Erdbebenwelle

Symbolgrafik: pixabay.com

„Nachrichtensprecher fangen stets mit 'Guten Abend' an und erklären dann 15 Minuten lang, dass es kein guter Abend ist“, unkte einmal Talkmaster Rudi Carell im deutschen TV. In Rumänien ist dies nicht anders. Mein Mann und ich haben deshalb jahrelang aufs Fernsehen verzichtet, um uns nicht ständig die gute Laune vermiesen zu lassen. Als wir uns dann doch wieder ein Gerät anschafften, war die erste Erfahrung ernüchternd: „JETZT: Erdbeben-Welle in nur wenigen Stunden!“, blinkte es dramatisch auf der schwarzgelben Unterleiste. Schon die Farbkombination sticht ins Unterbewusstsein wie eine aggressive Wespe. Weil der Inhalt der Sendung ansonsten von bescheidener Qualität war, wollten wir eigentlich längst umschalten. Doch dann hätten wir diese lebenswichtige Ankündigung verpasst. Während mein Göttergatte also das Programm zwei Stunden lang nicht aus den Augen ließ, bis das Thema endlich dran war, suchte ich schon mal nach einer kleinen Reisetasche für die nötigsten Dinge, die man braucht, wenn man nachts überstürzt das Haus verlassen muss...

Und so konsumierten wir die nächsten zwei Stunden Politskandale und Katastrophen, während immer noch das „JETZT“ in regelmäßigen Abständen von der Wespenzeile blinkte, abgelöst von anderen, fast genauso dramatisch klingenden „JETZT's“. Neben uns die Rotweingläser – es hätte ein richtig schöner Abend werden können, mit Gesprächen und Oldies aus dem Rock-FM Kanal, statt dessen hockten wir adrenalingepeitscht mit 200 Puls vor der Glotze. Man traute sich kaum noch aufs Klo. So ist das Leben also mit Fernseher. Beinahe hatten wir es vergessen.

Als moderner Mensch muss man informiert sein, heißt es stets. Es genügt nicht, am nächsten Tag in der Zeitung vom Unfall, Umsturz oder Unwetter zu lesen, man muss in Echtzeit erfahren, warum der Amokläufer geschossen hat, dass im Hindustan ein mit Hühnern beladener Kleinbus umgefallen oder das Fußballspiel zwischen Kufnukien und Ironesien unentschieden ausgegangen ist.

„Ja, guckt ihr denn keine Nachrichten?“ Den Spruch, mit entsprechendem Entsetzen garniert, mussten wir uns in unserer fernsehlosen Phase öfter gefallen lassen. Es gibt offenbar nichts wichtigeres, als den Abend vor einem Kästchen zu verbringen, das einem vorschreibt, was man sehen, denken und fühlen soll. Eigenmächtiges Sehen, Denken und Fühlen kann ja warten. Notfalls auch bis nach dem Film. Das Erleben aus der Konserve hat stets Vorrang. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder selber denken und fühlen wollte? Das wär ein anarchisches Durcheinandergedenke und -gefühle! So aber synchronisiert uns das kleine schwarze Kästchen, vor dem wir brav die Abende verbringen. Tagein, tagaus.

Ach ja, die Erdbebenwelle – die hätt ich jetzt glatt vergessen! Die war schon, erklärte der Experte im lang herbeigesehnten Beitrag lapidar, und zwar in den letzten 438 Stunden. Drei Mini-Beben, kaum spürbar und ganz normal für die Jahreszeit, fügte er mit beruhigender Stimme hinzu. Ich fühlte mich nicht beruhigt – sondern gründlich veräppelt, um nicht ein ganz anderes Wort zu gebrauchen! „Können wir jetzt endlich ins Bett?“ knurrte ich meinen Göttergatten an. „Sofort, ich warte nur ganz schnell auf den Wetterbericht“, lautete seine gehetzte Antwort. Ein Blick auf die schwarzgelbe Wespenzeile verriet mir, dass ich meinen Mann wohl bis zum frühen Morgen abschreiben konnte: „JETZT: Dramatischer Kälteeinbruch! Warnung für mehrere Landkreise!“ Na, Winter eben, dachte ich und rollte mich in die Daunen. Da darf's auch mal Minusgrade haben.