Erzherzog Franz Ferdinand – die letzte Hoffnung der Donaumonarchie?

Antwort auf eine unhistorische und spekulative, doch nicht entbehrliche Frage

Franz Ferdinand, Erzherzog von Österreich, circa 1914

Franz Ferdinand (rechts) bei einem Kaisermanöver 1909

Das Auto, in dem Franz Ferdinand erschossen wurde, im Heeresgeschichtlichen Museum Wien

Aus Anlass des 150. Geburtstags Franz Ferdinands im vergangenen Jahr schrieb sein Biograf Friedrich Weissensteiner in der „Wiener Zeitung“: „Erzherzog Franz Ferdinand war dazu ausersehen und in jeder Hinsicht darauf vorbereitet, nach dem Tod Kaiser Franz Josephs die Nachfolge in der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie anzutreten. Ein umfangreiches „Programm zum Thronwechsel“ lag fix und fertig vor. Es blieb ein Stück Papier. Der Thronfolger und seine Gattin fielen am 28. Juni 1914 einem Attentat zum Opfer, in dessen Gefolge der Erste Weltkrieg entfesselt wurde. Hätte Franz Ferdinand das vielgestaltige multinationale Habsburgerreich vor dem Untergang retten können? Diese Frage wurde und wird von manchen Historikern immer wieder gestellt. Sie mag reizvoll sein. Ich halte sie, weil unhistorisch, für durchaus entbehrlich.“
Diese Frage mag unhistorisch und spekulativ sein, aber entbehrlich ist sie nicht. Ihre Ausblendung dient bis heute dazu, die Donaumonarchie für unreformierbar, für sterbenskrank abzuschreiben. Sie war durchaus von Problemen geplagt, von nationalistischen Egoismen. Doch gerade die Persönlichkeit des Erzherzogs, der in Sarajevo von der Hand eines serbischen Nationalisten sterben musste, kann als Gegenbeweis dienen.

Beginnen wir mit dem, was rational nicht zu erklären ist und schon deshalb erstaunlich erscheint –  der Thronfolge, für die der Erzherzog nach aller Wahrscheinlichkeit nicht in Frage kam. Erst das Drama von Mayerling, wo Kronprinz Rudolf, der Sohn des regierenden Kaisers Franz Joseph, und dessen Geliebte Mary Vetsera den Tod fanden, und dann der vorzeitige Tod seines Vaters Karl Ludwig 1896 schoben Franz Ferdinand in die erste Reihe. Kronprinz Rudolf gilt bis heute als die liberale Hoffnung der Monarchie. Doch sein Reformkonzept war eher deutschnational-liberal grundiert, was mit ein Grund war, warum ihn der Kaiser lange von den Amtsgeschäften fernhielt. Auch Franz Ferdinand, der freundschaftlich mit dem Kronprinzen verkehrt hat, sah dessen Pläne äußerst kritisch. Sein Reformkonzept war jedoch zutiefst dynastisch, katholisch und konservativ geprägt, was mit seinem Elternhaus, aber auch mit seinen Lehrern zu tun hatte. Sein Geschichtslehrer Onno Klopp war gegen die kleindeutsche Lösung Bismarcks und ein großer Verehrer des katholischen Feldherren Tilly, den er vom Vorwurf, am Brand Magdeburgs schuld zu sein, freisprach.

Sein Bekenntnis zum Katholizismus als Fundament der Monarchie machte Franz Ferdinand keineswegs zu einem „Protestantenfresser“. Sein Arzt Eisenmenger, selbst Lutheraner, hat sich nie über abfällige Bemerkungen beklagt. Abfällig äußerte sich der Erzherzog viel eher über jene, die er als Feinde der Monarchie ausmachte, allen voran die ungarischen Magnaten, die Ahnen der Revolution von 1848, die man durch den die ungarische Reichshälfte einseitig bevorteilenden Ausgleich von 1867 noch übermütiger gemacht hätte. An den deutschen Kaiser Wilhelm II. schrieb er: „Wo liegt aber des Übels Wurzel? Wer war der Lehrmeister für alle Elemente, die durch revolutionäres Drängen und Erpressen alles erreichten? Die Ungarn.“ Die einfachen, kaisertreuen Ungarn liebte er, nur die „Freimaurer in der Regierung“, die im katholischen Ungarn die Zivilehe eingeführt hatten, die wurde er nicht müde als Feinde einer gedeihlichen Zukunft der Doppelmonarchie anzuprangern. Dass er dabei immer wieder die Beherrschung verlor, sich über die Frechheit der Magyaren, die Untätigkeit der Verwaltung, die Fantasielosigkeit der Politiker und die Passivität des Kaisers ereiferte, nahmen seine Gegner in Presse und Politik als willkommenen Beweis, dass dieser Mann niemals Kaiser werden dürfe. Warum sich der Thronfolger ereiferte, war zweitrangig. Man wollte ihn um jeden Preis verhindern, weil er das hatte, was der alte, müde Kaiser nicht mehr hatte: den eisernen Willen, das dynamische, bisweilen überschäumende Temperament, das die Monarchie gegen alle Widerstände reformieren wollte.

Die so empfindlich austarierte Balance wollte Franz Joseph nicht gefährden, und hielt seinen eifernden Thronfolger auf Abstand. Der half sich selbst und schuf die gerne als „Gegenregierung“ zur Hofburg bezeichnete kleine Militärkanzlei, wo er Politiker und Intellektuelle aus der ganzen Monarchie versammelte – so viel zum damals populären Vorwurf, er hätte ethnische Vorlieben gehabt, ganz abgesehen davon, dass er in morganatischer Ehe mit der böhmischen Adeligen Sophie Chotek verheiratet war. Die Fachleute, die sich in der Militärkanzlei trafen, sollten Reformvorschläge ausarbeiten, abseits der ausgetretenen Wege.

Der siebenbürgische Rumäne Aurel Popovici entwarf sein Modell der „Vereinigten Staaten von Groß-Österreich“. Die Rumänen Iuliu Maniu und Alexandru Vaida-Voevod berieten Franz Ferdinand genauso wie der Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der einfallsreiche Generalstabsoffizier Brosch von Aarenau, der Ungar Kristoffy oder der Kroate Ivo Frank. Die Kroaten bzw. die Südslawen waren für den Thronfolger der Schlüssel zu einer erfolgreichen Reform. Sie stellten mehr als die Hälfte der Bevölkerung, gerade in der ungarischen Reichshälfte. Obwohl sie Wien 1848 gegen die ungarische Revolution verteidigt hatten, fielen sie nach dem Ausgleich von 1867 der verstärkten Magyarisierung anheim, was ihre Begeisterung für die Monarchie verständlicherweise sinken ließ. Die aufmüpfigen Ungarn sollten, so dachte der Thronfolger, durch eine Aufwertung der Südslawen ein Gegengewicht erhalten. Das Modell der föderalen Dreiteilung der Monarchie – der Trialismus, der Wirklichkeit werden konnte, sollte Franz Ferdinand den Thron besteigen – musste daher den schärfsten Widerstand der Ungarn provozieren. Der ungarische Ministerpräsident István Graf Tisza von Borosjenö und Szeged erklärte, er werde die Revolution ausrufen, sollte Franz Ferdinand Kaiser werden, und Franz Ferdinand meinte drastisch: „Wenn ich zur Regierung komme, dann können sich die opponierenden Grafen alle die Stiefel wichsen.“

Dabei war der Thronfolger alles andere als ein Kriegstreiber, im Gegensatz zu allen bewusst gestreuten Gerüchten. Er warnte vor einem Krieg mit Russland, der „entweder mit dem Sturz der Romanoffs oder mit dem Sturz der Habsburger – vielleicht von beiden – enden“ würde. Die Attentäter von Sarajevo sollten vor Gericht erklären, der Erzherzog wäre doch ein Feind der Slawen gewesen, der Krieg gegen sie gewollt hätte. Ausgerechnet derjenige, der die Südslawen politisch aufwerten wollte, der den von ihm protegierten und auf Präventivkrieg gegen Serbien drängenden Conrad von Hötzendorf immer wieder bremste, der sollte ein Feind der Slawen gewesen sein? Er war ein Feind des großserbischen Ehrgeizes, der auf politische Eskalation und Destabilisierung aus war, was auch Otto von Habsburg erleben musste, als er 2004 Sarajevo besuchte. Der serbische Freischärler und Kriegsverbrecher Željko „Arkan“ Ražnjatovic drohte, Habsburg dort zu erschießen, wo schon sein Ahne gestorben war.

Der Hass auf den Thronfolger steigerte sich in selten gekannte Höhen, weil seine Reformbemühungen die politischen Absichten vieler politischer und gesellschaftlicher Akteure durchkreuzt hätten. Die publizistische Kampagne gegen ihn erinnert in vielem an aktuelle Vorgänge. Die deutsche Kulturzeitschrift „März“ brachte im Januar 1914 einen Artikel von Stefan Großmann. Der Kaiser sei alt, der Einfluss des Erzherzogs wachse, und damit die Gefahr, „dass dessen simple, reaktionäre Weltsicht wahr würde: die Menschen sollen moralisch und religiös sein, die Magyaren müssen eine Lektion erhalten, Italien sei verabscheuungswürdig, weil es den Papst gefangen hält, und die Serben sollen die Macht Österreichs spüren“. Die serbische Zeitung „Pijemont“ druckte den Artikel Großmanns sofort nach, damit die Leser erfahren, was dieser Thronfolger für ein Mann ist: „Seine zukünftige kaiserliche und Apostolisch-königliche Majestät wird dafür, wenn sie ihr Leben in die eigenen Hände nimmt, an dem dafür bestimmten Tag bezahlen.“ Hinter der Zeitung stand Oberst Dragutin Dimitrijevic, genannt „Apis“, der Drahtzieher des Attentats von Sarajevo. Franz Ferdinand wurde konsequent von den interessierten Kreisen zur Unperson aufgebaut.

Auch heute merkt mancher Kommentator verwundert an, der Thronfolger, der doch so ein Berserker, Grobian, massenmordender Jagdnarr und Reaktionär gewesen sei, wäre zugleich ein liebender Familienvater gewesen, der sich in wunderschönen Briefen an seine Frau wandte, der seine Kinder über alles liebte, und einmal bemerkte, er hätte bisher keinen Tag seiner Ehe bereut. Seine Frau war ihm der Halt, den er im Kampf gegen seine politischen Gegner brauchte. Diese waren ihm, abgesehen von ihrer dynastiefeindlichen Haltung, auch aus einem anderen Grund zuwider, der schon angeklungen ist. Sie vertraten einen die überlieferte Ordnung, die übernationale Monarchie zerstörenden Liberalismus und Nationalismus, sie waren für ihn die Verkörperungen einer nihilistischen Moderne, die sich ihre eigenen Gesetze machte und die gewachsene, christlich geprägte Ordnung verachtete. So erklärt sich auch seine scharfe Ablehnung der modernen Architektur und Kunst. Sie zerstöre unsere Lebenswelt, weil sie Funktion an die Stelle von Schönheit setze. Seine Kritik gerade an der modernen Architektur erinnert sehr an die des Prinzen von Wales, der ihr die ästhetische und humane Verwüstung Englands vorwirft.

Franz Ferdinand kümmerte sich um jedes Bauprojekt, jede Veränderung an alten Gebäuden, stritt mit inkompetenten Restauratoren und überwarf sich mit Geistlichen, die ihre Kirchen rücksichtslos umbauten. Er übernahm das Protektorat der ersten Denkmalschutzgesellschaft und regte an, in die Zeitschrift der Gesellschaft eine Rubrik aufzunehmen, die sich mit Vandalismus beschäftigt. Heute gilt er deshalb vielen als reaktionärer, kleinkarierter Antimoderner, vor allem wegen seines Kampfes gegen Adolf Loos und das von ihm errichtete Haus am Michaelerplatz gegenüber der neuen Hofburg in Wien. Er war aber insofern seiner Zeit voraus, als er schon damals den radikalen Fortschrittsglauben, das rücksichtslose Verändern um des Veränderns willen als Vorboten einer falschen, menschenfeindlichen Welt der Zukunft erkannte. Er wandte sich dagegen nicht aus philosophischen Erwägungen. Dafür war er ein zu praktisch denkender Mensch. Er spürte instinktiv, aus dem Bewusstsein einer Herrschaft, die vor allem religiös verankert war – der Kaiser war schließlich eine apostolische Majestät –, dass aus den menschengemachten, neuen Heilslehren für die Monarchie und im Allgemeinen nichts Gutes erwachsen könne.

Der Historiker Emil Franzel meinte einmal, Franz Ferdinand wäre das Opfer gewesen „der Dämonen des Nationalismus und Nihilismus, die seit Langem auf seinen Tod aus waren. Hätte er Österreich erneuert und Europa vor Bürger- und Bruderkrieg bewahrt, dann hätten diese Dämonen für ein Jahrhundert von der Bühne abtreten müssen“. Freilich eine „entbehrliche“ Spekulation, wie Weissensteiner meinte, aber eine, die nachdenklich macht. Das „unhistorische“ Nachdenken darüber, was gewesen wäre wenn, lenkt den Blick auf Fragen, die man sonst vielleicht nicht stellen würde. Warum wurde gerade der angeblich so unbedeutende Erzherzog Franz Ferdinand zur Zielscheibe eines nachgerade dämonischen Hasses?