Endlich in Israel angekommen... und nun?

Das Künstlerdorf Ein Hod ist ein Hafen für Silvia Berg. Über die Odysee einer Jüdin und ihrer Vorfahren

Silvia Berg als junge Soldatin in Israel, gleich nach ihrer Einwanderung

Kinderbilder aus Argentinien mit Eltern und Bruder Fotos: privat

Landschaft in Ein Hod, gleich neben Tuvia Iusters Haus, in dem Silvia heute noch wohnt

Landschaft in Ein Hod, gleich neben Tuvia Iusters Haus, in dem Silvia heute noch wohnt

Meine Unterhaltung mit Silvia Berg im März 2014...

Ein Hod liegt geschützt im karstigen Karmelgebirge von Israel, der Einfall und Überfall der Terroristen, der Hamas, ist weiter weg. Hier oben ist die Welt rein äußerlich in Ordnung, meint Silvia Berg, die Lebensgefährtin des verstorbenen rumänischstämmigen Künstlers Tuvia Iuster, die seit vielen Jahren hier lebt (siehe ADZ vom 13. Oktober 2023, „Ein Hod“). Am 7. Oktober hörte ich ihre verzweifelte Stimme am Telefon. „Wo soll ich hin, in welches Land, in meinem Alter?“ In dem alten arabischen Dorf läuft die Angst und die Sorge von Künstlerhaus zu Künstlerhaus. Silvia Berg, die 1959 als junge Frau von Argentinien nach Israel kam, ging in das Land, das ihr Schutz bot, wo sie als Jüdin ohne Angst leben konnte. Sie bangt nun um ihre Freiheit, um ihren Schutz, um ihr einst freiheitlich denkendes Land: Israel.

Kriege und Bomben hat sie in den Jahren erlebt, doch so etwas Schlimmes, wie am 7. Oktober 2023, noch nie. So etwas Brutales, so etwas Grausames… Die Situation beschreibt sie als unerträglich. Wie wird die Zukunft? Niemand hat eine Ahnung. Das zieht sie fast in den Abgrund. Gespräche mit den anderen, den ihr bekannten Künstlern im Dorf sind ähnlich. Doch auch Mut machen sie sich gegenseitig. Die Künstler sind geblieben und hoffen inständig, dass der Krieg bald zu Ende geht und Netanjahu die Regierung verlassen muss. Schließlich hat er dazu beigetragen, wie sich von heute auf morgen die israelische Welt auf brutalste Weise verändert hat. Manche ihrer Freunde sind aus Angst nach Europa geflohen, doch kamen einige bereits zurück. Feststellen mussten sie, dass es für sie als Juden in anderen Ländern gar nicht gut steht, auch in Deutschland ist der Judenhass zu merken. Die Angst vor diesem Hass treibt sie zurück an die Levantinische Küste, in ihr Land, dass ihnen Freiheit bot. 

Wir sitzen hier in einer zauberhaften Landschaft in Israel, gegenüber des Künstlerdorfes Ein Hod. Ich weiß, dass du in Argentinien 1941 geboren wurdest. Auf deiner Terrasse essen wir hessischen Zwetschenkuchen, den du selbst gebacken hast. Wie kommt so etwas zusammen?

Ja, das ist meine Kinderstube. Ich bin in Avigdor, einem kleinen Dorf bei Parana geboren, wo nur deutsche Juden wohnten. Mit vier Jahren kam ich nach Buenos Aires. Dort bin ich 1948 eingeschult worden, zu Hause war die deutsche Kultur. Das alles hat sich bei mir eingeprägt und ist hängen geblieben. Das ist ein Teil von meinem Leben.

Wie und warum sind deine Eltern nach Argentinien gekommen? Sie sind in Deutschland geboren worden, seit Generationen lebten sie in diesem Land...

Argentinien war das einzige Land, wo Juden noch aufgenommen wurden, als Hitler sie bereits verfolgte. 1936 kam mein Vater in Argentinien an und erst 1938 meine Mutter. Andere Länder haben die Juden abgewiesen. Meine Eltern wollten leben, waren jung, wollten nicht im KZ sterben, wie ein Teil meiner Familie.

Du hast deine Kindheit in Argentinien verbracht, umgeben von der deutschen und der spanischen Kultur, und bist mit 19 Jahren nach Israel gegangen.

Ich wollte in ein Land, wo ich hingehöre. In Argentinien wurde mir immer gesagt, dass es nicht mein Land sei und ich hätte hier nichts zu suchen. Dies ist unser Land und nicht euer Land, meinten die Argentinier.

Du hast Argentinien auch nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt, wurdest 1947 eingeschult. Nicht nur Juden aus Deutschland haben dort gelebt. Aus Deutschland kamen auch ganz andere, ehemalige Nazis. Habt ihr mit denen auch zu tun gehabt?

Meine Schule ist 1936 von einer Stiftung gegründet und gebaut worden, von einem Deutsch-Schweizer, für Kinder, die aus Deutschland fliehen mussten und kein Spanisch konnten. Es war eine Grundschule, halb staatlich, nachmittags hatten wir Deutsch- und Englisch- Unterricht. Nach dem Krieg wurden viele Lehrer aufgenommen, die aus den Konzentrationslagern kamen. Es waren Juden, aber auch Nicht-Juden. Ich hatte einen Deutschlehrer, den ich in meinem Leben nicht vergessen kann. Er war Rabbiner, ein ganz spezieller  Mensch. Er hatte keine Kinder, eine kranke Frau. Die Kinder haben ihn sehr geliebt. Als er alt und krank war, haben ihn diese Kinder dann – als Erwachsene – gepflegt, Dr. Günther Ballin. 1938 bis 1940 kamen die meisten jüdischen Kinder in diese Schule. Das andere waren rein deutsche Schulen, die von Juden nichts wissen wollten. Wir jüdischen Kinder muss ten uns von anderen sehr unangenehme Sachen anhören. In der Pestalozzischule, in der ich war, waren auch Kinder von Diplomaten. Das war sehr gut. Es kam einmal ein deutscher Junge, der hat furchtbare Sachen gegen Juden gesagt. Am nächsten Tag kam er nicht mehr in die Schule, man hat ihn hinausgeworfen. Natürlich kannte er diese Aussagen von zu Hause. Wenn man in den Süden des Landes fährt, sieht alles wie in Deutschland aus. Die Nazis sind dort angekommen.

Baron de Hirsch hatte im 19. Jahrhundert Land für jüdische Einwanderer in Argentinien gekauft. Hat deine Familie in einem solchen Ort gewohnt?

Wir zogen in den 1950er Jahren in eine Gartenstadt neben Buenos Aires und hatten dort deutsche Nachbarn. 1936 wurde sie gegründet. Nebenan war ein Flughafen und ein deutsches Unternehmen baute für die Mitarbeiter der Fluggesellschaft diese Gartenstadt. Ein Ehepaar mit einer kleinen Tochter hat sich mit meinen Eltern angefreundet. Mein Vater fragte, woher sie kommen in Deutsch land. Der junge Mann erzählte, dass er in Argentinien geboren wurde und sein Vater Vorsitzender bei Siemens in Argentinien war. Er erzählte auch, dass der Vater ihn in den Krieg nach Deutschland geschickt hat, er verwundet wurde und seine Frau im Lazarett kennengelernt hat, die dort Krankenschwester war. Schreckliche Sachen über die Juden hat diese Nachbarin von den Eltern gehört, die Nazis waren. Sie hätte gehört, dass Juden lange Ohren, lange Nasen hätten, Kinder töten würden und vieles mehr. Die Nachbarin wohnte in einem kleinen Dorf in Deutschland, wo sie nie Juden gesehen hat. Meine Eltern waren die ersten, die sie kennengelernt hat und sie merkt e nun, dass das alles nicht stimmt.

Du hättest damals auch nach Deutschland gehen können.

Da habe ich nie dran gedacht, nie im Leben! Wieder zurück, dorthin, wo man meine Eltern und Großeltern vertrieben hat?

Nun, es hätte ein Neuanfang sein können.

Vor über 50 Jahren war das alles noch nicht möglich. 1960 sah die Welt in Deutschland noch ganz anders aus und die Konzentrationslager waren zu nahe. Heute ist das alles anders.

Du hast dich in Israel sehr gut und schnell eingewöhnt. Es ist kein europäisches Land, ein Land mit Palmen, ungeheurer Hitze, Wüste und völlig anderen Lebensgewohnheiten...

Genau, das habe ich, doch meine Kultur habe ich trotzdem behalten.

Wie bist Du in diesem zauberhaften Künstlerdorf Ein Hod gelandet? Da kommt nichtjeder hin, man muss Künstlerin oder Künstler sein, hörte ich.

Das stimmt. Ich lernte meinen späteren Lebensgefährten Tuvia Iuster kennen, der damals hier lebte. Ich habe mich immer für Kunst interessiert, habe auch Kunstgewerbe studiert in Argentinien, bevor ich in Israel Krankenschwester wurde. Ich fühlte mich zu dem Künstlerdorf hingezogen, natürlich auch zu Tuvia. Er war ein ganz spezieller Mensch. Er war auch sehr verschlossen, und ich wollte diese Nuss knacken. Zum Nussknacken brauchte ich Zeit, so nahm ich mir Zeit, immer noch Zeit, dann hatten wir uns zusammengelebt, bis wir nicht mehr auseinander konnten.

Tuvia Iuster wurde ein berühmter Bildhauer, ein rumänischer Bildhauer, kam aus Br²ila in der Großen Walachei im Südosten von Rumänien.

 Ja, aber in Bukarest ist er groß geworden, hat dort gelebt. Die Großmutter von Tuvia war eine Tschaikowski und kam aus Polen. Im ersten Weltkrieg kam die Familie nach Rumänien.

Vielleicht war er doch ein richtiger Rumäne?

Es gibt auch Rumänen, die sehr fein sind, aber er war wild und sehr temperamentvoll. Er hat all das gehabt, was ich nicht hatte und ich habe das gebraucht, was er hatte, wie er war. Wir haben uns gut verstanden und es war wunderschön. Es war für mich auch sehr gut, dass wir seine Kinder, die bei ihm lebten, aufgenommen haben. Sie waren damals in einem schwierigen Alter. Sie brauchten ein ordentliches Zuhause, was ich ihnen gab.

Warum ist Tuvia nach Israel gekommen?

Tuvia war Zionist. Dann hörte er von Marcel Janco und über Ein Hod. Da wollte er unbedingt hin, das war sei Künstlerziel.

Erzähle mir von Marcel Janco...  

Marcel Janco war ein Maler, ein Architekt, ein Künstler, der die Dada–Bewegung angefangen hat. Außerdem war er auch ein Rumäne, der aber lange in Paris gelebt hat. Seine Frau war auch eine Iuster und Tuvia hat gemeint, sie wäre ein Teil von seiner Familie. Also wollte er unbedingt in diese Künstlersiedlung.

Wann hat Janco die Künstlersiedlung gegründet und was war es zuvor für ein Dorf?

1953 gründete er die Künstlersiedlung, seit 1948 waren die Häuser Ruinen. Die Araber, die hier gelebt haben, mussten weg, weil 1948 der Unabhängigkeitskrieg war. Unten an der Straße waren die englischen und israelischen Soldaten und haben auf die Häuser oben geschossen, von oben haben die Araber sich gewehrt und nach unten geschossen. Die Armee hatte sie aufgefordert zu verschwinden und ihnen gedroht, dass sie sonst sterben werden.

Seit wann wohnst du in diesem wunderschönen alten arabischen Kalksteinhaus?

1989 bin ich hierher gezogen. Mit Tuvia lebte ich hier siebzehn Jahre zusammen.

Tuvia hätte auch in Rumänien bleiben können. Es ist ein Land, in dem Kunst und Kultur seit eh und je geschätzt wird.

Nein, er wollte nicht dort bleiben. Er fühlte sich nicht wohl, war auch im Gefängnis, weil er Zionist war. Zehn Jahre vor ihm gingen seine Eltern nach Israel. Ihn hat die Regierung nicht mitgelassen. Er sollte zum Militär, was er auf keinen Fall wollte. Dann ist er zu den „Zigeunern“ geflohen. In diesem rumänischen Buch steht das alles, wie er zu den „Zigeunern“ gekommen ist, wie er „Zigeuner“ wurde. Nicht jeder konnte zu ihnen, nicht jeden haben sie zu sich gelassen. Ein paar Jahre war er bei ihnen, bis er eine „Zigeunerin“ angefasst hatte, was er nicht durfte. Da musste er von ihnen weg. Danach ging er nach Bukarest und begann mit der Bildhauerei. Bei großen Bildhauern hat er an der Kunstakademie in Bukarest studiert, doch bleiben wollte er auf keinen Fall in Rumänien und verließ das Land eines Tages.

Sein Wunschland war Israel. Hat er gerne hier gelebt, ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen?

Ja, er hat ja auch seine beiden Kinder hier alleine großerzogen. Die Mutter der Kinder lebt in Amerika. Die Kinder wollten von ihm nicht weg, obwohl er ihnen oft angeboten hat, zur Mutter zu gehen. Er hat mit ihnen über die Gefahren, über die Kriege in Israel gesprochen. Sie wollten nichts davon wissen.

Silvia, deine Eltern sind in Argentinien geblieben und du bist nach Israel gegangen. Doch weiß ich, dass sie später nach Israel einwanderten. Haben sie sich im Land an der Levante wohl gefühlt?

Meine Mutter ist ein halbes Jahr danach gestorben. Mein Vater hat noch 20 Jahre hier gelebt und war glücklich.

Hast du die Spuren der Eltern und Großeltern in Deutschland gesucht?

Ich war einmal im Geburtsort meiner Mutter. Sie ist aus Spangenberg bei Kassel. Dort habe ich nach dem Haus gesucht, in dem sie geboren wurde, das gibt es nicht mehr. Die Schule in Melsungen, in die sie ging, habe ich gefunden. Sie hat mir viel davon erzählt. Auch erzählte sie mir, wie schön Melsungen wäre. Ich war sehr enttäuscht, weil ich kein Wort Deutsch gehört habe. Fast nur Türkisch wurde gesprochen. Mutters Vorfahren kamen aus Toledo, sie waren sephardische Juden. Auch war ich in dem kleinen Dierdorf neben Koblenz, in dem mein Vater geboren wurde. Sein Geburtshaus habe ich im Ort gesucht, das Haus der Großeltern und Urgroßeltern. Es war sehr aufregend. Ich habe alles gefunden. Mein Großvater hatte ein Geschäft, ein Modegeschäft. In diesem Geschäft ist jetzt eine Druckerei, doch die Originaltür des Modegeschäfts gab es noch. An der Tür war noch zu lesen: Abraham Hirschfeld. Unglaublich war für mich, dass diese Kristalltür noch existierte. Ach, alles war so aufregend! Vaters Vorfahren kamen mit den Römern nach Rheinland Pfalz.

Die Eltern haben sich erst in Argentinien kennengelernt?

Nein, bereits in Deutschland. Eine Cousine meines Vaters war eine Kollegin von meiner Mutter und mein Vater war zwei Jahre, 1936, vor meiner Mutter, 1938, nach Argentinien ausgewandert. Damit meine Mutter dann auch auswandern durfte, musste er sie als seine Braut anmelden. Sie kam vom Schiff und direkt mussten sie heiraten, sonst hätte man sie nach Deutschland zurückgeschickt. Viele haben sich mit dieser Art Heirat das Leben retten wollen.

 Wo sind die Großeltern aus Dierdorf geblieben und die aus Spangenberg, damals in der Hitlerzeit?

Die Dierdorfer sind mit dem Vater nach Argentinien geflohen und dort gestorben. Die Mutter meiner Mutter ist über China nach Argentinien geflohen, hat dort nur ein paar Wochen gelebt und starb.

Du bist hier umgeben von Europäern und jüngeren Einheimischen...

Ja, stimmt. Ich neige mehr zu den Europäern als zu den anderen. Ich spreche auch eine europäische Sprache. Habe in mir eine europäische Kultur. Sie ist in mir drin, und sie wird nie verschwinden. Mein Vater fühlte sich in Deutschland als Jude aufgenommen und bezeichnete sich als Deutscher mosaischen Glaubens. Doch ist er eher Argentinier geworden als ich. Er hat das Argentinische so stark angenommen, wie ich es niemals gekonnt habe.

Wie erklärst du dir das?

Weil er aus Deutschland fliehen musste, weil er in Argentinien aufgenommen wurde, weil er dem Tod in Hitlerdeutschland entfliehen konnte.

Wie kommst du mit dem Land zurecht, in dem es so viele fromme Juden gibt?

Nun, jetzt immer weniger. Die Tradition war bei den Eltern immer da und nun auch hier bei mir. Wir haben die Feiertage gehalten. Am Freitag auch zusammen gegessen, zusammen die Shabbatkerzen angezündet, aber sonst war alles liberal. Der Schinken hat mir immer gut geschmeckt.

Danke, Silvia, für das schöne Gespräch und den wunderbaren Zwetschenkuchen.