Ein Jahrzehnt Prozesse ohne Ende

Tausenden Menschen in der Hauptstadt drohen Zwangsräumungen

Victor Vozian (l.), Vertreter der FCDL, hört bei dem Protest den Menschen aufmerksam zu.

Maria Aksan tut seit einem Jahrzehnt alles, was sie kann, damit sie ihre Wohnung nicht räumen muss.

Maria Aksan (links) im Wohnzimmer des verstaatlichten Hauses

So sieht die Gegend aus, in der Aksan wohnt.

Der Gerichtshof entschied bisher, dass Maria Aksan in der Wohnung bleiben konnte. Unlängst ist der Mietvertrag abgelaufen.
Fotos: Aida Ivan

Donnerstagvormittag Mitte April. In der Hauptstadt regnet es seit Stunden ohne Pause. Es ist kalt. Am Dâmboviţa Ufer/Splaiul Independenţei stehen drei Menschen vor dem Sitz des Bukarester Bürgermeisteramts. Darunter eine ältere, rundliche Dame mit einem rotschwarzen, unter dem Kinn gebundenen Kopftuch, die lauter als die anderen am Eingang Stehenden spricht. Sie trägt keine Jacke, nur zwei Pullover und zieht hektisch an einer Zigarette, die sie bald wegwirft. Man braucht nicht lange, um zu verstehen, worum es geht. Wörter wie „Zwangsräumung“ und „das Bürgermeisteramt“ spricht sie empört aus, während sie den anderen ihre Lebensgeschichte erzählt.

„Woher soll ich das Geld für eine neue Wohnung nehmen?“ fragt sie. Die zwei schweigsamen Frauen ihr gegenüber nicken. Sie wissen wahrscheinlich auch, wie es ist, die Wohnung zwangsweise  zu räumen. Die Frau muss die Wohnung, die  ihr das  staatliche  Wohnamt  seinerzeit  vermietet hat, in ungefähr einem Monat verlassen. Wohin sie ziehen soll, weiß sie nicht. Die Frau bemerkt ein paar Gendarmen auf der anderen Seite der Straße. Dort soll auch der Protestplatz sein: Sie huscht zum Ufer der Dâmboviţa. Für die geplante Demonstration vor dem Bürgermeisteramt ist sie eine Stunde früher gekommen.

Schon vor 12 Uhr versammeln sich von der Zwangsräumung  bedrohte  und betroffene  Menschen. Ein Mädchen mit einer rosa Mütze hält ein Plakat, auf dem „Locuinţe, nu umilinţe“ (Wohnungen, keine Erniedrigungen) steht. Die Demonstranten beginnen, ihre schwarz-weißen Spruchbänder zu entfalten und sie an den improvisierten, halbmeterhohen Eisenzaun zu hängen. Für den Regen interessiert sich keiner. Der Protest kann beginnen.

Unterstützt werden die Demonstranten von der zurzeit informellen Gruppe  „Gemeinsame Front für Wohnrecht“ (FCDL). Im Namen der Aktivisten spricht Victor Vozian. Er trägt ein Sprachrohr, macht Listen, hört den Menschen zu und erteilt Ratschläge mit seiner beruhigenden Stimme. Der Mann erklärt, wie es zu dieser Situation gekommen ist: „Es gibt Menschen, die schon seit zwölf Jahren von der Rückforderung der Immobilie in Kenntnis gesetzt worden sind“, beginnt er. Vozian präzisiert, dass laut Gesetz kein Mensch ausquartiert werden darf, ohne eine andere  Wohnung angeboten zu bekommen.

FCDL kann Daten liefern

Er erklärt, dass es Hunderte Familien in den Hauptstadtbezirken drei, vier und fünf gibt, die in Kürze auf der Straße landen oder schon vor dem Haus wohnen. Dasselbe ist auch in den vorangegangenen Jahren passiert. Laut Schätzung der FCDL werden jährlich bis zu 1000 Personen  ausquartiert  – insgesamt sollen es bereits mehr als 10.000 Leute sein. Die Bezirksbürgermeister berufen sich auf Mangel an Finanzmitteln.

Davon abgesehen sollten die Lokalräte die Wohnungsanfragen der Betroffenen in weniger als einem Jahr bearbeiten. „Es gibt Menschen, die seit sieben Jahren ihre Anfrage für eine Wohnung immer wieder erneuern. Niemand übernimmt die Verantwortung für diese Probleme. Das Gesetz sagt nicht, wer daran schuld ist“, macht er klar. „Letztes Jahr allein  haben 1800 von Zwangsräumung Betroffene   aus allen Bezirken  Anträge eingereicht,  gewiss nicht alle    Menschen haben ihre Anträge aus den vorigen Jahren erneut eingereicht“, verdeutlicht er. Vozian betont, dass es zugleich auch leere Häuser in Bukarest gibt.

Dabei kritisiert der Volontär auch den Mangel an Transparenz in dieser Angelegenheit. Er hebt hervor, dass wenige Daten öffentlich gemacht werden. Bis 2010 wurden nicht mehr als 800 Wohnungen gebaut, Priorität hatten die Bewohner aus der Altstadt. Einige bekamen Wohnungen an der Nationalstraße Bukarest-Târgovişte. „Seit 2008 bis heute hat das Bürgermeisteramt nicht mehr als 2000 Fälle gelöst“, informiert er.

Vozian erwähnt das Stadtviertel Rahova-Uranus, die seit 2006 geräumt  wird. Andere betroffene Zonen, wo Menschen Zwangsräumung droht, sind : Sabinelor, Rahovei, Chrigiu, Regina Maria, 11 Iunie, Anton Pann, Parfumului, Vulturilor, Calea Călăraşi. „Wir haben bis jetzt mit ungefähr 3000 Menschen Kontakt aufgenommen und sie haben keine Wohnung bekommen“, meint der FCDL-Vertreter. In 80 Prozent der Fälle fordert nicht einmal der Besitzer der Immobilie die Räumung: „Anwaltsbüros haben die umstrittene Forderung für Immobilien übernommen und siedeln ganze Stadtteile aus“, macht Vozian klar. Er erwähnt auch den Gentrifizierungsprozess in Rahova-Uranus, der seit sieben Jahren durchgeführt wird. Der Blumenmarkt wurde unlängst abgerissen. Die Mieten werden wahrscheinlich steigen, nachdem die Menschen ausquartiert wurden. Eine städtische Erneuerung wird auf diese Weise herbeigeführt.

Maria Aksan und das Erbe eines Senators

Im Monat Mai scheint die Sonne auf der Calea Şerban Vodă, eine der ältesten Straßen Bukarests, früher unter dem Namen Podul Beilicului bekannt. Sehr interessante Architektur und ganz viele sanierungsbedürftige Häuser aus früheren Zeiten fallen den Passanten unangenehm auf. Von der Gheorghe-Şincai-Schule braucht man ein paar Minuten zu Fuß, um das Haus zu finden, in dem Maria Aksan wohnt. Es liegt in der Nähe einer Kreuzung. Die Aussicht ist nicht besonders rosig: Auf der rechten Seite sieht man einen ungepflegten Gang, das Haus daneben wurde abgerissen. Geblieben ist ein Platz, an dem der von Fliegen umgebene Abfall in der Sonne herumliegt. Er strömt einen üblen Geruch aus. Der große Haufen ist durch nichts von der Straße getrennt.

„Beim Protest kam niemand vom Bürgermeisteramt, um mit uns zu sprechen“, bemerkt Maria Aksan, die schon seit mehr als 40 Jahren in der Calea Şerban Vodă 124 wohnt. Das abgenutzte Gebäude, das einst einem Senator gehörte, ist ihr Zuhause. Sie hat Tränen in den Augen, als sie in ihrem hellen Wohnzimmer mit einem großen Haufen Dokumente auf dem Schoß erzählt, wie alles vor ungefähr zehn  Jahren begann. Ihre Nachbarin, die besser als sie einen kühlen Kopf behalten kann, hilft ihr dabei, die Geschichte zu erzählen. In der Mansarde wohnt auch die Tochter von Maria Aksan. Dort wurden keine Sanierungsarbeiten durchgeführt und sie schämt sich meistens, Freunde nach Hause einzuladen. Trotzdem ist das alles, was sich die Frau mit einem Kleinkind und einem 1000-Lei-Lohn leisten kann.

Alle Bewohner im Gebäude befinden sich in derselben schwierigen Situation: Sie sind Mieter eines verstaatlichten Hauses, das seit einem Jahrzehnt kontinuierlich zurückgefordert wird. Der Mietvertrag der Hausbewohner ist vor Kurzem abgelaufen. Aksan rechnet mit einem neuen Prozess, den manche ihrer Nachbarn schon angekündigt haben. Die Person, die die Immobilie zurückverlangt, wird wieder fordern, dass Maria Aksan und ihre Familie das Haus verlassen. Die Wohnung, in die sie all ihr erspartes Geld investiert hat.

Die Frau kämpft sich durch verschiedene Gerichtsentscheidungen, die in den Medien widerhallen und ihre Gesundheit angreifen: Ihren aggressiven Hautausschlag auf den Armen versucht sie nicht zu verstecken. An manchen ihrer Familienmitglieder wurden Herzprobleme diagnostiziert. Mit feuchten Augen zeigt sie auf die Dokumente, die sie im Laufe der Zeit gesammelt hat. Sie sind Beweise verschiedener Entscheidungen des Gerichtes, Papiere, die ihr Leben bisher bestimmt haben. Aksan ist eine einfache Frau, die Gesetze hat sie aber auswendig gelernt. Nur eines weiß sie sicher: Ein neuer Prozess steht vor der Tür.

Das Ergebnis?

Ende Juni: Ein weiterer Protest wurde organisiert, diesmal vor dem Bürgermeisteramt des dritten Bezirks. An dem Tag hat es stundenlang heftig geregnet, die Demonstranten haben sich trotz allem versammelt. Den Betroffenen wurde von den Behörden wieder keine Alternative und keine Antwort auf ihre Fragen geboten. Eine klare Zahl der Menschen, die zwangsgeräumt wurden, wurde bisher nicht veröffentlicht. Die Menschen aber machen in ihrem langwierigen Kampf weiter.