Erlebnisgeneration und Historiografie

Prof. em. Dr. Smaranda Vultur sprach zum Deportationsgeschehen vor Reschitzaer Publikum

Prof.em. Dr. Smaranda Vultur

Margarete Szivatsek...

... und Ladislaus Höflinger sind zwei Überlebende der Russlanddeportation, die in Reschitza leben.

Zwei Überlebende der Russlanddeportation, Margarete Szivatsek und Ladislaus Höflinger, und zwei während der Russlandverschleppung Geborene, Renate Mioc, geborene Schaftari, und Elfriede Chwoika, waren am 17. Januar 2018 nachmittags bei strömendem Regen in den Festsaal der Deutschen Bibliothek „Alexander Tietz“ gekommen, um sich am Auftakt zur diesjährigen Veranstaltungsreihe zur Erinnerung an eines der die deutsche Gemeinschaft Rumäniens am tiefsten erschütternden Ereignisse ihrer jüngeren Geschichte zu beteiligen: die Deportation der Rumäniendeutschen zur „Wiederaufbauarbeit“ in die Sowjetunion Stalins. Zur Eröffnung der Gedenkveranstaltungen des Banater Berglands hatte DFBB-Präses Erwin Josef Ţigla den DFBD-Vorsitzenden Dr. Johann Fernbach mit Temeswarer Musikern und die Fachfrau für mündliche Geschichte, die emeritierte Temeswarer Hochschullehrerin Prof. Dr. Smaranda Vultur, eingeladen. Beide Gäste verliehen, jede(r) auf seine Art, der Veranstaltung Festlichkeit und Glanz.

Dr. Smaranda Vultur beschäftigt sich seit rund zwei Jahrzehnten mit der Memorialistik des „kleinen Mannes“, mit jenem Geschichtsgedächtnis der Mitbürger, das kaum in die althergekommene bzw. institutionalisierte Geschichtsschreibung eingeht (oder, wie es Prof. em. Dr. Vultur formulierte: „...was vielleicht mal höchstens, quasi nebenbei, eine halbe Seite im Geschichtsbuch ausmacht...“), das aber einen Wahrheitsgehalt birgt, der es wert ist, durch Aufzeichnung gerettet und durch Druck und andere Medien weitergegeben zu werden. Vultur hat sich in den letzten Jahren dem Deportationsgeschehen und der aktiven Erinnerung daran gewidmet. Sie hat mit dem Sammeln von Erinnerungen an die B²r²gan-Deportation (in der ersten Hälfte der 1950er Jahre) begonnen – von dieser waren alle „unsicheren Elemente“ betroffen, die zur Zeit des Konflikts zwischen Stalin und Tito innerhalb eines 20 km breiten Grenzstreifens zu Jugoslawien lebten, vor allem die „Chiaburen“, die etwas wohlhabenderen Kleinbauern. Vultur ging anschließend zu Erzählsammlungen und Studien über die Russlanddeportation der Banater Schwaben und Berglanddeutschen 1945-1949 über. Gegenwärtig arbeitet sie an einem umfangreichen Buch mit Zeitzeugenberichten, immer mit den Banater Deutschen und ihrem Schicksal im Fokus, die sie gemeinsam mit ihren Studenten und Doktoranden gesammelt hat. Das Buch erscheint spätestens im März 2018 in Jassy, im renommierten Polirom-Verlag und wird von der Hanns-Seidel-Stiftung gefördert. Das Vorwort dazu schrieb einmal mehr der Historiker Prof. Dr. Rudolf Gräf von der Babe{-Bolyai-Universität Klausenburg.

Vor dem Hintergrund einer Ausstellung mit Erinnerungs-Aquarellen und -gemälden an die Russlanddeportation, die zwei ihrer Opfer gemalt haben – der heute in Bielefeld lebende 91-jährige Reschitzaer Anton Ferenschütz und der in Reschitza vor einigen Jahren verstorbene Steierdorfer Franz Binder – entwarf Vultur voller Begeisterung für die mündliche Geschichte ein Bild von Wert und Bedeutung der Erinnerungskultur. Außerdem unterstrich sie die Bedeutung einer wissenschaftlichen Verwertung des Gedächtnisses von Individuen, Volksgruppen und Völkern, nicht nur für die Geschichtsschreibung (jener im Sinne der von Braudel, Le Goff u. a. erfolgreich vertretenen „Geschichte des Kleinen Mannes“), sondern auch für andere Bereiche wie Ethnografie.

Ethnologie, Folklore, Gedächtnis- und Mentalitätsforschung und sogar für die Pädagogik. „Erzähler erzählen mit Ziel und Zweck, und die, die ergebnisoffen zuhören, bilden sich dabei“, bemerkte sie. In diesem Sinn sei das individuelle wie das kollektive Gedächtnis mit seinen Lebens- und Überlebensgeschichten ein Kulturgut von Volksgruppen und Völkern, betonte Frau Vultur vor einem Publikum, in dem sich diesmal auch zahlreiche in Reschitza lebende Intellektuelle befanden.

Die Referentin, die vom DFBB gebeten worden war, über das Motto „Gedächtnis und Geschichte. Die Bedeutung von oral history für eine wahrheitsgemäße Gegenwartsgeschichte” zu referieren, legte ihren einstündigen Vortrag viel breiter an und eröffnete den Anwesenden ein wahres Panorama zum Stand der Gedächtnisforschung und -verwertung vom soziologisch-historischen Standpunkt. Diese, so Vultur, betreffen „Gedächtnisgemeinschaften“ über mehrere Generationen und berühren Fragen zum „Erkenntniswert des Erlebnisgedächtnisses“, über den „Identitätswert der Erinnerungen“ oder den „Aufbauwert des Gedächtnisses für Gruppenidentitäten“.

Bücher zur mündlichen Geschichte – ganz gleich ob als wissenschaftliche Untersuchung oder als Aufzeichnung der Erinnerungen der Erlebnisgeneration – seien immer auch „Bücher über die Nostalgie“, unterstrich Prof. Dr. Vultur im Zuge ihrer Betrachtungen im Festsaal der Reschitzaer Alexander-Tietz-Bibliothek. Sie verwies auch auf den permanenten Zeitdruck, der auf den Erzählern der Erlebnisgeneration lastet („von denjenigen Banater Deutschen, die im dem-nächst bei Polirom erscheinenden Buch zu Wort kommen, leben nur noch zwei oder drei“), nannte aber auch eine Alternative: die Zeugen zweiten Grades, die Nachgeborenen: „Allerdings geht mit den Erzählungen der Nachgeborenen sehr viel vom Detailreichtum der Erzählungen der Erlebnisgeneration verloren“, unterstrich die Forscherin einschränkend, „hingegen werden die Grundthemata der Erinnerungen meist prägnanter herausgearbeitet.

Die Zeugen zweiten Grades gäben wieder, was ihnen am auffälligsten und bemerkenswertesten an den manch-mal oft gehörten Erzählungen der Erlebnisgeneration erscheine, übergingen aber die Details, an die sich, auch durch emotionale Teilhabe am Erzählten, die Zeugen ersten Grades wieder und wieder erinnern. Auch das, was der Erlebnisgeneration bei oftmaligem Erzählen desselben Themas ab und an noch zusätzlich dazu einfalle, gehe für die Nachkommen verloren. Daher sei es immer nützlich, einerseits die Erlebnisgeneration öfter anzuhören und aufzuzeichnen, andererseits auch Archive heranzuziehen, wenn man über ein Thema hauptsächlich aus der Perspektive der Erinnerungen recherchiere. Frau Vultur zitierte aus dem Familienarchiv der Wolfsberger Müllersfamilie Hausner oder unterstrich den Wert der Rathausarchive, „wo man oft ganze Familiengeschichten, aus materieller Perspektive – Besitztum, Erbschaften, Enteignungen, Verkäufe usw. – rekonstruieren kann, die sehr willkommene Vervollständigungen der Gedächtnisaufzeichnungen darstellen können.“