„Es gibt kaum einen Unterschied zwischen den Menschen“

Mit dem Fahrrad aus dem Vereinigten Königreich bis nach Australien

Ein Fahrrad und ein paar schwarze Taschen sind das Einzige, was Joe O’Brien auf seiner Reise braucht. Der junge Mann, der mit 18 seine Heimatstadt verließ, hat nicht die Absicht, nach England zurückzukehren.
Foto: Aida Ivan

In einer leeren Kronstädter Jugendherberge macht sich ein letzter Besucher auf den Weg. Wie nach einem Ritual verpackt er seine Sachen in kleinen, quadratischen, schwarzen Taschen. Sein Schweigen lässt verstehen, dass er völlig darauf konzentriert ist. Joe O’Brien ist ein 25-jähriger Brite aus Liverpool, ein bescheidener Mensch mit einem weniger bescheidenen Ziel: Eine Weltreise zu machen. Mit dem Fahrrad. Dafür hat er die letzten zwei Jahre Geld gespart. Die Reise soll ungefähr 14 Monate dauern und ihn von seinem Heimatland nach Australien führen. In den letzten zwei Monaten ist er bereits mit dem Rad durch die Niederlande, Deutschland, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und jetzt auch Rumänien gefahren. Danach führt sein Weg nach Bulgarien, in die Türkei, nach Thailand, Indonesien, Myanmar, Kambodscha, Laos, China und Tibet, Pakistan, Indien und schließlich nach Australien. Die Strecke von der Türkei nach Thailand wird er fliegen. Im Gegensatz zu manchen seiner Altersgenossen kümmert sich der junge Mann kaum um Geld, er ist ein unkomplizierter Mensch, dem das Glücklichsein und die Freiheit wichtiger sind. Ein moderner Nomade, der ein Leben ohne Stress führen will.

„Anders kann ich mir das Leben nicht vorstellen“

Die Frage nach seinen Gründen beantwortet er mit wenigen Worten: „Nur um des Reisens willen“. Abgesehen von den Familienreisen hat er mit 17 die erste eigene Reise unternommen, für die er allein das Geld gespart hat: Er ist nach Spanien gefahren. Seitdem sind ihm auch Gegenden wie Indien, Sri Lanka, die Länder in Südostasien und Nordafrika kein Geheimnis mehr. Darüber hinaus meint er, er hätte schon einen Fortschritt gemacht, vom wandernden Rucksackreisenden zum Rad fahrenden. Ab und zu hält er bei Jugendherbergen, zum Waschen und Schlafen. Auf diese Weise kann man ein fremdes Land, dessen malerische Landschaften sehen und neue Menschen kennenlernen. Er macht ständig neue Entdeckungen und ist frei, denn er reist allein. „Es ist besser so, weil man sich nicht um andere Menschen kümmern muss“, erklärt er seiner eigenen Bedürfnisse bewusst. Bis jetzt hat er eine 3100-Kilometer-Strecke hinter sich. Die Reise ist noch am Anfang und Joe kann trotzdem feststellen, dass die letzten zwei Monate positiv auf ihn gewirkt haben: Körperlich fühlt er sich besser und er ist viel motivierter als vorher. Seine Schlussfolgerung: Je mehr er schon gesehen hat, desto mehr möchte er noch sehen. Nach allen Reisen, die er bis jetzt unternommen hat, wurde ihm klar, dass er ein privilegierter Mensch ist. Er hat auch bemerkt, dass er sich machtlos fühlt, wenn er sieht, wie manche Leute mit der Umwelt umgehen.

Wälder, Burgen und Berggipfel

In Rumänien wollte Joe unbedingt Siebenbürgen sehen, von dieser Gegend hat er in den Nachrichten gehört, die über die Reisen von Prinz Charles dahin berichteten. Der Prinz sagte über das letzte Land in Europa mit mittelalterlichem Charme: „Ein Leben, so wie man es in Siebenbürgen führen kann, ist etwas sehr Seltenes heutzutage. Diese Welt ist außerordentlich schön und magisch.“ Deswegen wollte auch Joe die Natur sehen, die unberührt von der Hand des modernen Menschen ist. Von der althergebrachten Lebensweise, die langsam ausstirbt, hat er auch gehört, aber das tatsächlich zu erleben, war ein Kulturschock: Das einfache, trotzdem raue, harte Leben ohne mechanisierte Landwirtschaft, so zum Beispiel die Pferdewagen als Transportmittel, hat ihn in Erstaunen versetzt. „Im Vereinigten Königreich gibt es kaum Wälder, das Land wird in einem großen Maß bewirtschaftet und mit Pestiziden besprüht“. Als Gegenbeispiel für die Reinheit der Umgebung und ihrer Stille erwähnt Joe die Großstadt London, wo es überall Videokameras gibt und das Leben nie zur Ruhe kommt. Deshalb hat er großes Interesse an Schutzgebieten, an der wilden Natur mit ihren Wäldern, Seen und Flüssen, da alles ganz anders ist als zu Hause. In Schäßburg/Sighişoara, Hermannstadt/Sibiu und Kronstadt/Braşov hat er sich nicht lange aufgehalten, denn wichtiger ist ihm die Reise an sich und die Betrachtung der Landschaft. Er mag die Wälder, die Burgen und die Berggipfel. „Die Wildtiere sind relativ zahlreich, die Gegend ist noch ziemlich wild.“

Joe hat alles, was er braucht, auf seinem Fahrrad. Er reist mit möglichst wenigen Sachen, nimmt nur das Wesentliche mit. Ein Zelt ist ziemlich hilfreich, da er nicht immer in einer Jugendherberge übernachtet. Als er einmal sein Zelt aufstellte, ist ein Schäfer zu ihm gekommen. Der meinte, das Schlafen in einem solchen Zelt sei Luxus und küsste seine Fingerspitzen als Zeichen der Bewunderung für solche Bedingungen. „Ich habe mich geschämt, der Schäfer hatte wahrscheinlich noch weniger als ich“, meint Joe.

Alle Menschen sind nett

Joe ist den Menschen, denen er begegnet, sehr dankbar. Er spricht über den Pfarrer in Agnetheln/Agnita, dessen Eltern nach Deutschland ausgewandert sind. Der Pfarrer ist in Rumänien, seiner Gemeinde zuliebe, geblieben. Er meint, solche Menschen seien großzügig. Eine alte Frau aus Deva hat für ihn gekocht. Eine andere Frau in derselben Gegend hat für ihn Essen gekauft. Als er sein Fahrradschloss vergessen hatte, wurde ihm auch geholfen. Deshalb schlussfolgert er, dass es kaum einen Unterschied gibt zwischen den Menschen aus den verschiedenen Ländern der Welt. „Jedenfalls habe ich bisher keine schlechten Menschen getroffen“, meint er. Als er die Jugendherberge verlässt und sich von der redseligen Verwalterin verabschiedet, begleite ich ihn noch ein paar Schritte. Kurz danach unterhält er sich mit einem Iren, der wie aus heiterem Himmel erscheint, als ob sie enge Freunde wären. Am Angerplatz kauft er Gemüse und Salami. „Ein Radfahrer braucht Energie“, erklärt er. Nach dem Abschied erfahre ich, dass er einen Reifen in der Jugendherberge vergessen hat. Aber ich mache mir keine Sorgen, sicherlich wird sich dieses Problem irgendwie erledigen.