Erfahren von Fremde als existenzielles Erlebnis

Gespräch mit dem Schweizer Autor Peter K. Wehrli

Peter K. Wehrli: Der „Rumänische Katalog“ wächst und wächst.

Der Schweizer Schriftsteller Peter K. Wehrli, geboren 1939, hat in Zürich und Paris Kunstgeschichte studiert. Seit 1965 arbeitet er als Redakteur beim Schweizer Fernsehen. Reisen nehmen in seinem literarischen Schaffen, aber auch in seinen Fernsehfilmen, eine zentrale Rolle ein. Sein Interesse für Rumänien wurde durch den Dadaismus geweckt, der in Zürich 1916 seine Gründungsstätte hatte und der den Autor in Verbindung mit Künstlern wie Tristan Tzara und Marcel Iancu brachte. Über den rumänischen Maler und Architekten Marcel Iancu hat Peter K. Wehrli 1984 einen Film gedreht. Dreimal hat sich der Schriftsteller bisher in Rumänien aufgehalten, das erste Mal 1993, dann 2008 als Stipendiat des New Europe College in Bukarest und im Juni dieses Jahres zu mehreren Lesungen in der Hauptstadt. Rohtraut Wittstock nahm die Gelegenheit wahr, für die ADZ mit Peter K. Wehrli ein Gespräch zu führen.


Sie waren 2008 in Rumänien und haben damals eine erweiterte Fassung des Buches „Katalog von Allem“ vorbereitet. Das ist dann auch im Züricher Ammann Verlag erschienen.

Während diesen drei Monaten im New Europe College habe ich die Druckfahnen korrigiert und weil das in Bukarest war, konnte ich glücklicherweise noch einen Teil des „Rumänischen Katalogs“ einbauen in die Druckausgabe des Buches. Da war ich sehr froh, weil der Aufenthalt in Bukarest für mich sehr wichtig war als ein ganzer Erfahrungsraum mit vielen Nischen und Seitengängen, in denen man sich entweder entspannen, genießen oder verwirren konnte, je nachdem.

Der „Rumänische Katalog“ ist ja jetzt sehr gewachsen, er wird aber immer noch weiter wachsen. Ich habe auch jetzt schon wieder neue Texte geschrieben. Nach wie vor bleibt der „Katalog von Allem“ eigentlich mein Lieblingskind, denn er hat eine läuternde autobiografische Aufgabe, er klärt für mich die Zusammenhänge und die Verbindungen des Lebens und die Begegnungen mit Leuten. Anhand des „Katalogs von Allem“ kann ich jedenfalls rekonstruieren, von wem ich welche Ideen bezogen habe, wer oder was mich inspiriert hat, was mich angeregt hat, was mich aufgeregt hat, was mich geärgert hat, was mich gefreut hat. Im Grund ist der „Katalog von Allem“ auch eine Art von experimenteller Autobiografie für mich selber.

Vielleicht erinnern wir daran, was dieser „Katalog“ ist.

Der „Katalog“ fasst meine Eindrücke, Beobachtungen und Erfahrungen zusammen. Entstanden ist er 1968. Damals fuhr ich von Zürich aus im sogenannten Orientexpress, mit der Eisenbahn, nach Beirut im Libanon. Zürich – Beirut, das war für damalige Verhältnisse eine Riesenstrecke und im Augenblick, als der Zug aus dem Bahnhof Zürich herausfuhr, entdeckte ich, dass ich die Fotokamera zu Hause vergessen hatte.

Ich wollte ja Souvenirbilder, Gedächtnisstützen haben und ich wurde wütend über mich selber, aber dann habe ich mich bald beruhigen können, weil ich den Entschluss fasste, jetzt mach ich Experiment: Alles das, was ich fotografiert hätte, wenn ich den Fotoapparat bei mir gehabt hätte, all das schreib ich jetzt. Und zwar beschreibe ich die Bilder nicht, sondern ich schreibe die Bilder, statt sie zu knipsen. Als der Zug dann in Beirut ankam, waren die ersten 134 Bilder geschrieben, die ersten 134 „Fotografien“ gemacht, aus Sprache statt aus Zelluloid und aus Licht. Zu meiner Freude und Überraschung sind diese 134 Bilder zu aller erst in Bolivien erschienen, bei einem Verlag, der nachher auch noch drei weitere Bücher von mir gebracht hat.

Das war dann die Initialzündung, weil ich nicht mehr loskam von dieser Art der Wahrnehmung, von dieser Beobachtungsschulung, die sich da vollzieht, wenn man die Dinge so registriert. Gleichzeitig ist es eine Sensibilisierungsübung für das Unscheinbarste, für das Nebensächliche, das plötzlich wichtig wird, dadurch dass man es ins Bild fasst. Es ist spannend, das zu verfolgen. Weil das so faszinierend blieb, habe ich mehr als vier Jahrzehnte lang daran weitergeschrieben.

Auf diese Art wächst der Katalog und es kommt noch der Aspekt dazu: Um die Ordnung zu bewahren und den Überblick nicht zu verlieren, habe ich das Ganze in die Katalogform gegossen, ich habe jede Beobachtung nummeriert, sodass man es mit einem Versandhauskatalog oder einem Antiquariatskatalog vergleichen könnte, und wie alle Kataloge und jede Art von Aufzählung überhaupt sind meine Sätze solche ohne Prädikat. Deshalb kann ich wirklich sagen, dass es ein Buch ist, das nicht einfach „Katalog von Allem“ heißt, sondern dass es ein wirklicher Katalog ist.

Die Grundzündung für Ihre Texte sind Ihre vielen Reisen in ganz verschiedene Gebiete der Welt. Was bedeutet für Sie das Reisen?

Das Reisen war ganz wichtig. Ausgelöst wurde die Lust am Reisen zugegebenermaßen von den amerikanischen Beatniks. Denken Sie an Jack Kerouak, dessen berühmtestes Buch ja „Unterwegs“ heißt, „On the road“, also genau den Gedanken des Unterwegsseins behandelt. Die Reise als Reise durch das Leben, man ist unterwegs in seinem Leben selber, diese Haltung habe ich besonders zwischen 20 und 30 Jahren zelebriert und begeistert nachvollzogen. Es differenzierte sich dann immer mehr, jetzt ist mir nämlich nicht mehr das Unterwegssein wichtig, sondern das in der Fremde sein, irgendwo zu sein, wo alles neu ist um mich herum.

Das ist eine wichtige Erfahrung, denn ich habe gelernt, dass in dem Augenblick, in dem ich irgendwo ankomme, wo die Dinge neu sind für mich, und da gehört Bukarest dazu, genauso wie der Amazonas oder Moçambique in Afrika, dann passiert immer dasselbe: Ich betrachte das, was neu ist, eigentlich genauso wie ein Kind die Welt um sich betrachtet, nämlich weil es alles zum ersten Mal sieht.

In der Fremde sehe ich alles zum ersten Mal, ich werde also zum Kind und gewinne damit die verloren gegangene Unschuld wieder. Das ist ein ganz existenzielles Erlebnis, eine Erfahrung, die ein afrikanischer Dichter, der größte Lyriker von Moçambique, der José Craveirinha heißt, in einem Satz zusammenfasst: „Eine gute Reise ist eine Reise, bei der man jünger zurückkehrt als man abgereist ist“. Das ist eine Erfahrung, die ich eigentlich jetzt zum zweiten Mal in meinem Leben mache. Letztes Jahr hatte ich eine Lesetournee in Kalifornien, und ich bin durch die Städte San Francisco, Los Angeles gegangen und zwar in diesem erregenden Gefühl, das provoziert ist vom Bewusstsein, alles ist neu und wo alles neu ist, bin ich jünger als dort, wo alles vertraut ist.

Diese Erfahrungsebene ist es auch, die mich treibt zum Reisen, aber nicht mehr zum unterwegs sein, sondern eben zum Erfahren von Fremde und etwas zu tun zu haben in der Fremde. Ich könnte auch nach Bukarest nicht als Tourist fahren. Das würde mich überhaupt nicht befriedigen.

Ich will etwas  zu tun haben am Ziel meiner Reise und nur das gibt mir dann das Gefühl, ich sei angeschlossen ans Nervensystem eines Landes oder eines Ortes. Wenn ich dieses Gefühl nicht entwickeln kann, dann hat die Reise fast keinen Sinn für mich. Aus so einer Reiseveranlagung heraus entstehen dann die Eintragungen im Katalog, wobei es unwesentlich ist für mich, ob es eine beiläufige Sache ist, die mir auffällt und die ich deshalb notiere, oder etwas ganz Wichtiges, wie das Vorbeifahren von George W. Bush beim NATO-Gipfel 2008 in Bukarest.

Sie sind nach Bukarest zurückgekehrt. Ist Bukarest jetzt neu für Sie?

Bukarest ist neu, und zwar nicht nur deshalb, weil vier Jahre dazwischen liegen, sondern weil sich Bukarest wirklich verwandelt hat. In der Zwischenzeit hat Bukarest so etwas wie einen festlichen Charakter entwickelt. Mein erster Aufenthalt war 1993, da war die Stadt wirklich noch sehr trüb und jetzt hat sie alle diese Trübheit überwunden, sie hat neue Kraft gewonnen.

Möglicherweise liegt der Grund dafür eben auch im Restaurierungsprogramm. Die Häuser, deren Verschwinden oder deren Zusammenfallen ich beim letzten Aufenthalt, 2008, beklagt habe, die sind noch nicht alle, aber immerhin einige davon restauriert und erscheinen in einer unvorhergesehenen Pracht. Damals war alles so brüchig. Im „Katalog von Allem“ steht ein Satz, der den damaligen Eindruck ziemlich genau fasst. Ich würde nicht sagen, die Fassaden fallen von den Häusern, sondern ich würde sagen, die Häuser lassen ihre Fassaden fallen. Das enthält dann auch diese Stimmungslage der Trauer über den Verlust dieser Pracht. Diese Dinge kann ich heute nicht mehr beschreiben, weil viele der Häuser restauriert sind.

2008 ist der „Katalog von Allem“ als Buch erschienen. Inzwischen gibt es den Katalog auch auf anderen Trägern.

Jetzt gibt es neu das Hörbuch. Das wurde für die Blindenhörbücherei der deutschen Sprache gemacht. Einen ganzen Sommer hindurch habe ich die 600 Seiten des „Kataloges von Allem“ im Tonstudio eingesprochen. Die Reihe heißt „Der Autor liest“. Das Hörbuch dauert etwa 26 Stunden Spieldauer. Dann kam ein Verlag, der schöne Hörbücher, auch von Dürrenmatt und Max Frisch herausgibt, und hat aus dieser großen Aufnahme der Blindenhörbücherei eine marktgängige Zusammenfassung von 75 Minuten gemacht und die in den Buchhandel gebracht.

Dann gab es etwas noch Aufregenderes. Eines Tages kam mein Chef im Fernsehen und fragte mich, was ich von der künstlerischen Gattung Selbstporträt halte. Das interessierte mich, denn ich hatte schon als Student eine Seminararbeit über Van Goghs Selbstporträts geschrieben. Er wollte aber, dass ich ein Selbstporträt von mir filme. Ich war vollkommen verunsichert, ich schob diesen Auftrag zweieinhalb Jahre vor mich hin.

Dann hieß es, jetzt muss es sein und ich habe glücklicherweise die Formel gefunden, die sich bewährt hat, nämlich die Ironisierung des Themas. Dadurch ironisiere ich mich ja auch selber. Die Formel hieß dann: Der Film ist nicht ein Selbstporträt des Peter K. Wehrli, sondern Peter K. Wehrli zeigt die Vorbereitungen zu einem Selbstporträt. Ich habe also einen Film gemacht über jemanden, der den Auftrag kriegt, ein Selbstporträt über sich zu drehen. Da hat mir dann der „Katalog von Allem“ enorm dabei geholfen.

Erstens wird der Film im Katalog gewissermaßen auch mitgeschrieben und zweitens kann ich im Film wieder Katalognummern vorlesen zu gewissen Situationen, zu denen kein Bildmaterial vorhanden ist, denn das ist eigentlich das Hauptproblem, dass ich nur von den biografischen Stationen berichten kann, über die Dokumentarmaterial vorhanden ist. Ich musste vieles weglassen. Es geht also um Vorbereitungen zu einem Selbstporträt. Deshalb darf ich mir auch erlauben, den Film mit dem ironischen Titel zu versehen: „Donnerwetter, das bin ja ich!“ Der letzte Satz des Filmes lautet: „Jetzt, wo die Vorbereitungen abgeschlossen sind, könnte der Film beginnen“, sodass diese ironische Ebene durchgehalten ist.

Das hat mich jetzt dazu geführt, dass ich ein Buch schreiben muss, eine Art Roman über einen Schweizer, der den Auftrag erhält, einen Film über sich selber zu drehen und dort wird dann all das geschrieben, was im Film nicht gezeigt werden kann. Im Grunde ergeben nachher der Film und das Buch ein Ganzes. Im Umschlag des Buches müsste der Film auf CD mitgeliefert werden. Der Film wurde inzwischen im Fernsehen gesendet.

Was geschieht mit den Eintragungen für den Katalog, die seit dem letzten Erscheinen, also seit 2008, geschrieben wurden?

Die sind im Moment auf meiner Webseite. Ich habe mir überlegt, ob man dieses Projekt nicht im Internet weiterführen könne, statt in Buchform. Das mache ich nun seit einigen Monaten. Im Internet gibt es die Seite www.katalogvonallem.eu, wo immer die neuesten geschriebenen Katalognummern zu lesen sein müssten.

Das letzte, was da aufgeschaltet worden ist, ist ein Katalog, der sogar zweisprachig ist: Die Universität Montreal in Kanada hat in einem Seminar Nummern aus dem „Katalog von Allem“ ins Französische übersetzt und von sich aus ins Internet gestellt.

Der fortgesetzte „Rumänische Katalog“ wächst wie alle anderen Kataloge weiter, und dadurch, dass ich hier bin, wächst er besonders intensiv. Ich bin mir noch nicht im Klaren, wie weit die Dadaisten eigentlich Schuld sind daran, dass der Katalog diese unübliche Form hat, dass er nicht Prosa geworden ist, sondern dass er Katalog geworden ist. Ich bin sicher, dass meine Begegnungen mit Marcel Iancu da sehr wichtig waren. Tzara habe ich ja nicht begegnet, aber Eugen Ionescu, der für mich ein rumänischer Autor ist und nicht ein französischer, und Gelu Naum. Alle Begegnungen waren ganz wichtig für mich.

Ich fasse die Katalognummern gewissermaßen als eine Dankesgabe von mir an das Land auf, für alles, was es mir gegeben hat, nämlich alle diese Eindrücke und Erfahrungen. Ich gebe als Gegengabe das Protokoll dieser Erfahrungen, den betreffenden Teil des „Katalogs von Allem“ dem Land zurück. In Brasilien war es schon so, dass der Katalog gedruckt wurde, jetzt ist ein Verlag in Moçambique daran, den „Moçambiquanischen Katalog“ zu drucken, in Portugiesisch, das ist dort die Nationalsprache. Mein Traum wäre natürlich, aber da hab ich noch nicht Umschau gehalten, einen rumänischen Übersetzer zu finden, der sich dafür interessiert, den „Rumänischen Katalog“ ins Rumänische zu übersetzen. Dann erst könnte ich Rumänien den „Rumänischen Katalog“ als Dankesgabe für all die Erfahrungen und Erlebnisse zurückgeben.