Ein vernünftiges Plädoyer gegen den Missbrauch der Geschichte

Lucian Boia sprach in Temeswar über das germanophile Rumänien

1944 in der Hauptstadt geboren, unterrichtete Professor Lucian Boia an der Geschichtsfakultät der Bukarester Universität. Sein jüngstes Buch behandelt die Vereinigung Siebenbürgens mit dem rumänischen Altreich im Kontext des Zusammenbruchs Österreich-Ungarns, des Russischen und des Osmanischen Reichs und der darauffolgenden staatlichen Neubildungen und Grenzverschiebungen.
Foto: Christian Chioncel

Zwar liefere die Geschichte allerlei Argumente, mit denen im Grunde genommen fast alles begründet werden kann, man solle sie aber für die Zwecke der Gegenwart nicht missbrauchen, so der Rat des angesehenen Bukarester Historikers Lucian Boia. Auf Einladung des Deutschsprachigen Wirtschaftsclubs Banat (DWC) und des Temeswarer Vereins „Agora Unit” sprach der Professor über das germanophile Rumänien vor und während des Ersten Weltkriegs. Im Auditorium der Bibliothek der Technischen Universität Temeswar fanden sich zahlreiche Temeswarer Bürger ein, darunter Mitglieder des dem DWC nahe stehenden Rotary-Clubs, Universitätsprofessoren, Studierende und viele Geschichtsbegeisterte, die dem Vortrag von Boia für fast zwei Stunden aufmerksam zuhörten. In ihrer Vorstellung erinnerte sich die Vorsitzende des „Agora Unit”-Vereins, Geschichtslehrerin Simona Hochmuth, an ihr Studium in Bukarest, Professor Lucian Boia habe viele Studentengenerationen nicht nur begeistert, sondern diesen auch beigebracht, wie Geschichte unterrichtet werden soll, wie historische Zusammenhänge analysiert und Fakten im richtigen Kontext verstanden werden müssen.

Boia, dessen Bücher zu wichtigen Fragen der rumänischen Geschichte zu den am besten verkauften Sachbüchern der letzten zwei Jahrzehnte gehören und mittlerweile in mehrere Sprachen übersetzt wurden, ging zunächst auf die Modernisierung der Donaufürstentümer im 19. Jahrhundert ein. Er beschrieb dann die Nachahmungstendenz der rumänischen Kultur und ihrer Geisteseliten, die vor allem im französischen Modell eine Inspirationsquelle fanden. Anfang des 20. Jahrhunderts blickten diese dann verstärkt auch nach Deutschland, dessen Vorrang in Wissenschaft, Bildung und Kultur sie allmählich erkannten. Unterstrichen wurde ebenfalls die herausragende Rolle des ersten rumänischen Königs aus dem Hause Hohenzollern-Sigmaringen, König Karl I., der zwar aus Deutschland kam, jedoch von Frankreichs Kaiser Napoleon III. unterstützt wurde. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs stand Rumänien, laut Boia, vor einer schwierigen Wahl, schließlich entschied sich das Land für Siebenbürgen und nicht für Bessarabien, also gegen Österreich-Ungarn und Deutschland und für die Mächte der Entente. Es soll aber nicht so gewesen sein, dass die Anhänger der Zentralmächte kaum zu beachten waren, sie waren zahlreich und ihre Argumente wogen entsprechend. Vor allem die Angst vor einem unberechenbaren Russland und die fortschreitende, mitunter gewaltsame Russifizierung Bessarabiens, die viel schlimmer gewesen sein soll als die Magyarisierung Siebenbürgens, habe die Germanophilen dazu gebracht, Rumäniens Zukunft in einer Allianz mit Deutschland zu sehen.

Am Ende sprach sich die Geschichte gegen diese in Rumäniens damaligem Establishment aus, doch 1914 und selbst 1916 war der Zusammenbruch der Mittelmächte, genauso wie jener des Russischen und des Osmanischen Kaiserreichs nicht unbedingt vorhersehbar. Am Ende hatte das Land einfach nur großes Glück gehabt und Siebenbürgen und Bessarabien gleichzeitig bekommen. Gezählt hatte allein das Kriterium der Bevölkerungsmehrheit und nicht jenes des historischen Rechtsanspruchs, das zum Beispiel das besiegte Ungarn geltend machen wollte.

Auch deshalb sehe er keine allzu große Gefahr, dass das Konstrukt Rumänien keinen Bestand mehr haben werde. Er wisse zwar nicht, wie sich das Land in den kommenden 100 Jahren entwickeln werde und mit Prognosen solle man sowieso eher zurückhaltend sein, aber im großen Ganzen hätten es die Rumänen geschafft, fast alle von ihnen bewohnten Gebiete zu vereinen. Vorsicht sei jedoch immer geboten, die Geschichte sei zu oft missbraucht worden. Denn man könne sie immer wieder nach den Vorstellungen der Gegenwart biegen und sie könne sich nicht wehren.

In der anschließenden Diskussion beantwortete Boia unter anderem die Frage, ob das föderale deutsche Staatsmodell für Rumänien nicht eher in Frage gekommen wäre als der stark zentralisierte Staatsaufbau Frankreichs. In der Tat, ein föderales Muster wäre die beste Lösung gewesen, aber genau deswegen haben sich Rumäniens Eliten nicht dafür entschieden, weil es so am besten gewesen wäre. Die große Angst, das Land könne wieder auseinanderfallen, habe Rumäniens Führung über das ganze Jahrhundert verfolgt, das erkläre vieles. Zum Banat erklärte er, dass selbst dann, wenn man in Bukarest der Meinung sei, das Banat sei ein Teil Siebenbürgens, es also einfach zu Siebenbürgen gezählt werde, weise die Region eine andere geschichtliche Entwicklung auf, die sie von Siebenbürgen im engeren Sinn stark genug trenne.

Wichtig sei, dass sich die Geschichtsschreibung von alten Mythen, die allein den politischen Ansprüchen der Gegenwart dienen, verabschiedet. Am Ende, als Professor Boia seine in deutscher und rumänischer Sprache erschienenen Bücher signierte, waren die meisten Teilnehmer der Meinung, dass sie dem Vortrag eines wahren Wissenschaftlers zugehört hatten: einfach in der Sprache, vernünftig und frei von jedweden Emotionen im Ton, die Wahrheit suchend und seiner Verantwortung gegenüber seinem Publikum und sich selbst stets bewusst.