„Ein bisschen Volksseele der anderen in sich aufnehmen“

ProEtnica - das Fest für eine friedliche Zukunft

Anmutig und königlich: die Lipowanerinnen des Ensembles Ciubcik aus Bukarest

Volker Reiter im Büro des ibz im Burghostel: Jeder Teilnehmer bekommt eine eigens für das Festival gestaltete ProEtnica Tasse.

Hoch, höher, am höchsten – ungebrochene griechische Lebensfreude zeigt die Gruppe Artemis aus Sulina.

Ricky Dandel rockt inmitten der tosenden Menge.

Strahlend erobern die Mädchen von der Vereinigung Elijah – eine soziale Initiative von Ruth Zenker aus Rothberg/Rosia – die Bühne.

Für vier Tage wird Schäßburg zur Festburg

Stellen Sie sich vor, man sagt „Griechenland“ - und niemand denkt an Politik. Man sagt “Roma” - und niemand meint “Integrationsprobleme”. Auch die Türken und Tataren sind herzlich willkommen in der ehemaligen Festung der Sachsen. Alte und junge Menschen aller Ethnien fassen einander plötzlich an den Händen und tanzen ausgelassen im Kreis. Utopie? Eine schöne Illusion? Von wegen! Vier Tage lang erleben wir eine Welt ohne Grenzen: Innere Mauern fallen, äußere öffnen sich. Schäßburg wird zur Festburg für alle. Während des interethnischen Festivals ProEtnica zelebrieren wir eine Welt, wie wir sie uns für die Zukunft wünschen.

Zum 13. Mal bereits jährt sich das Spektakel, das Schäßburg/Sighişoara ohne freie Fremdenzimmer lässt und die touristische Saison um ein Wochenende verlängert. 15.000 Besucher erwartete man für vier Tage vom 20. bis 23. August in der mittelalterlichen Burg. Dazu gehören auch die in diesem Jahr 847 Teilnehmer der 20 Minderheiten in Rumänien - darunter 80 Prozent unter 25 Jahren -, die ihre Lieder und Tänze zum Besten geben. Längst steht das Festival auf soliden Beinen, die Zeit des Kampfes um Finanzierung ist überwunden, freut sich Gründervater Volker Reiter, Leiter des Interethnischen Bildungszentrums für Jugendliche (IBZ) und des Burghostels in Schäßburg. Als Partner der Veranstaltung fungiert die Stadt Schäßburg, vertreten durch Vizebürgermeister Ion Gavrilă. Von offizieller Seite erschienen: der Präfekt des Landkreises Mureş, Lucian Boga,  vom Kulturministerium: Carol König sowie Unterstaatssekretärin Irina Cajal-Marin  und Cornelia Predoiu von der Managementgruppe für Projekte der Minderheiten.

Verbindende Gemeinsamkeiten, interessante Unterschiede

Zwischen den Plattformen für die Kameraleute lugen wir durch die wogende Menge am Burgplatz: Russische Lipowanermädchen schweben in bizarren Kostümen wie surreale Prachtpuppen aus der Zarenzeit über die Bühne. Die griechische Tanzgruppe aus Sulina begeistert nicht nur wegen den lustigen Bommelschuhen der Burschen: Ihre tollkühnen Sprünge  vermitteln überschäumende Lebensfreude. Man entdeckt verbindende Gemeinsamkeiten und reizvolle Unterschiede zwischen den Gruppen. Volkstanz ist eben nicht gleich Volkstanz: Die Kroaten schreiten würdevoll, als wäre Bewegung ein Tabu. Die Jungen der sächsischen Tanzgruppe aus Schäßburg wirbeln ihre Mädchen schwungvoll durch die Lüfte. Die Tschechen und Slowaken verhauen sich gegenseitig spielerisch mit Stöcken. In der Musik jeder Ethnie schwingt spürbar auch ein Stückchen ihrer Volksseele mit. Sie breitet sich aus über den Burgplatz und erfasst die wogende Menge.

Auf Biergartenbänken folgen Touristen und Schaulustige den Darbietungen. Der Duft von gekochten Maiskolben, Langos und Baumstriezel wabert durch die Luft. Eine junge Mutter tanzt ausgelassen mit ihrem vor Vergnügen krähenden Baby im Arm. In der vordersten Reihe zappeln Roma-Kinder auf einer Biergartenbank ungeduldig mit den Füßen. Sie freuen sich auf den Moment, wenn die Tänzer von der Bühne zur Menge hinunterklettern und die Zuschauer  in einen gemeinsamen Reigen ziehen. Immer wieder öffnet sich der schwingende, riesige Kreis für neu Hinzudrängende. Danach wird ausgelassen herumgehüpft – die besten  „Tänzer” bekommen als Prämie eine der extra für das Fest designten, bunten ProEtnica-Tassen. Jeder Tag endet als Highlight mit einem Abschlußkonzert bekannter Künstler oder Gruppen. Sie sprengen ein wenig den Rahmen des Traditionellen, knüpfen an die moderne Gegenwart an. An den ersten beiden Abenden begeistern die Bläser aus Cozmesti mit der Sängerin und Tänzerin Yna Chiriac und das Zuralia Orchester verwandelt die nächtliche Festung in einen brodelnden Kochtopf. Dann rockt Ricky Dandel auf Deutsch, Rumänisch und Sächsisch - stets tauchte er von irgendwo wie ein Pfeil aus der Menge hervor, die er mit Scherzen und Geschichten einbezieht und jeden Augenblick an sich fesselt; am wenigsten sieht man ihn auf der Bühne. Den Abschluss bildete die Band Szempöl Offchestra mit einem surrealistischen Mix aus Synthezisermusik und klassischen Instrumenten.

Nationales Fest mit Vorbildcharakter

Es gibt Ensembles, die extra für ProEtnica gegründet wurden, erklärt Volker Reiter und spricht vom Phänomen einer Re-Ethnisierung der Gemeinschaften, wo Traditionen regelrecht wiedererfunden werden und neue kulturelle Impulse entstehen. Der Deutsche, der vor über 15 Jahren vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) als Kulturmanager nach Rumänien geschickt wurde und dann auch privat in Schäßburg hängen blieb, outet sich nicht unbedingt als militanter Bewahrer des Alten. „Kulturen müssen auch vergehen dürfen“, meint er nachdenklich,  „damit wieder Neues entstehen kann“. Dass auch Gegenwart und Zukunft beim Konzept von ProEtnica eine Rolle spielen, macht gerade den besonderen Reiz aus. „Hier ist mehr Publikum als beim Mittelalterfest“, wundert sich auch ein Pensionsbesitzer. ProEtnica soll ein nationales Fest bleiben, sagt Volker Reiter bestimmt. „Doch warum nicht mit Modellcharakter für andere Länder, wo Minderheitenprobleme wesentlich delikater sind?“ bemerkt er mit Verweis auf die Spanier und ihre Basken. Die eigentliche Medienkampagne, die den nationalen Minderheiten Aufmerksamkeit verschafft, geht erst nach dem Festival los, weil die Übertragung von ProEtnica (Anm.: TVR 1 Online) stets auch auf anderen Kanälen Sendungen über diese nach sich zieht. Gelegentlich gibt es sogar Interesse aus dem Ausland. „Einmal hatten wir eine Medienpartnerschaft mit Radio Multikulti aus Berlin“, erzählt der Organisator. Und fügt an: „Viele haben mir vorgeschlagen, den Namen ProEtnica schützen zu lassen - doch ich würde mir wünschen, dass auch andere Städte unserem Beispiel folgen!“  

Ein Forum für interethnischen Dialog

Mit dem Fest soll den nationalen Minderheiten eine Plattform geboten werden, ihre Kultur zu präsentieren, aber auch ein Forum für interethnischen Dialog. Für letzteres sorgt eine Reihe wissenschaftlicher und kultureller Veranstaltungen: Vorträge, Buchvorstellungen, Diskussionen. Erstmals in diesem Jahr gab es eine Ausstellung mit Arbeiten von zehn plastischen Künstlern aus den Reihen der ethnischen Minderheiten. Darunter die bezaubernden Quilts von Lilian Theil – eigentlich sensible  „Karikaturen“ aus Stoff mit einer subtilen, emotionalen Message: über die Angst im Allgemeinen, über den Fortgang der Sachsen ... und ihre Wiederkehr.  Neu in diesem Jahr ist zudem ein interaktives Theaterprojekt mit jugendlichen Roma aus den Gemeinden Albeşti/Weißkirch und Daneş/Dunnesdorf, das zeitkritische Themen wie Gewalt in der Familie, Menschenhandel oder Rassismus aufgreift.

In den wissenschaftlichen Vorträgen und Diskussionsrunden erhält man Einblicke in teilweise sehr spezielle Themen, zu denen man sonst selten Zugang erhält. Das Programm bestritten die Vereinigung Divers mit den Präsentationen  „Die armenische Gemeinschaft in Siebenbürgen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (Attila Puşkas) und “Die Rolle der Interkulturalität in multikulturellen Gemeinschaften” (Maria Koreck). Die Jüdische Föderation in Rumänien stellte zwei Bücher vor: „Evolution des Antisemitismus“ von Jules Isaac und  „Negative Psychologie. Antisemitismus“ von Diana Medan. Marian Zaloagă vom Institut zum Studium der Probleme der Nationalen Minderheiten (ISPMN) präsentierte seine Forschungsergebnisse in  „Die Roma in der sächsischen Kultur im 18. und 19. Jahrhundert“. Die Stände mit Kunsthandwerk, Souvenirs und Leckereien reihen sich bis hinunter zum Museumsplatz. Vor dem Tor des Stundturms werden Trachtenblusen, Ledertaschen oder Keramik aus Corund feilgeboten – und natürlich auch allerlei industriegefertigter Schnicksschnack als Souvenirs für Touristen. Ein Holzschnitzer der polnischen Minderheit fertigt unermüdlich Schüsseln, Teigwannen und Schneidbretter vor den umstehenden Schaulustigen. Schicke Armenenkäppchen mit Goldborte zieren die Köpfe so mancher Besucher, die ganz offensichtlich keine Armenen sind.
Die Message des Festes mit der fröhlich-bunten Multikulti-Atmosphäre geht jedoch weit über das Künstlerische hinaus. Hauptziel der interkulturellen Veranstaltung ist, einen Beitrag zur Friedensförderung und -erhaltung zu leisten, erklärt Volker Reiter. „Ein Tropfen auf den heißen Stein?“ fügt er nachdenklich hinzu. Doch auch der Ozean besteht aus Tropfen. Warum also ProEtnica?  „Ich wünsche mir einfach, dass wir ein bisschen von der Volksseele der anderen in uns aufnehmen - damit uns diese bereichert, und wir mit der Zeit nicht mehr nur der Mensch sind, der wir vorher waren.“