Ein Tropfen im Meer

Ortrun Rhein zum heutigen, fünfzigsten Geburtstag

Ortrun Rhein im Hof des Altenheims
Foto: Hannelore Baier

In ihrem Büro steht kein Computer, auch kein Laptop, sondern eine Kaffeemaschine. Die Tür zum Sekretariat: immer offen. Täglich kommen Menschen vorbei, einige nur auf einen Schwatz, und alle sind willkommen. Hat man als Direktorin dreier diakonischer Einrichtungen so viel Zeit übrig für seine Mitmenschen? Ortrun Rhein, dunkle Jeans und T-Shirt, den kleinen Rucksack stets griffbereit, strahlt Freundlichkeit aus. „Es tut gut, mit ihr zu reden. Es gibt mir selbst Kraft, wenn ich sehe, wie vollständig sie sich für Menschen in Not einsetzt und welche Ergebnisse das bringt“, sagt einer ihrer Bekannten. Alle sind sich einig: Das ist ein unbestechlicher, geradliniger Mensch, eine Frau, die nichts für sich selbst, aber alles für die ihr Anvertrauten tut, „das Gegenteil eines Chefs in Rumänien“, wie es eine Freundin auf den Punkt bringt.

Seit bald zwanzig Jahren leitet Ortrun Rhein, Erzieherin und studierte Theologin, das Dr. Carl Wolff-Altenheim in Hermannstadt. Das Gelände am linken Zibinsufer, in der Unterstadt, hat sich unter ihrer Leitung gewandelt: Heute steht auch das 2006 erbaute Hospiz darauf und seit 2016 funktioniert in einem nicht mehr genutzten Gebäude ein Kinderhospiz, das erste landesweit. 115 Angestellte arbeiten, teils rund um die Uhr, in den Häusern. Ortrun Rhein versteht sich als eine unter ihnen, eine, die selbst einspringt in der Pflege, die Ersatz sucht, wenn Personalmangel droht, die persönlich alle Neuzugänge übernimmt, die allerdings auch die Gelder sichern muss für den Betrieb und den zukünftigen Ausbau, denn daran denkt sie immer. Es sei ein Tropfen, meint sie, ein winziger Tropfen im unendlichen Meer, was in den drei Häusern für ältere und schwer kranke Menschen getan werden könne.

Auch ein kleiner Tod ist groß

Daria war das erste Kind, das sie hat gehen lassen müssen. Dazu schrieb sie selbst: „Man löst sich nicht leicht von einem Kind, das fast elf Monate dazugehörte, mit ihren verschleimten Lungen, den knappen 3 kg und mit dem seligen Lächeln, wenn sie bei jemandem im Arm lag. Es waren in diesen Monaten mit meine liebsten Stunden, sie abends so lange im Arm zu halten, bis sie eingeschlafen war.“ In Ortrun Rheins Wohnung liegt ein Kinderbuch. Sie hat keine eigene Familie, also liest sie selbst darin: „Leb wohl, Hoppi“, ein etwas abgegriffener Buchdeckel, Zeichnungen fast wie von Chagall zu einer Geschichte über Trauer um einen kleinen Vogel und Trost im Erinnern an seine lustigen Abenteuer.

Mensch bleiben trotz täglichem Abschied, Geduld und Hingabe, immer und immer wieder, auch wenn in sechs Tagen 17 Menschen sterben, wie neulich im Hospiz, wie schafft man das? Eine ihrer ältesten Freundinnen erinnert sich: „Seit ich sie kenne, übernimmt Ortrun Verantwortung. Wie von selbst ergab es sich, dass sie als Päda-Schülerin Klassensprecherin war, später Kuratorin der Theologiestudenten, dass sie als junge Frau ein SOS-Kinderdorf in Heltau mitgegründet hat, weil sie erkannte: das brauchen wir in Rumänien.“ Wenn sie abends über die Zibinsbrücke spaziert, weil wieder kein Brot im Hause ist, kommt Ortrun Rhein am Tageszentrum für benachteiligte Kinder vorbei, einem Haus, in dem versucht wird, Struktur und etwas Freude in den Alltag von Kindern zu bringen, die sonst nur auf der Straße eine Alternative hätten. Auch dieses Haus hat sie gegründet, es eine Weile mitgestaltet, für die Finanzierung gesorgt und schließlich in andere Hände übergeben. Kinder sind Opfer, Kinder leiden ohne Schuld, Kinder verdienen alle Zuwendung der Welt.

Ein Brief                               
von Elie Wiesel

Wo verbringt die Frau Direktorin ihren Urlaub? Sie gönnt sich fast keinen und vertritt lieber den Arzt oder den Sekretär, wenn diese ausspannen. Ihr Team soll fit sein für die Arbeit im Heim und motiviert für alles, was der Alltag in den drei Häusern bereithält. Eine Reise führte sie heuer dann doch nach Krakau. Einfach wohnen, mit Freundinnen abends ins jüdische Viertel ausgehen und tagsüber auf den Spuren des großen Grauens wandeln: Auschwitz, Birkenau, Schindlers Fabrik. Sie kannte das alles aus Büchern, aus Filmen und war nun selbst an den Orten, die Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel beschrieben hat. Ihm konnte sie vor Jahren einmal selbst die Hand reichen, von ihm besitzt sie einen Brief! Und wenn man sie fragt, welchen Ort auf Erden sie gerne besuchen möchte, dann antwortet Ortrun Rhein: Das Holocaust Memorial Museum in Washington.

Sechs Huskies

Trotz ihrer Geradlinigkeit kann die Direktorin des Carl Wolff-Heims Konsens erzielen. Die Behörden, mindestens auf Kreisebene, respektieren diese Frau und legen ihr keine Steine mehr in den Weg. Inzwischen ist ihre Arbeit anerkanntes Vorbild für ähnliche Institutionen. Konsens wird auch privat geprobt, täglich vor der Wohnungstüre: Kaum hören sie die Herrin, stürmen sechs Huskies die Hintertreppe hoch und balgen um ihre Gunst. Man knurrt, man schubst sich und versperrt die Tür. Ein Keks für jeden, ein Wort, ein Streicheln, und schon liegen die Sechs lammfromm auf dem Boden. Jeder hat sein eigenes Temperament, seine besondere Stellung im Rudel. Wehe, wenn sie ausbüxen! Auf der Suche nach den Ausreißern hat Ortrun Rhein alle Hunde der Gegend, erst recht alle Huskies kennengelernt, bei Tag wie bei Nacht.

Einfache Dinge

Sie dürfe gar nicht daran denken, meint Ortrun Rhein, wie wenigen Menschen, besonders Kindern, ihre Häuser helfen können, „sonst packt einen die große Verzweiflung.“ Das drückt Mutter Teresa in einem berühmten Satz so aus: „Manchmal haben wir das Gefühl, dass das, was wir machen, nur ein Tropfen im Meer ist, aber das Meer wäre weniger, wenn ein Tropfen fehlen würde.“ Es geht auf Dezember zu. Vorüber ist das fröhliche Sommerfest im Altenheim, Weihnachten naht und mit ihm die Zeit der Krippenspiele: eines gestalten die Mitarbeiterinnen, das andere, das eindrucksvollste, die Bewohner und Bewohnerinnen selbst. Die Direktorin wird mit beiden Gruppen proben, wird zur Flöte greifen, die selbst entworfenen Szenen zur Aufführung bringen. Wer sagt denn, dass Hirten und Engel jung sein müssen?

Jeder Tag im Altenheim, im Hospiz und im Kinderhospiz von Hermannstadt ist ein intensiver Tag. Und so bleibt mir die Frage im Halse stecken, die ich Ortrun Rhein eigentlich stellen wollte: „Liebe Ortrun, bist du glücklich?“ Wir sind glücklich, dass es dich gibt!