Ein Leben im Dienste der Sprachforschung

Nachruf auf die siebenbürgische Mundartforscherin Anneliese Thudt (1927–2018)

Anneliese Thudt

Anneliese Thudt wurde am 29. Mai 1927 in Mühlbach geboren. Nach dem Volksschulbesuch in Leschkirch/Nocrich (der aus Alzen/Alţâna stammende Vater war Rechtsanwalt in Leschkirch, die Mutter hier Lehrerin) und dem Gymnasialabschluss in Hermannstadt/Sibiu studierte sie zwischen 1947 und 1950 Germanistik und Rumänistik an der Philologiefakultät der Universität „V. Babeş„ in Klausenburg/Cluj. Mit Verlegung der Germanistik nach Bukarest setzte sie hier ihr Studium an der Fakultät für Fremdsprachen der Universität „C.I. Parhon“ fort und beendete es 1951 mit abgelegtem Staatsexamen „für deutsche Sprache und Literatur“. Nach einer kurzen Tätigkeit (1951–1952) beim „Neuen Weg“, war sie dann von 1953 bis 1956 als Deutschlehrerin an der Allgemeinschule in Leschkirch tätig und von 1956 bis 1959 vertretungsweise Deutschlehrerin an der Brukenthalschule in Hermannstadt.

Das Wirken und Schaffen der Mundartforscherin und Lexikografin Anneliese Thudt muss im Zusammenhang mit den Anfängen des Hermannstädter Forschungsinstituts betrachtet werden, als nach einer langjährigen Unterbrechung der Wörterbucharbeiten aufgrund eines Kooperationsabkommens 1955 zwischen der damaligen Sozialistischen Republik Rumänien und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin die Wiederaufnahme der Arbeiten am Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch beschlossen wurde. Demzufolge gehörte die Ausarbeitung und der Druck eines neuen Wörterbuchs der siebenbürgisch-sächsischen Mundarten zu der Aufgabe der Rumänischen Akademie, die wissenschaftliche Revision der Manuskripte zu der Aufgabe der Deutschen Akademie. Als Verantwortliche wurden von deutscher Seite Professor Th. Frings und von rumänischer Seite Professor E. Petrovici betraut.

Als 1957 auf Vorschlag beider Akademien eine Wörterbuchkommission gegründet wurde, deren Vorsitzender Professor Bernhard Capesius (geb. 1889, gest. 1981) war, oblag dieser die praktische Durchführung der aus dem Akademieabkommen für das Wörterbuch erwachsenden Aufgaben. Unter der Leitung von Capesius wurde der von der Akademie der Sozialistischen Republik Rumänien neu gegründeten Sektion für Germanistik die Arbeitsstelle des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs unter der Leitung von Professor Mihai Isbăşescu (geb. 1915, gest. 1998) angegliedert. Dem damaligen Wörterbuchteam erster Stunde (das seinen Sitz in Hermannstadt beibehielt) gehörten folgende wissenschaftliche Mitarbeiter an: B. Capesius (1956–1968) als wissenschaftlicher Berater, Gisela Richter (1956–1977), Anneliese Thudt (1956–1986) und Roswitha Braun (1960–1972).

Anneliese Thudt war für die nun folgende wissenschaftliche Laufbahn als Mundartforscherin recht gut ausgestattet. Von Haus aus beherrschte sie sowohl die Alzner als auch die Leschkircher Mundart und hatte dazu auch noch ein absolutes Gehör, das sie im Laufe der Jahre weiter schulen konnte. Deshalb muss es als eine äußerst glückliche Fügung betrachtet werden, dass sie von 1956 bis 1986 (30 Jahre) wissenschaftliche Mitarbeiterin des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs war. Von Professor Bernhard Capesius zur Lexikografin herangebildet, konnte sie als Verantwortliche desselben (1977 bis 1986) die Wörterbucharbeiten mit Kompetenz leiten, die jüngeren Mitarbeiterinnen bei ihren wissenschaftlichen Bemühungen unterstützen und zu eigenen Studien anleiten. Von den bisher 10 erschienenen Bänden des Wörterbuchs ist die Lexikografin Mitverfasserin von sechs Bänden. Die Bearbeitung der Bände G, H–J, K (1971–1975), L (1993) und M (1998) hat sie maßgebend bestimmt, für den Band N–P (2002) Wortartikel bearbeitet. Dazu muss bemerkt werden, dass die letzten drei Bände L, M, N–P nach nochmaliger wissenschaftlicher Revision, erst in späteren Jahren, nach ihrer Pensionierung, dank Förderung verschiedener Stiftungen in Druck gehen konnten.

Die in den 50er und 60er Jahren mit Gisela Richter (zeitweilig auch mit Heinrich Mantsch und Ruth Kisch vom linguistischen Institut Bukarest) unternommenen Erhebungen in den meisten Ortschaften des siebenbürgisch-sächsischen Mundartgebietes gehören heute neben Mundartbelegen „um 1900“ zur wesentlichen mundartlichen Materialgrundlage des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs. Ein Resultat der gemeinsamen Feldforschung mit Gisela Richter ist auch der Märchenband „Der tapfere Ritter Pfefferkorn“ (Kriterion Verlag, Bukarest 1971), der eine beachtliche Auflage erlebte und wiederholt neu verlegt wurde.

Eine neue Herausforderung für die Mundartforscherin brachte dann die administrative Eingliederung des Forschungsinstituts (damals Zentrum für Gesellschaftswissenschaften Hermannstadt) in die Fakultät für Geschichte und Philologie von Hermannstadt (gegründet 1969) in dem Zeitraum 1970 bis 1979. Von 1972 bis 1973 führte sie im zweiten Semester des vierten Studienjahrs an der Philologiefakultät „Lucian Blaga“ in Hermannstadt die von Professor Isbăşescu begonnenen Vorlesungen über Deutsche Gegenwartssprache weiter; 1976/77 hielt sie im zweiten Semester des vierten Studienjahrs ein Seminar über deutsche und siebenbürgische Mundartenkunde und betreute 27 Diplomarbeiten der Studenten, deren Thematik der siebenbürgisch-sächsischen Mundartforschung zuzuordnen ist. Damit sie diese Lehrtätigkeit durchführen konnte, wurde ihr bewilligt, nur eine halbe wissenschaftliche Stelle am Forschungsinstitut zu halten.

Die von Anneliese Thudt neben der Wörterbucharbeit verfassten wissenschaftlichen Beiträge behandeln Grundlegendes der siebenbürgisch-sächsischen Dialektologie und sind deshalb von bleibendem Wert. Sie beziehen sich hauptsächlich auf phonetische, dialektgeografische, soziologische Aspekte des Siebenbürgisch-Sächsischen sowie auf Wortforschung und sind vor allem in den „Forschungen zur Volks- und Landeskunde“ veröffentlicht worden. Wir wollen einige anführen: „Eine Besonderheit des siebenbürgischen Konsonantismus“ (1966); „Das Gesetz der Auslauterweichung im Siebenbürgisch-Sächsischen“ (1968); „Zur sprachlichen Grenzbildung im Siebenbürgisch-Sächsischen“ (1975); „Siebenbürgisch/rheinische Wortform“ (1980); „Siebenbürgisch-sächsische Lehnwortgeografie: Zur Wechselbeziehung von „Nutš/Nuss“ (1984), dann auch „Sprachsoziologische Schichtung einer Lokalmundart“ (in „Résumé des communications. Abstracts of Papers. Actes du X-ème congrès international des linguistes“, Bucarest 1978). Dazu kommt ihre Mitarbeit am „Siebenbürgisch-Sächsischen Wortatlas“ (erschienen in Marburg 1997).

Während ihrer wissenschaftlichen Laufbahn konnte die Mundartforscherin sich an einigen positiven Ereignissen erfreuen: 1969/70 nahm sie ein Humboldtstipendium für sechs Monate beim Marburger Sprachatlas wahr; dem folgte 1995 die Verleihung des Timotei-Cipariu-Preises (zusammen mit anderen Bearbeiterinnen) für den L-Band des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuchs; 2000 wurde sie für ihre 30-jährige Wörterbucharbeit von der Siebenbürgisch-Sächsischen Stiftung (Deutschland) mit dem Hans-Christian und Beatrix Habermann-Preis für Wissenschaft und Forschung ausgezeichnet.
Obwohl Anneliese Thudt im September 1986 vor ihrem 60. Lebensjahr genötigt war, in den Ruhestand zu treten, ist sie der Mundartforschung weiterhin treu geblieben. Ergaben sich bei der Wörterbuchbearbeitung nicht einfach zu lösende Zweifelsfragen, stand die Altmeisterin mit gutem Rat immer wieder zur Verfügung. Auch verzettelte sie zu Hause neu gesammeltes Wortmaterial und bearbeitete Flurnamensammlungen aus 30 Orten, sodass der 9. Band (Q–R, 2006) und der 10. Band (S-Schenkwein, 2014) noch damit bereichert werden konnte.

Es war ihr bewusst, dass die Fragen, die sich dem Dialektologen auch heute noch stellen, endlos sind, weil bestimmte Einzeluntersuchungen fehlen. So beschäftigte sie sich im Alleingang mit lautgeschichtlichen Fragen im Bereich der ihr vertrauten südsiebenbürgischen Mundarten; auf dem Gebiet der Sprachsoziologie mit Fragen bezüglich bestimmter Ortschaften; mit Siedlungsgeschichtlichem im Spiegel der Mundart sowie mit Fragen der Wortgeografie. Auch wenn die von ihr auf dem Papier festgehaltenen Elaborate nicht mehr veröffentlicht werden konnten, so blieb trotzdem die im Stillen geleistete Arbeit für die Sprachforscherin eine persönliche Genugtuung.

Letztlich nahm sie aktiv am öffentlichen Leben unserer Stadt teil, machte Fremdenführungen, besuchte einen Bibelkreis, Ausstellungen sowie Vorträge, belebte Diskussionen mit interessanten Bemerkungen und Anregungen. Ihren 90. Geburtstag beging die Jubilarin im Altenheim „Dr. Carl Wolff“ (Hermannstadt) bei gesicherter Pflege und Fürsorge. Dass sie noch in diesem hohen Alter „geistig rege“ war, erfüllte sie mit Dankbarkeit. So gehörten Mundartfragen, Kultur- und Kunstgeschichte sowie Pflanzenkunde weiter zu ihrem weitgefächerten Interessengebiet. Viele Besuche von Freunden und Bekannten blieben nicht aus. In letzter Zeit ließen jedoch ihre physischen Kräfte nach. Anneliese Thudt ist am 24. Januar infolge eines zweiten Schlaganfalls im Altenheim „Dr. Carl Wolff“ sanft entschlafen. Ihr Ableben bedeutet für die siebenbürgisch-sächsische Mundartforschung, aber auch für das gesamte geistige Leben Siebenbürgens einen großen Verlust.

Sigrid Haldenwang
Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften Hermannstadt der Rumänischen Akademie