Einige Millimeter der Securitate-Akte

Zum Stück „X mm din Y km“ von Gianina Cărbunariu und „Colectiv A“

Mădălina Ghiţescu, Paula Gherghe, Rolando Matsangos, Toma Dănilă und Gianina Cărbunariu bei der Diskussion nach der Vorstellung in Temeswar
Foto: Constantin Duma

Beim Eintreten in den Saal erhalten die Zuschauer einen Stuhl. Der darf wo immer auf dem mit Kreide beschriebenen Boden aufgestellt werden. Nach und nach bildet sich ein Kreis, um den Darstellern in der Mitte Platz für die Vorstellung zu lassen. Diesen benötigen sie eigentlich gar nicht, gespielt wird hinter oder im Publikum. Das Geschehen kann auch auf den Bildschirmen zu beiden Seiten des Saales verfolgt werden.

Der schwarze Boden des einer Sporthalle ähnlichen Saales ist mit „Informativen Noten“ (Note informative) beschrieben. Sie stammen aus der 10.000 Blatt umfassenden Akte, welche die Securitate über den Schriftsteller Dorin Tudoran angelegt hatte. In ihr Visier war er 1980 geraten. Eine Auswahl der sich auf Kilometer erstreckenden Noten veröffentlichte Tudoran 2010 bei Polirom unter dem Titel „Eu fiul lor. Dosar de securitate“ („Ich, ihr Sohn. Securitate-Akte“). Faksimile werden während des Spiels eingeblendet. Das Protokoll eines Gespräches, zu dem der Schriftsteller 1985 zum Parteikomitee des Munizipiums Bukarest zitiert worden war, inszenierte die Dramatikerin und Regisseurin Gianina Cărbunariu unter dem Titel „X mm din Y km“. Die Produktion des „Colectiv A“ hatte im vorigen Jahr Premiere, wurde im Februar im Ungarischen Staatstheater in Temeswar/Timişoara und am Wochenende 9. und 10. März erneut im Studiosaal der Pinselfabrik in Klausenburg/Cluj gespielt. „Colectiv A“ ist ein Kulturverein, der seine Tätigkeit in dieser ehemaligen Pinselfabrik durchführt, die zu einem alternativen Kulturzentrum umgewandelt wurde. Hier finden unter Beteiligung zahlreicher junger Volontäre interdisziplinäre (Tanz, Theater, Video und Klang) Workshops, Tanz- und Videoproduktionen oder Ausstellungen statt und es gibt Künstlerateliers. 

Die zehn Seiten des dramaturgisch bearbeiteten Protokolls geben das „Gespräch“ wieder, das zwischen Dorin Tudoran und Dumitru Radu Popescu, bekannt als „Popescu-Dumnezeu“, damals der Vorsitzende des Schriftstellerverbands, sowie Nicolae Croitoru, ein offensichtlich von der Securitate instrumentalisierter Funktionär stattgefunden hat. Die vierte Gestalt des Stückes ist die „operative Technik“, im Klartext: die Abhöranlage. Wer wen spielt, losen die vier Darsteller – Toma Dănilă, Paula Gherghe, Mădălina Ghiţescu und Rolando Matsangos – jeweils zu Beginn einer Vorstellung aus. Sie spielen die Rollen abwechselnd, bis sie nicht mehr weiter können – was sie auch mitteilen. Dann werden die Requisiten getauscht – die Pelzmütze des Aktivisten beziehungsweise der Schal und das rote Notizbuch von D. R. Popescu – und die Handlung wird fortgesetzt. Das „Gespräch“, zu dem Tudoran „zur Partei“ zitiert worden war, umfasst die Bemühen der beiden Aktivisten, den Schriftsteller von seinem Vorhaben das Land zu verlassen, abzubringen. Der vormalige Redakteur der Kulturzeitschriften „Flacăra“ und „Luceafărul“ hatte die Ausreise aus Rumänien 1984 beantragt, woraufhin er seinen Arbeitsplatz verlor und auch andere Schikanen ertragen musste. Wegen der Weigerung der Behörden, auf den Ausreiseantrag zu antworten, richtete er sich in Denkschriften an Suzana Gâdea, die Vorsitzende des Rats für sozialistische Kultur und Erziehung, und an Nicolae Ceauşescu. Darin schilderte er unter anderem die tiefe Kluft zwischen dem, was die Propaganda vorgaukelt und der Wirklichkeit. Diese Schizophrenie könne er nicht mehr ertragen, schrieb er. Die beiden Funktionäre versuchten diese Kluft zu minimalisieren und zogen im „Dialog“ alle Register: sie appellierten an seinen Patriotismus, führten fadenscheinige Argumenten ins Feld, bis zu unverhohlenen Drohungen mit einem Strafprozess und Ohrfeigen. Die Darsteller wiederholen die Dialogfetzen in entsprechender Nuancierung: von leise, persuasiv bis hin zu aggressiv und laut geschrien. Zuletzt liegt das Mikrofon, über welches das gesamte Gespräch selbstverständlich abgehört und registriert worden ist, nicht mehr unter, sondern auf dem Tisch. Es sind die Funktionäre, die reinbrüllen und sich zu rechtfertigen versuchen, wieso sie Tudoran von seiner „feindlichen Haltung“ nicht abgebracht haben. Die Darsteller sind mittlerweile an der Saaltüre angelangt, außerhalb des Zuschauerkreises. Personen wie Tudoran, wurden aus der Gesellschaft isoliert. 

Die Idee, eine Vorstellung ausgehend von Dokumenten aus dem Archiv der ehemaligen Securitate zu gestalten kam Gianina Cărbunariu bei der Arbeit am Projekt „Sold out“, in dem der Freikauf der Rumäniendeutschen dramatisch verarbeitet worden ist. Das Stück hatte sie 2010 bei den Kammerspielen in München inszeniert, gezeigt worden ist es auch in Temeswar. Ein weiteres heikles Thema der jüngsten Geschichte in Rumänien, den interethnischen Konflikt von März 1990 in Neumarkt/Tg. Mureş, griff Cărbunariu in „20/20“ auf, Stück, das auch beim Internationalen Theaterfestival in Hermannstadt/Sibiu aufgeführt worden ist. Mit den Millimetern Text aus der Kilometer langen Akte von Tudoran – der seinerzeit in Hungerstreik getreten, daraufhin von der Miliz festgenommen worden war und im Juli 1985 schließlich ausreisen durfte, nachdem der Fall in den internationalen Medien bekannt geworden war – möchte die Dramatikerin zum einen der Frage nachgehen, inwieweit die Wirklichkeit auf Grund der Securitate-Dokumente rekonstruiert werden kann. Das ausgewählte Protokoll enthält eine Reihe Angaben, die nicht mit den von Tudoran gemachten übereinstimmen. Zum anderen kennzeichnen die Arroganz der Mächtigen gegenüber den Bürgern, der Opportunismus der Intellektuellen, die fehlende Hinterfragung der in schönstem Licht dargestellten Fakten oder das Fehlen der Solidarität auch die heutige Gesellschaft in Rumänien. 

Diese Themen werden in den Diskussionen angesprochen, die jeder Vorstellung folgen. Am vergangenen Freitag haben an ihr rund 15 Personen aus dem überwiegend aus Jugendlichen bestehenden Publikum teilgenommen. Die Vorstellung dauerte eineinhalb Stunden, diskutiert wurde über drei Stunden lang.