„Du musst dein Leben neu erfinden“

Mit Hingabe kämpft Psychologin Doina Tocaciu für die Integration lernschwacher Problemkinder in der Schule von Baaßen

Viele Requisiten bastelt die Lehrerin selbst: Hier die papierenen „Gärten“, mit denen sie Längen- und Flächenmaße vermittelt.
Foto: George Dumitriu

Ja, der Anfang war schwer, bekennt die weißhaarige Frau mit dem jugendlichen Gesicht und der sanften, warmen Stimme. Vorurteile gab es damals von allen Seiten gegen die neue Förderklasse in Baaßen/Bazna, in der lernschwache Kinder mit besonderen pädagogischen Methoden Zusatzunterricht in Mathe und Rumänisch erhalten sollten, aber auch Verhaltenstraining gegen Aggressionen und Gewalt.

„Ich hab doch kein verrücktes Kind“, hieß es, wenn Lehrer den Spezialunterricht empfahlen. Die Kinder selbst – alle Roma aus ärmsten Verhältnissen – kamen anfangs nur wegen der Marmeladenbrote, die ihnen die Lehrerin täglich mitbrachte. Schwierig aber auch die Bedingungen, unter denen die studierte Psychologin ihren Einsatz  vor sechs Jahren begann.

Weil in der Schule kein Klassenzimmer frei war, musste sie zwei Jahre lang im zugigen Flur unterrichten. Im Winter war es so kalt , dass die Schüler mit Mützen zum Unterricht erschienen und alle zum Wärmen eine Hand an den Kachelofen halten durften, denn zum Anlehnen waren es zu viele. Die zierliche Lehrerin aus Bukarest holte sich dort erst mal eine Lungenentzündung. Doch Doina Tocaciu lächelt. Dies alles hat sich heute längst grundlegend geändert...

Nachdem Schulleiter und Lehrer, bald aber auch der Pfarrer, der Arzt und andere Bezugspersonen bemerkten, dass Diebstähle und Aggressionen, Schule schwänzen und sonstige Fehlverhalten der Schüler seit den Bemühungen der Psychologin rasant abgenommen hatten, gewann das Projekt Förderklasse schnell Ansehen und Respekt. Auf einmal hagelte es von allen Seiten Empfehlungen und sogar die Schüler fragten: „Frau Lehrerin, können Sie den Ion, den Vasile, den  Ştefan nicht auch noch aufnehmen?“ 

Mittlerweile hat sie neben zwölf aktenkundigen Förderkindern insgesamt 25 Schützlinge in ihrer Obhut, die ihre Klasse zusätzlich zum Standardunterricht an der Baaßener Schule besuchen. Doch die unentlohnte Mehrarbeit leistet sie mit Liebe und Hingabe. Denn für Viele ist sie nicht nur die wichtigste Bezugsperson, sondern ein Mentor fürs ganze Leben.

Förderprogramm zur Integration

Neben dem eigenen Unterricht fährt Doina Tocaciu in regelmäßigen Abständen zur Inspektion in andere Schulen im Landkreis, wo sie sich von den Unterrichtsmethoden ihrer Kollegen ein Bild macht. Zur Philosophie des vor sieben Jahren ins Leben gerufenen integrativen  Schulzentrums für inklusive Erziehung (Centru şcolar pentru educaţie incluzivă) mit Sitz in Mediasch gehört, dass die Lehrer zu den Kindern in die Dörfer kommen und nicht umgekehrt.

Deshalb zogen einige von ihnen aufs Land, andere pendeln täglich mit dem Bus, was bei einem Anfangslohn von 600 Lei eine gewaltige Belastung darstellt. Den jüngeren Kolleginnen des Zentrums steht Doina Tocaciu mit ihrer langjährigen Erfahrung mit lernschwachen Kindern tatkräftig zur Seite. Bedingungslos unterstützt werden die 18 Lehrer des Mediascher Zentrums von der engagierten Direktorin Livia Bădulescu. Aber auch die Kooperation zwischen dem Zentrum und der Schule in Baaßen hat sich unter Direktor Radu Prisăcaru hervorragend entwickelt. 

Längst unterrichtet sie in einem gut ausgestatteten Klassenzimmer. Für die Schüler werden Sportfeste, Wettbewerbe und Ferienlager organisiert, oder sie beteiligen sich an sozialen Aktionen, wie  Sarmale aus der Schulküche an bedürftige Menschen verteilen. So wird auch das soziale Gewissen der Kinder geschult.

Äpfel und Birnen statt X und Y

Da die Schüler der Förderklassen weder Interesse noch die nötige Auffassungsgabe für einen standardmässigen Unterricht haben, müssen Lerninhalte vor allem anschaulich präsentiert werden. „Das heißt, mit Äpfeln und Birnen rechnen statt mit X und Y“ erläutert Doina Tocaciu und setzt hinzu: „Erst wenn die Lektion begriffen wurde, lernen die Schüler, sie zu verbalisieren“.

Der dritte Schritt ist dann die Abstraktion des Gelernten. Amüsiert schildert sie, wie sie den Kindern, die in Gruppen von sechs bis zehn unterrichtet werden, das Dividieren beizubringen versuchte. Als Beispiel nahm sie eine bekannte, siebenköpfige Familie aus dem Ort. „Nehmen wir an, sie finden im Stall 14 Hühnereier“, hob sie an. Zwischenruf: „Die essen aber nur Fasaneier aus dem Wald!“ „Also gut, 14 Fasaneier...“

Sie malt die Familie und die Eier auf die Tafel. „Dann bekommt jeder zwei Eier zum Frühstück. Also ist 14 geteilt durch sieben gleich zwei! Verstanden?“ In der Klasse ist es merkwürdig still. Als sie nachhakt, wo es am Verständnis hapert, zirpt ein Stimmchen auf: „Das kann nicht stimmen, denn Didina frißt zehn Eier auf einen Sitz und David ist längst mit den Kühen draußen!“ Solche Überraschungen sind nicht selten. Für die Kinder muss alles stimmig sein.

Dass auch Motivation ein wichtiger Faktor ist, zeigt das Spiel, mit dem sie den Schülern erfolgreich Addieren und Subtrahieren beibrachte: Mit einer Geldbörse schickte sie jeden zum „Einkaufen“ an die Tafel, und wer das Restgeld korrekt nach Hause brachte, „durfte schon heiraten“. Am nächsten Tag fragten die Kinder erwartungsvoll: „Spielen wir wieder, wer schon heiraten kann?“

Ein anderes Mal schüttete sie eine Tüte Dreiecke und Vierecke auf das Pult. „Das sind eure Gärten“ sagte sie und verteilte die Stücke. Dann wollte sie wissen, wieviel Draht man für einen Zaun oder wieviel Folie man zum abdecken man braucht - Umfang und Fläche also. Die Formen bekam sie mit den Zahlen zurück -  und mit Blümchen bemalt, als richtigen Garten eben.

 „Por favor, Senorita“ als Wunschberuf

Weil die Lehrerin sich ständig etwas ausdenken muss, um ihre Schützlinge nicht zu überfordern und ihr Interesse zu fesseln, informiert sie sich oft über ihren Hintergrund. Die Kinder stammen aus Velţ, einem Dorf am Stadtrand von Baaßen, wo sie in desolaten Verhältnissen leben - allein oder von Nachbarn beaufsichtigt, weil ihre Eltern im Ausland sind. Seit sie merkte, dass viele hungrig zur Schule kamen, bringt sie täglich Brot, Margarine und Marmelade mit. 

„Was arbeiten deine Eltern in Spanien?“ fragte sie einmal ein Mädchen, worauf das Kind die Hand ausstreckte und strahlte: „Por favor, Senorita!“ Es stellte sich heraus, dass alle Eltern den gleichen „Beruf“ hatten. Auch machen die Kinder keinen Hehl daraus, in ihre Fußstapfen treten zu wollen. „Besser als stehlen“, unkte ein Schüler.

Weil Doina bewußt ist, dass viele ihrer Schützlinge die Schule nicht abschließen und mit 15 „verheiratet“ werden, plädiert sie dafür, den Kindern nicht nur die üblichen schulischen Inhalte, sondern auch etwas Praktisches beizubringen, das ihnen später nützt, vielleicht sogar zum Beruf werden kann. Korbflechten oder töpfern, stricken oder schneidern, Haare schneiden, backen, Kräuterkunde, Ackerbau oder Schweine züchten... „Sonderprogramme, in denen die Kinder lernen, etwas selbst zu produzieren, würden ihnen viel mehr helfen als die jährlichen Kleiderspenden der holländischen Hilfsorganisationen“ meint die engagierte Lehrerin. Von zu Hause bringen die Kinder meist keine Fertigkeiten mit, was sicher auch daran liegt, dass die Eltern, die häusliche Traditionen vermitteln könnten, nicht zur Verfügung stehen. 

Vor Ostern und Weihnachten veranstaltet sie mit ihrer Klasse stets einen Bazar, für den Wochen vorher gebastelt wird: Schneemänner aus Popcorn oder aus Klorollen, Tannenbäumchen und sonstige einfache Deko. Dann lädt sie vom Bürgermeisteramt bis zu Polizei oder Arztpraxis alle Leute ein. Mit dem Erlös des ersten Bazars ging sie mit den Kindern  in die Konditorei. „Ein großes Erlebnis für die meisten“, erinnert sich die Psychologin, „vor allem, weil sie zum ersten Mal im Leben dort waren.“

Schildkrötenübung gegen Gewalt

Einer der wichtigsten Aspekte im Umgang mit Kindern, von denen viele emotionell, psychomotorisch oder sensoriell gestört sind, ist das Eingehen auf ihre psychologischen Bedürfnisse. Um diese zu erspüren, läßt Doina die Kinder vor jeder Stunde ein „Emoticon“ aus einer großen Palette an Gesichtern auswählen, die verschiedene Stimmungen ausdrücken. So weiß sie, wer momentan wütend ist, schon lange Zeit traurig oder ständig müde - und stellt sich im Unterricht darauf ein.

Aus den Zeichnungen der Kinder kann sie deren Stand in der Familie, psychische Probleme oder sogar sexuellen Mißbrauch herauslesen. Zum Repertoire der Förderschule gehört außerdem ein spezielles Verhaltenstraining gegen Gewalt. Mit der „Schildkrötenübung“ sollen aggressive Kinder dazu angehalten werden, sich erstmal „in den sicheren Panzer der Schildkröte“ zurückzuziehen und zu reflektieren, bevor sie blind zuschlagen.

Am Ende jedes Jahres schickt die Psychologin einen Evaluierungsbogen an die Mediascher Zentrale, die daraufhin ein Team an Sozialarbeitern, Logopäden, Arzt und Psychologen entsendet, die den Fortschritt jedes Kindes detailliert dokumentieren und weitere Maßnahmen indizieren. Neben Verbesserungen des Lernerfolges sind vor allem positive Entwicklungen im Verhalten zu erkennen. Hyperaktive oder psychomotorisch gestörte Kinder beruhigen sich mit der Zeit. Doina Tocaciu setzt bei der Erziehung ihrer Schützlinge aber auch auf Lebenslektionen: „Du musst dein Leben neu erfinden“ rät sie ihren Kindern, und weiß sehr gut, wovon sie spricht...

Vom Kinderknast ins Kindernest

Die erste große Wende in ihrem beruflichen Leben kam, als sie 1991 drei Monate im Kinderheim „Cuibul“ der Schweizer Pestalozzi Stiftung verbrachte. Dort herrschten ganz andere Methoden als die ihr bislang geläufigen: Die Betreuer lebten mit den Kindern in kleinen Gruppen zusammen und kümmerten sich in 12-Stunden-Schichten fast wie ein Elternteil um sie. „Sie aßen sogar gemeinsam“, staunte die aus ihrer Bukarester Erfahrung an strenge Distanz gewöhnte Psychologin.

In „Casa 7“, dem Waisenhaus für Jungen, in dem sie damals arbeitete, wurden die Kinder sogar regelmäßig beschimpft und erniedrigt. „Alle Psychopathen dieses Landes schienen dort Professoren zu sein“ resümiert sie ihre traurige Erfahrung. Für Liebe war kein Eckchen Platz.

Nach ihrer Rückkehr wollte sie jedoch unbedingt im Alltag umsetzen, was sie in der Schweiz erfahren hatte. Da dies in „Casa 7“ nicht möglich war, suchte sie sich ein neues Wirkungsfeld. Sie fand eine Anstellung als Lehrerin in der Bukarester „Şcoala 4“, wo 300 Schüler mit teils schweren Problemen unterrichtet wurden, vom Down Symdrom bis zu geistigen Behinderungen.

Nicht nur, dass dort mit den Kindern gemeinsam gegessen wurde, es gab auch eine Vielzahl an Beschäftigungsangeboten: Kinderchor, Tanz, Aerobic und sogar ein Orchester. Unter Direktor Vlad Sirian fielen die  Ideen der engagierten Psychologin endlich auf fruchtbaren Boden. Beflügelt von der neuen Herausforderung absolvierte sie nebenbei eine Ausbildung als Logopädin und avancierte bald zur Vorzeigelehrerin, die ihre Kollegen in offenen Unterrichtsstunden an ihrem Wissen teilhaben ließ.

Als Doina Tocaciu 2007 nach Baaßen kam, war sie erstmal ganz auf sich allein gestellt. Mit der Hand am Kachelofen im zugigen Gang, umringt von  Kindern mit dunklen Augen und verschmierten Marmeladenmündern...  ob sie da  wohl ihre eigene Stimme in den Ohren widerhallen hörte? „Du musst dein Leben neu erfinden...“