebungsbefehl kommen, dann würde er ihn bestimmt wieder holen. Doch es kamen keine derartigen Befehle mehr.

Die 16- und 17-Jährigen hatte man in einer Sonntagnacht festgenommen und verschleppt, am darauffolgenden Sonntag waren sie wieder zu Hause. Johann Gabel bezeichnet diese Woche als die schwerste seiner Jugendjahre.
Die anderen beiden Männer, die mit den Vieren nach Meri gebracht worden waren, und die während der Flucht gefangen genommen waren, konnten mit Hilfe eines Schäfers über das Gebirge ihren Weg nach Hause finden. Sie trafen vier Tage nach den Freunden wieder in Marpod ein.


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Arbeitslager im Innern des Landes

Die Deportation von Rumäniendeutschen im arbeitsfähigen Alter zur Wiederaufbauarbeit in die Sowjetunion im Januar 1945 gehört zu den meisterwähnten Repressionsmaßnahmen nach der Waffenumkehr vom 23. August 1944. Weniger bekannt ist, dass Rumäniendeutsche zwischen 1945-1948 auch in Lager im Inneren des Landes interniert bzw. wiederholt zum Arbeitsdienst auf Baustellen, in Betrieben aber auch in der Landwirtschaft ausgehoben worden sind.

Weil die Internierungen meist für kurze Zeitspannen erfolgten, die Lagerbedingungen weniger schlimm waren, als jene in der vom Krieg zerstörten Sowjetunion und es vielen der Betroffenen gelungen ist, durch (oft falsche) Krankenzeugnisse, Bestechung oder Flucht dieser Zwangsarbeit zu entgehen, haben sie sich im Gedächtnis der Gemeinschaften weniger eingeprägt.

Beiden Aushebungen lagen von General Vinogradov gezeichnete Anordnungen der Alliierten Kontrollkommission für Rumänien zu Grunde. Die Deportation in die Sowjetunion erfolgte durch jene vom 6. Januar, die Internierungen in Arbeitslager im Land wurden nach Note Nr. 192/A vom 19. Februar 1945 durchgeführt. Beide Order sind durch Anweisungen des Innenministeriums, der Polizei und der Gendarmerie umgesetzt worden. Dabei änderte sich mehrmals, ob auf Baustellen oder in Betriebe auf dem Gebiet Rumäniens ehemalige Mitglieder der Waffen-SS sowie Amtsträger der Deutschen Volksgruppe in Rumänien oder aber arbeitsfähige Rumäniendeutsche allgemein, die der Deportation in die Sowjetunion entgangen waren, gebracht werden sollten.