Ein Holocaust in „primitiver“ Handarbeit

Der Schweizer Historiker Simon Geissbühler will mit seinem Buch über die Massaker an den Juden eine Forschungslücke schließen

Der Historiker Simon Geissbühler, geboren 1973, hat bereits mehrere Bücher über das jüdische Leben in Rumänien und der Ukraine veröffentlicht. Geissbühler ist seit 2000 Diplomat, derzeit in der Schweizer Botschaft in Warschau. In seinem Buch „Blutiger Juli“ analysiert der Autor, wie es zu den Massakern kommen konnte und welche Rolle sie heute in der rumänischen Gesellschaft und an den konkreten Tatorten spielen.
Foto: Annett Müller

Am 12. Juli 1941 wurden rund 300 Juden – Männer, Frauen, Kinder – in Climăuţi (Republik Moldau) getötet und anschließend in einen Massengrab (Foto) verscharrt. Es ist unklar, wer für das Massaker verantwortlich ist – ob rumänische Gendarmen oder ein Kommando der Einsatzgruppe D. Auf das Massengrab weist heute nichts mehr hin. Die Einwohner lassen auf dem offenem Feld am Dorfrand von Climăuţi auch ihre Kühe und Ziegen weiden.
Foto: Simon Geissbühler

In Ihrem Buch „Blutiger Juli“ berichten Sie von den Massakern, die an der jüdischen Bevölkerung in der Nordbukowina und Bessarabien verübt wurden – innerhalb von wenigen Tagen Anfang Juli 1941. Rumänien begann in diesem Zeitraum an der Seite Deutschlands seinen Vernichtungskrieg in diesen östlichen Regionen. Die dortigen zahlreichen Massaker sind bislang nur wenig untersucht. Warum?  

Bei der rumänischen Beteiligung am Holocaust geht es auch um Fragen der Schuld. Damit kann man als junger Forscher kaum eine großartige wissenschaftliche Karriere in einem rumänischen Universitätsbetrieb starten, der der Holocaust-Thematik gegenüber mehrheitlich skeptisch eingestellt ist. Man darf nicht vergessen, das Thema war jahrzehntelang ein Tabu. Bis in die 1990er-Jahre gab es dazu in Rumänien fast keine wissenschaftlichen Publikationen. Um die Massaker in der Nordbukowina und Bessarabien zu untersuchen, bedarf es auch rumänischer sowie russischer Sprachkenntnisse. Ein Grund, warum westliche Forscher das Thema bislang wenig bearbeitet haben. Ich bin durch diese Regionen gereist und habe gesehen, dass von dem früher stark ausgeprägten jüdischen Leben fast nichts übrig geblieben ist. Das hat mich stark bewegt. Ich wollte  als Historiker diese brutalen Ereignisse aufarbeiten.

Sie haben für Ihre Untersuchungen am United States Holocaust Memorial Museum in Washington u. a. Unterlagen der rumänischen Armee und des Geheimdienstes eingesehen. Dennoch bemerken Sie, dass wichtige Dokumente zu den Massakern fehlen.

Ich habe das nicht selbst herausgefunden, sondern der rumänisch-israelische Historiker Jean Ancel, der bis zu seinem Tod 2008 wichtige Studien zur Holocaust-Thematik vorgelegt hat. Er kam bei seinen Forschungen zu dem Schluss, dass viele Akten der rumänischen Armee offenbar zerstört wurden, um Beweise für eine rumänische Verantwortung am Holocaust zu vernichten. In der Tat findet man, wenn man sich die Unterlagen der rumänischen Armee ansieht, keine Hinweise auf die Massaker in den Dörfern der Nordbukowina und Bessarabien, weil sie entweder nicht dokumentiert oder die Dokumente vernichtet wurden. Doch es gibt andere Quellen, mit denen ich auf die Zahl der Opfer schließen konnte.

Sie beziehen sich u. a. auf die Interviews mit Holocaust-Überlebenden aus diesen Regionen, die Sie im Visual History Archive des USC Shoah Foundation Institute und in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem eingesehen haben.

Ich gehöre zu den Historikern, die mit diesen Quellen arbeiten, wenn auch behutsam und immer im Abgleich mit anderen Quellen. Die Überlebenden sind traumatisiert, manche Aspekte können sie nicht mehr genau rekonstruieren. In einigen Interviews ist von Nazis die Rede oder von Faschisten, rumänische und deutsche Täter werden vermengt. Bei zwei größeren Massakern in Bessarabien –  mit 800 und mit 400 Toten – kann ich beispielsweise schlichtweg nicht sagen, wer sie verübt hat –  deutsche oder rumänische Truppen oder die lokale Bevölkerung. Das habe ich in meinem Buch auch klar dargelegt.

Bei den Massakern im Juli und August 1941 sind Ihrer Kenntnis nach mindestens 43.500 Juden getötet worden. Wer hat den Befehl zum Töten gegeben?

Es gab mehrere Befehle von ranghöchster rumänischer Stelle, von Marschall Antonescu und vom Ministerrat. Aber schon lange vor dem Vernichtungskrieg im Osten gab es in Rumänien den Hass auf die Juden. Sie wurden stigmatisiert und radikal ausgegrenzt. Rumänien musste im Sommer 1940 die Nordbukowina und Bessarabien an die Sowjetunion abtreten und sich innerhalb weniger Tage aus beiden Regionen zurückziehen. Damals wurden die Juden für den Verlust verantwortlich gemacht – nach dem bewährten Muster, dass sie alle Kommunisten seien. Als Rumänien die beiden Regionen 1941 zurückeroberte, waren die Massaker an den dort lebenden Juden die Fortsetzung der vorhergehenden jahrelangen antisemitischen Politik. Neu war ‚nur’, dass der Krieg der Freibrief für die Täter war, die Juden ungestraft zu töten. Jedem rumänischen Soldaten war in dem Vernichtungskrieg klar, dass es sein Recht war und seine Pflicht, Juden zu ‚eliminieren’.

An den Massenmorden im Juli 1941 war Ihren Forschungen zufolge neben der rumänischen Armee auch die lokale Bevölkerung beteiligt. Hat Sie das überrascht?

Überrascht hat mich, dass das noch nicht erforscht war. Doch eine lokale Beteiligung an den Massakern gab es auch in anderen Ländern. Warum hätte es also in Bessarabien und in der Nordbukowina anders sein sollen? Die rumänische Armee konnte mit Hilfe lokaler Kollaborateure die Juden identifizieren und ermorden. Auch nutzten Einheimische das Machtvakuum aus, um vor dem Einmarsch der rumänischen Truppen ihre jüdischen Nachbarn beispielsweise mit Schaufeln und Spaten zu töten – um sich schamlos an deren Land und Häusern zu bereichern. Es war ein Holocaust von unten, erledigt ,in primitiver Handarbeit‘.

Gab es hinsichtlich der Massaker von 1941, die Sie als die erste Phase des rumänischen Holocaust bezeichnen, Absprachen zwischen Deutschland und Rumänien zur Judenvernichtung?

Die Mehrzahl dieser Massaker in diesen beiden Regionen wurde ohne deutsche Beteiligung durchgeführt. In der Nordbukowina und im nördlichsten Teil Bessarabiens waren vorwiegend rumänische Truppen an der Invasion beteiligt. Sie brauchten damit keine Absprachen mit der Wehrmacht, sie sind alleinverantwortlich für den Holocaust in diesen Gebieten. Doch für andere Orte gab es deutsch-rumänische Absprachen. Ein wichtiges Beispiel sind die Massaker in Iaşi, Ende Juni 1941, wo die deutsche Seite mitbeteiligt war.

Rumänische Revisionisten erklären immer wieder, bei den Erzählungen über die Massaker an den Juden werde maßlos übertrieben und argumentieren, dass Marschall Antonescu keine rumänischen Juden in Vernichtungslager wie Auschwitz deportieren ließ. Warum hatte sich das Antonescu-Regime nicht an der Auslieferung beteiligt?

Gewiss nicht, weil Ion Antonescu seine Meinung über die Juden geändert hätte. Er war und blieb ein Antisemit. Auch waren die Pläne für eine Auschwitz-Deportation der rumänischen Juden aus dem Altreich schon relativ weit vorangeschritten. Doch Antonescu war schließlich das Risiko nach den ersten Misserfolgen der Wehrmacht und der rumänischen Armee im Osten zu groß. Er merkte, dass sich das Blatt wenden würde, und entschied sich aus pragmatischen Gründen gegen eine Auslieferung. Eigentlich widerlegen sich die Revisionisten mit dem Argument selbst, denn sie behaupten auch, dass die Initiative, Juden zu töten, ausschließlich eine deutsche gewesen sei. Doch Antonescus Widerstand ist Beweis, dass er nicht gezwungen war, sich am Holocaust zu beteiligen. Rumänien hat den Holocaust aus eigenem Antrieb praktiziert.

Sie sind rund 70 Jahre nach den Massakern an die einstigen Tatorte in Rumänien, der heutigen Ukraine und der Republik Moldau gereist. Das war zu spät, um Überlebende, Augenzeugen oder Täter zu finden oder haben Sie eine andere Erfahrung gemacht?

Um noch lokale Täter zu finden, ist es in der Tat zu spät. Ich kann als Historiker nur schwerlich akzeptieren, dass es in der rumänischen Militärgeschichtsschreibung nie den Versuch gab, mit den Tätern Interviews zu führen. Das ist eine große Lücke in der Geschichtsschreibung, die nicht mehr zu schließen ist. Doch es lassen sich noch Augenzeugen finden. Im Rahmen eines internationalen Projekts hat der französische katholische Priester Patrick Desbois vor Jahren in ukrainischen Dörfern damit begonnen, die Massaker aufzuarbeiten. Er findet als Augenzeugen zumeist alte Frauen, die in der Jugend die brutalen Vorgänge beobachtet haben.

Sie haben auf Ihren Reisen durch die Dörfer auch die Erfahrung gemacht, dass die Einwohner vor Ort nichts vom Holocaust wissen oder nichts wissen wollen. Was ist Ihnen konkret passiert?

Ich bin beispielsweise in einem Dorf in der Südbukowina zum Bürgermeisteramt gegangen, um nach dem jüdischen Friedhof zu fragen. Der Vizebürgermeister entgegnete, es gebe weder einen jüdischen Friedhof noch Häuser und Land, die einmal in jüdischer Hand gewesen seien. Ich war erstaunt, ich hatte nur nach dem jüdischen Friedhof gefragt, nach nichts sonst. Aber dieses Beispiel zeigt ganz deutlich, wie sensibel das Thema ist. Doch ich habe die unterschiedlichsten Erlebnisse in den Dörfern gemacht. Das Spektrum ist groß: Angefangen von positiver Bereitschaft, mir zu helfen, die Massengräber oder die jüdischen Friedhöfe zu finden, bis hin zu deutlicher Ablehnung.

Es gibt noch heute in Rumänien einen weit verbreiteten, oft latenten Antisemitismus. Ist der nur eine Folge der nicht aufgearbeiteten Vergangenheit?

Der Antisemitismus in Rumänien ist stark, aber er ist im europäischen Vergleich weder ein Einzel- noch ein Extremfall. Das viel größere Problem ist, dass der Antisemitismus hier gesellschaftlich kaum geächtet wird. In Rumänien können sich Politiker antisemitisch äußern oder den rumänischen Holocaust klein reden. Das führt vielleicht zu einem Aufschrei bei jüdischen Organisationen, aber viel haben die Politiker letztlich nicht zu befürchten. Zudem gibt es Hochschulprofessoren in Rumänien, die auf ihren persönlichen Internet-Seiten den Holocaust leugnen. Die dürfen weiter unterrichten. Auch das wäre in Westeuropa unvorstellbar.

Wer den Holocaust in Rumänien leugnet, kann seit 2002 mit einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren Haft belangt werden. Harte Strafandrohungen, die folgenlos bleiben?

In Rumänien gibt es viele gute Gesetze, doch wenn gegen die Leute nicht ermittelt wird, wenn sie den Holocaust leugnen, dann nützen die besten Gesetze nichts. Es mangelt ganz einfach an der Umsetzung der Gesetze.

Sie wollen Ihr Buch, das bislang nur auf Deutsch vorliegt, im kommenden Jahr ins Rumänische übersetzen lassen. Erst dann würde es auch hierzulande wahrgenommen werden. Planen Sie eine abgeschwächte Variante?

Nein. Ich werde das Buch aber überarbeiten, weil ich in der Zwischenzeit neue Erkenntnisse gewonnen habe. Ich will in der rumänischen Fassung noch stärker auf die Frage von Vergewaltigungen der jüdischen Opfer durch rumänische Soldaten eingehen. Das ist ein schwieriges Kapitel, das das Buch eigentlich nicht entschärft, sondern zuspitzt. Im Abschnitt, wo es um die Erinnerungen an  Täter und Orte geht, will ich genereller bleiben. Es soll sich niemand persönlich angegriffen fühlen. Aber ich will mit meinem Buch schon Reaktionen auslösen. Historiker müssen manchmal auch Debatten provozieren.

Der Historiker Andrei Pippidi, der zur Elie-Wiesel-Kommission gehörte, sagt, der Kommissionsbericht über die Gräueltaten des Antonescu-Regimes habe 2004 einen Schock in der Gesellschaft ausgelöst. Doch inzwischen habe sich der Schock über das Verbrechen in Gleichgültigkeit verwandelt. Das stimmt pessimistisch angesichts der Tatsache, dass bis heute die Mehrheit der rumänischen Bevölkerung nichts oder nur wenig über den rumänischen Holocaust weiß.
Auch ich habe schon Sätze gehört, wie: ,Die Holocaust-Thematik interessiert uns nicht, wir haben andere Probleme‘. Aber das Thema muss aufgearbeitet werden, ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung. Je mehr Bücher über den Holocaust erscheinen, desto schwieriger wird es für die Revisionisten, weiter ihre absurden Behauptungen aufzustellen. Mein Buch basiert auf Hunderten Quellendokumenten, die nicht in Zweifel gezogen werden können. Ich sage immer, jedes Buch ist wie ein steter Tropfen, der den Stein höhlt. Langfristig gesehen, wird man damit etwas bewirken können.

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Massaker 1941

2004 legte im Auftrag der rumänischen Präsidentschaft eine Historikerkommission unter Vorsitz des Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel einen Bericht vor, der die Gräueltaten des Antonescu-Regimes offenlegte. Ab 1941 sollen in Rumänien und den von Rumänien kontrollierten Gebieten schätzungsweise bis zu 410.000 Juden und 25.000 Roma ermordet worden sein. Laut Kommission ist außer Deutschland kein Land in einem solchen Ausmaß in Massaker an Juden involviert gewesen.

 

Interview:  Annett Müller