Ein Debakel der Politik

Ein gewisser Boris Johnson, damals in Brüssel Korrespondent des Londoner „Daily Telegraph“, soll die Idee des Brexit in die Welt gesetzt haben. Das war Anfang der 1990er und der rote Struwwelkopf langweilte sich mal wieder, heißt es. Der „Witz“ wurde, wie vieles in England, ernst genommen: Ein Volksentscheid stimmte 2016 mit knapper Mehrheit dafür. Wie das in England nun mal ist: „Als eine der weltweit führenden Fußballnationen finden wir nichts aufregender als ein Spiel, bei dem die Mannschaften gleich stark sind, bis ein zufälliges Tor in der 89. Minute den überwältigenden Sieg des einen Teams und die elende Niederlage des anderen herbeiführt. Was für ein Drama! Was für Gefühle! Auf einen solchen Adrenalinschub verzichtet man nicht, schon gar nicht wegen so langweiliger Dinge wie Kompromiss und Koalition.“ Bei Jonathan Coe (satirischer Brexit-Roman „Middle England“) in einem „Spiegel“-Beitrag nachzulesen.

Schaut man mit Anthony Barnett („Die Verlockung der Größe“) auf das Brexit-Referendum, kriegt man folgendes Bild: Nordirland und Schottland waren überwältigend für den EU-Verbleib, Wales knapp für Brexit, London überwiegend für Verbleib, England (ohne London) überwiegend für Brexit. Entscheidend waren die wohlsituierte Mittelschicht in Mittelengland und die „Abgehängten“ in den toten Industrieregionen. Mitgespielt haben wohl auch die „Verlockung der Größe“ und die Nostalgie des British Empire, aber auch ein dem 19. Jahrhundert verhafteter Souveränitätsbegriff, wie er im 21. Jahrhundert immer wieder hochkommt. Nicht nur in England. Zudem manifeste Fremdenfeindlichkeit (höchstwahrscheinlich der splendid isolation des Inseldaseins nicht ganz fremd), der Mythos historischer Unbesiegbarkeit (daran hat auch Churchill eifrig mitgezimmert) und ein gewisser romantisch-träumerischer Spleen, der den Mythos von den pragmatischen Engländern Lügen straft.

Der auf internationale Beziehungen spezialisierte Cambridge-Historiker Brendan Simms („Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation“), ein verkappter Brexit-Sympathisant, versucht das gegenwärtige innenpolitische Herumeiern der Briten zu erklären: Großbritannien könne seine europäische Nachbarschaft nicht aufgeben. Großbritanniens Geschichte sei durch Europa geprägt. Und er fragt sich: „Wird das Vereinigte Königreich in der Lage sein, eine unabhängige Rolle in Europa zu finden?“ Besorgt wirft Simms in die Waagschale, dass wir es mit der fünftgrößten Wirtschafts- und der viertgrößten Militärmacht der Welt zu tun haben, die vor aller Augen jetzt herumtorkelt wie EU-Kommissionspräsident Juncker in seinen lustigsten Momenten. Aber: Durch den Brexit verliert die EU 15 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung und 13 Prozent ihrer Bevölkerung. Und die Nato erlebt eine Art Ausstieg Großbritanniens aus seiner Sicherheitspflicht. Die EU stünde dann nicht mehr bloß mit einem Ost- sondern auch mit einem Westkontrahenten da – eine Rolle, zu der Donald Unberechenbar ermutigt. Das Gefühl des Eingekreistseins war den Deutschen immer zuwider…

David Davis, Ex-Brexit-Minister der Torys (2016-2018), den manche als Teresa May-Nachfolger handeln, bemängelt am Brexit-Deal „die Trennung Nordirlands von Großbritannien“, „den unbegrenzten Verbleib in der Zollunion“, nach Gutdünken der EU („man ist der Gegenseite ausgeliefert“) und „dass Brüssel Großbritannien weiter Vorschriften machen will“. Einen No-Deal-Brexit befürworte er nicht, sagte er dem „Spiegel“, doch habe sein Land „keinen Grund, den No-Deal-Brexit zu fürchten“. Der bleibe eine „mögliche Lösung“, wenn Brüssel keine Neuaushandlung des Austritts akzeptiere, wie kategorisch angekündigt. „Die praktischen Probleme sind beherrschbar.“ Zum britischen parlamentarischen Dauerzirkus meinte Davis: „Erst bekämpfen wir uns, dann sind wir wieder Freunde. Das ist unsere Idee von Demokratie!“