Ein Forum markanter Persönlichkeiten

Zwanzig Jahre „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“

Zwanzig Jahre danach: Professor George Guțu mit seinem ehemaligen Studenten Vasile V. Poenaru
Foto: Antonina Guțu

Ein Mann ging 1992 zum rumänischen Verlagshaus Noesis und ließ sich ein paar Hunderte Exemplare einer von ihm ins Leben gerufenen Publikation drucken, die er „Zeitschrift der Germanisten Rumäniens“ (kurz: ZGR) nannte. Ein Forum, das noch viel Energie kanalisieren sollte. Kinetische Energie, semantische Energie. Linguistische Leidenschaft. Geborgte Sagkraft.

Der Mann hieß George Guțu. Vor zwei Jahren hatte er eine Gesellschaft gegründet: seine Gesellschaft, die Gesellschaft der Germanisten Rumäniens (http://www.ggr.ro/). Er hatte was vor. Was hatte er vor? Die Antwort auf diese Frage beginnt mit drei seinslüsternen Buchstaben und endet im kolossalen Metatext, der sich seit dann, ja gleichsam seit je um diese Initiative herum, aus dieser Initiative heraus, über diese Initiative hinweg webte. Der Rest ist Schreiben.

Zwanzig Jahre später: Bukarest, Rumänien. Guțu, Germanistik. Goethe-Saal, Röslein auf der Heiden. Forschungsstandort ZGR in Zahlen: 18 Bände, 200 Germanisten, 4000 Seiten mit unermesslicher Verschränkung. In Figuren? Germanistenkraft durch Partnerübung (die Partnerschaft-Netzwerke der ZGR reichen buchstäblich bis ans andere Ende der Welt). Schlüssel aller Kreaturen in der Hosentasche (und dazu natürlich den Schlüssel zum Goethe-Saal). Romantik, solange das Zeug hält. Klassik für jedermann und jede Frau. Donnerwetter. Sturm. Drang. Aufklärung wie im Taubenschlag: der Ausgang des Germanisten.

Und wenn ein Germanist ausgeht, dann mundet es. Dann gibt’s keine selbstverschuldete Unmündigkeit mehr. Der Gründer unserer ZGR, dieser angesehenen Fachpublikation, sah was (und ließ es nicht damit bewenden, sondern griff auch kurzerhand entschlossen nach dem, was er sah). Das Ding an sich in Reichweite, das Ding für uns und für den Deutschunterricht, mehr, für die Forschung. Brauchbarkeit, Unbrauchbarkeit des Grundwortschatzes, der Vokabeln überhaupt, des Steckenpferdes eines jeden Buchstabenmeisters, des Spielzeugs des Menschen, der nur da Mensch ist, wo er spielt, der Freiheit, des schönen Götterfunkens, der Berufung einer Generation, die gerne das sagen wollte, was sie zu sagen hatte. Sinnieren. Formulieren. Verwirren. Literaturwissenschaft auf Schritt und Tritt.

Ja was sah er denn genau, dieser an der blauen Donau, in Galatz/Galați, zur Welt gekommene Germanist und Übersetzer, dieser Hochschullehrer mit einem besonderen Augenmerk für das andere, dieser verbindlich nickende Mann mit seinem schelmischen Lächeln und seiner ungebändigten Lust nach einem gewaltigen Sprachereignis? Was gibt’s da zu sehen? Ein zapperndes Männlein, das die Grenzen des Seins erkundet, nein, ein photonisches Wesen namens Homunkulus, ein noch nicht ganz beseeltes Stück Licht, wenn man so sagen darf, das um Rat fragt und gerne entstehen will? Er sah einen Doktor, einen Schalk, einen Kaiser, ungeborgene Schätze im Boden, das Wiegen und das Zählen dessen, was ist, was sei, gedrucktes Geld, Gedrucktes im weitesten Sinne, sah die Wertung, die Entwertung, die Umwertung der Werte, den Ursprung einer Zeitschrift aus dem Geist der Germanistik. Dichtung und Klarheit (oder so was Ähnliches) sah er –  unabdingbar unter Berücksichtigung dessen, „was war und was unwahr ist.“ Abwegig einnehmend: Brecht. Er ging auf die Dialektik des deutschen Sprach- und Kulturraums ein, auf seine Dialogik, wollte etwas in die Wege leiten.

Dann nichts wie weg von der Moritat und den schwarzen Wäldern, auf der Suche nach entsprechend tiefem Gedankengut in der Walachischen Tiefebene. Ausgangspunkt Bukarest: Oscar Walter Cisek. Rumänisch. Deutsch. Rumäniendeutsch. Auf! Hinaus zu den Buchen: Paul Celan und kein Ende. Zaubersprüche made in Germany – direkt aus Merseburg eingeflogen. Was sonst? Die Selbstsetzung des Daseins? Nein, das wird bald zu philosophisch, und uns ist jetzt mal ja in erster Linie so durch und durch germanistisch zumute. Und germanistisch, das ist .... ja, germanistisch sei ... Wollen wir doch lieber schnell einen Blick auf die ZGR-Seite (http://www.ggr.ro/zgrOnline.htm) werfen. Gut sei die Germanistik, edel und gerecht (Nein, das ist Dichtung; und ein entstelltes Zitat wiedergibt nie die ganze Wahrheit).

George Guțu hatte einen Traum. Er wollte alle Germanisten des Landes unter seinem Zepter vereinen. Er wollte alle Tintenfässer deutschsprachiger Ausdrucksweise innerhalb des Karpatenbogens in den Raum stellen, in den Sprachraum, in den deutschen Sprachraum, in den Klassenraum, wollte sie hinschmeißen, aufwerten, valorisieren, ankurbeln, ihr Echo jenseits des Bogens erhaschen, seine ganze Jagd nach dem Sinn deutschrumänischer Schreibkraft auf den Bogen schnitzen – um es zweckmäßig überspannt mit Lessing zu sagen; er wollte die Geworfenheit eines neuartigen Moments germanistischer Selbstverständlichkeit zeitigen: des rumänischen Moments einer Germanistik nach der Wende.

Zwanzig Jahre –  und kein bisschen gealtert. Omagialausstellung (http://www.ggr.ro/ZGR_20%20Jahre_Ausstellung.htm). Bilder. Sinnbilder. Scharfe Blicke. Immer noch dieselben Haudegen, dieselben Musketiere germanistischer Gesinnung, dieselben Bürger, dieselben Edelleute in der deutschsprachigen Literatur, und natürlich auch noch solche, die inzwischen hinzu kamen. Publish or perish, so das Damoklesschwert der Akademiker, dessen Hieb Guțu mit seinem Traum, mit seinem Einfall, mit seinen Ambitionen jedenfalls für einige Zeit abgewendet hat.
ZGR auf hoher See: Über den Kurs kann man sich immer noch unterhalten, doch eins steht fest: Untergegangen sind wir nicht – und das Wir ist breit angelegt, wie Derrida sagen würde, ginge es ihm darum, die Seeleute auf dem Boot der rumänischen Germanistik zu zählen. Markante Persönlichkeiten blicken einem aus der Zeitschrift entgegen, darunter Hans Bergel, Dieter Schlesak, Grete Tartler, M.S. Batts, Ana Blandiana, Hugo Loetscher und Peter K. Wehrli.

Zwanzig Jahre – und kein unbeschriebenes Blatt. The show must go on: das Gespräch zwischen den Zeilen. Stets kommt etwas Kolossales in den Vordergrund: zum Anschauen, zum Auslasten, zum Vorhaben. Stets ein bisschen mehr in Sicht, ob nun gehandelte Finsternis oder geborgtes Licht. Stets viele Fragestellungen, die in dieser Art und Weise aus dem Standort Deutschland heraus nicht möglich gewesen wären, d. h., stets vor allem auch solche Beitrage, die Lücken füllen, den Mainstream ergänzen, die Ränder auf ihre Kosten kommen lassen, die Ränder, die keine Ränder sein wollen. Niveauvolle Germanistik, das hatte der Herausgeber im Sinn, als er seine Zeitschrift ins Leben träumte, Lebendigkeit, Polemik – und die Kraft, zu staunen, wenn sich Wort an Wort reiht und eine siechende Fachrichtung auch mal in althergebrachter Art und Weise zur Ader gelassen wird; denn wir gehen nicht nur so im Walde vor uns hin.

Die Brücken, die Professor Guțu geschlagen hat, stehen; darunter (an bedeutender Stelle, um es wieder mit Goethe zu sagen) eine Brücke zwischen Generationen, nein, viele Brücken zwischen Generationen. Schon in der allerersten Ausgabe (ZGR 1/1992) kamen auch zwei Studenten zu Wort, von denen es den ersten (Reiner Wilhelm) später zur Deutschen Sendung von Radio Bukarest verschlagen sollte, und den zweiten ... also der zweite hat wohl geahnt, dass es die ZGR weit ins einundzwanzigste Jahrhundert schaffen wird, weswegen er (oder vielleicht passt hier auch mal ein Ich) in Form einer Kurzgeschichte („DRIN“) gleich mal die zwanzig Jahre vorwegnahm, die aus heutiger Sicht inzwischen vergangen sind, aus einem unendlichen Spalt zwischen Vergangenheit und Zukunft heraus den Knoten der alten Dichotomie drinnen/draußen im Spiel löste und einen weit ausholenden Blick auf die hochgelahrten Mitstreiter des germanistischen Pfadfinders George Guțu wagte: „Meine Damen, meine Herren, Sie sind drin.“ Zwanzig Jahre später immer noch drin.