„Es wird viel Wert auf die Anwendbarkeit der Kenntnisse gelegt.“

Interview mit Prof. Helene Wolf, der Leiterin des Nikolaus-Lenau-Lyzeums Temeswar

Prof. Helene Wolf leitet das Nikolaus-Lenau-Lyzeum Temeswar.

Heuer wurden an der Spezialkasse überdurchschnittlich gute Ergebnisse in der allgemeinen deutschen Hochschulreife erzielt. Das Foto zeigt Prof. Sigrid Kadur, die Leiterin der Deutschen Spezialabteilung, mit den sieben Schülern, die die Prüfung mit der Mittelnote 1.0 geschafft haben. Diese sind (alphabetisch geordnet): Ruxandra Dumitru, Mihai Fălcușan, Aurora Frățilă, Valentin Ganț, Philip Nicola, Iulia Telescu und Radu Tulcan. Fotos: Zoltán Pázmány

Über hervorragende Leistungen im Abi, über die allgemeine deutsche Hochschulreife und das rumänische Abi, aber auch über Schulsysteme im Vergleich und wo nachgebessert werden kann, sprach Prof. Helene Wolf mit der Redakteurin Ștefana Ciortea-Neamțiu.

In diesem Jahr gab es an der Spezialklasse am Nikolaus-Lenau-Lyzeum Temeswar besonders gute Ergebnisse beim deutschen Abi, mit sieben Schülern die die Bestnote hatten. Wie haben die Schüler das geschafft?

Es ist eine frühzeitige Auswahl gewesen, insofern sich in den letzten Jahren die besten Schüler entweder die Mathematik-Informatik-Klasse oder die Naturwissenschaften-Klasse gewählt haben. Das ist nicht unbedingt wünschenswert, es ist aber so geschehen, in diesem Jahr aber haben auch die Eltern der Schüler bemerkt, dass sich die Schüler viel stärker als in anderen Jahren engagiert haben, selbstverständlich wünschen wir uns so eine Mobilisierung die ganze Schulzeit, aber auch im Prüfungsjahr ist sie willkommen. Es ist zum einen eine gute Klasse, mit guten Schülern, mit viel Potenzial, zum anderen haben sie sich auch sehr engagiert und auch gegenseitig geholfen und auch mitgerissen sozusagen im Lernen. Die Prüfungsbeauftragte in diesem Jahr seitens des Landes Sachsens der Kultusministerkonferenz hat auch gemeint, dass sie in ihrer Karriere nie so eine gute Generation getroffen hat.

Eine 1.0 bedeutet nicht, dass diese Schüler in allen Fächern 15 Punkte erreicht haben, sie haben mehrere Prüfungsfächer als im rumänischen System, die mündlichen Prüfungen sind ein Teil der Einleitung, aber ein Schüler, der die allgemeine deutsche Hochschulreife mit 1.0 erreicht hat, hat eine Punkteanzahl zwischen 165 und 180 erhalten, das heißt nicht maximale Punkteanzahl in allen Fächern. Es bedeutet aber trotzdem eine Höchstleistung, denn fünfzehn Punkte erhalten Schüler bei einer mündlichen Prüfung, die nicht nur auf den vorbereiteten Teil antworten, sondern auch auf Fragen im zweiten Teil, die im Stegreif zu bewältigen sind und die einen Schüler praktisch durch den ganzen Stoff führen können, seine detaillierte und strukturierte Denkweise auch zeigen.

Das auch im Unterschied zu den mündlichen Prüfungen im rumänischen Abi-System.

Das ist nicht zu vergleichen mit dem Niveau der Kompetenzprüfungen in unserem System, für unsere Schüler. Man soll nicht verstehen, dass ich die Kompetenzprüfungen nicht schätze; sie sind für viele Schüler schon eine Herausforderung, leider. Aber wir haben schon gute Schüler.

Man hat in den letzten Jahren auch sehr viel in den Medien über das rumänische Abi gesprochen, wo die Bestnoten immer seltener werden. Warum ist das der Fall?

Es sind eigentlich unterschiedliche Bewertungen, zum einen zählt beim rumänischen Bakkalaureat nur das Ergebnis in den schriftlichen Prüfungen, bei der Prüfung für die Erlangung der allgemeinen deutschen Hochschulreife und des rumänischen Bakkalaureat-Diploms ist die Bewertungsweise nach deutschem System, was bedeutet, dass die Lernergebnisse in den letzten zwei Jahren in der Qualifikationsweise eine Bedeutung haben und in der Endnote mit berechnet werden. Das bedeutet, es ist nicht eine Vorbereitung ausschließlich auf die Prüfungen, sondern eine Vorbereitung, die eigentlich schon viel früher beginnt, ganz am Anfang kann man sagen.

Was eigentlich nicht einfacher ist.

Es ist eine Bewertung, die sicherlich nicht ein Lernen im letzten Moment begrüßt und unterstützt. Oder ausschließlich für Prüfungen und nicht während der Schulzeit.

Was man von außen mitbekommt, ist, dass gerade in den Spezialklassen sehr viel Wert auf Kreativität gelegt wird, während im rumänischen Schulsystem eigentlich immer noch viel auf Lerninhalte und das Auswendiglernen. Kann es sein, dass die Schüler auch mehr Spaß am Lernen haben?

Ich würde nicht unbedingt diese Kreativität beachten, sondern die Anwendungsbereiche und die Anwendbarkeit der Kenntnisse, auf welche viel Wert gelegt wird. In einer Mathe-Prüfung wird weniger Kreativität verlangt, eventuell kann sich diese bei der Lösungsweise einer Aufgabe zeigen, aber Kreativität kommt nicht ohne Arbeit, ohne eine solide Grundlage aus.

Wenn Sie schon die Mathe-Prüfung erwähnt haben, welche Unterschiede gibt es da zwischen einer Mathe-Prüfung im deutschen und einer im rumänischen System?

Im rumänischen System dauern alle Prüfungen gleich lang, drei Stunden, man geht zur Prüfung nur mit dem Kugelschreiber oder dem Tintenfüller und mit dem Ausweis in den Saal und alle Kenntnisse sind im Kopf. Im deutschen System werden schon auch weitere Kompetenzen getestet, es ist ein Prüfungsteil ohne Materialien, den die Schüler ohne Hilfsmittel zu bewältigen haben, es ist aber auch ein Prüfungsteil, in dem Schüler auch Zugang zum GTR (grafikfähige Taschenrechner mit numerischen Funktionen, aber ohne Computeralgebrasystem – N. Red.) beziehungsweise zur Formelsammlung haben. Das heißt, falls man sehr aufgeregt ist, einem fällt eine Formel nicht ein, wenn die Rechnungen kompliziert sind, aber wenn man die Lösung einer Aufgabe kennt, soll das nicht das Ergebnis beeinträchtigen. Die Bewertung ist eher kompetenzorientiert. Die Mathe-Prüfung dauert vier Stunden, die Deutsch-Prüfung dauert fünf Stunden. Fünf Stunden – man könnte meinen, das ist viel zu viel Zeit. Nein, die Zeit reicht kaum, aber man hat tatsächlich auch Zeit zu überlegen und ein bisschen kreativ zu sein. Die Geschichte-Prüfung dauert drei Stunden und da kommt man kaum zum Überlegen, das ist eine Prüfung, die sehr gut vorbereitet sein muss, weil die Anforderungen nicht weniger sind.

Auch wird sehr viel über die Unterschiede zwischen Bildungssystemen gesprochen, da wird auch über das deutsche, aber sehr oft das finnische Modell gesprochen. Warum übernimmt eigentlich das rumänische System nichts davon? Warum schauen wir es nicht anderen ab, wie sie das machen?

Ich bin nicht im Ministerium, ich kann das schwer beantworten, aber es sind eigentlich schon verschiedene Welten. Allein schon die Temperaturen sind andere in unserem Land, die Bevölkerungsdichte ist eine andere. Leider auch die Wirtschaft, demzufolge auch die Finanzierung des Unterrichtwesens. Das sind dann auch die entsprechenden Folgen, die wir spüren. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die dem alten System nachtrauern, aber es ist bis 1990 schon eine konsequente Finanzierung der Schulen gewesen. Zurzeit sind Schulen nicht mehr finanziert, beziehungsweise hat man im Sinne der Dezentralisierung die Schulen der Stadtverwaltung überlassen, die Verwaltungsrechte sind übertragen worden, aber das Geld ist ihnen nicht gefolgt, nicht nachgezogen und ist auch nicht mehr geworden. Außerdem ist es nicht zu vergleichen: Man kann schwer Temeswar mit umgebenden Ortschaften vergleichen, die nur eine Schule zu verwalten haben im Vergleich zu Temeswar und anderen Großstädten wo viel mehr Infrastruktur im Schulwesen zu verwalten ist. Es gibt die Möglichkeit von verschiedenen Projekten, die kann man aber nicht von heute auf morgen machen und das ist dann auch eine große Verwaltungsarbeit, ein EU-Projekt für Investitionen in Schulen zu erarbeiten.

Wie viel Spielraum haben die Lehrer im Unterricht im rumänischen System?

Der Unterricht soll eigentlich schon nach eingebürgerten Methoden stattfinden. Es ist schon wünschenswert, dass unsere Lehrer auch mehr Zeit in die Vorbereitung des Unterrichts einbringen und diese Zeit auch haben. Bekanntlich ist da noch ein Nebenjob, der auch zeitraubend ist, um einen angemessenen Lebensunterhalt zu haben. Bei einer besseren Bezahlung, denke ich, würde man mehr Zeit in die Vorbereitung des Unterrichts einbringen; das ist eine Hoffnung und ein Gedanke. Aber Unterrichtsmaterialien braucht man auch weiterhin. Wenn man alleine die Montessori-Schule anschaut, das ist eigentlich nichts Neues, das ist Anfang des Jahrhunderts so erdacht worden und es ist das, was schon meine Großmutter schon an einer normalen Grundschule unterrichtet hat. Weiterhin ist die Vorbereitung in der Methodik des Unterrichts schon ein Desiderat für uns alle. Was unser Unterrichtssystem im Vergleich zum deutschen System in diesem Sinne der Vorbereitung des Unterrichtes vermisst, ist eben die Zeit des Referendariats bis zum Staatsexamen, in unserem Fall dem „definitivat“, eine Zeit, in der frische Absolventen nicht sich selbst überlassen sind, sondern effektiv betreut und an Seminarschulen eingeteilt werden, die Trainerlehrer haben. Dabei werden die frischen Absolventen nicht nur in der Methodik und Didaktik des Faches betreut, sondern auch in den Gesetzen, die das Schulwesen betreffen und sie bekommen auch Insidertipps.