EU-Regulierungen für den Geheimdienstbereich

Gespräch mit MdB Christian Flisek, Obman des NSA-Untersuchungsausschusses im deutschen Bundestag (II)

MdB Christian Flisek konnte in Kronstadt auch die ADZ kennenlernen.
Foto: Ralf Sudrigian

Welches sind die ersten Schlussfolgerungen des NSA-Untersuchungs-ausschusses, in dem Sie als Mitglied des Deutschen Bundestages und als SPD-Obmann tätig sind?

Ursprung für den Ausschuss waren die Enthüllungen von Edward Snowden im März 2013. Wir haben daraufhin im Bundestag im März 2014 einen Untersuchungsausschuss konstituiert. Dieser Ausschuss hat drei Aufgaben: Erstens soll er eine Bilanz ziehen: Was haben die Geheimdienste der sogenannten Five Eyes Staaten (das sind die USA, Großbritannien, Neuseeland, Australien und Kanada – Staaten, die im Geheimdienstfragen sehr, sehr eng miteinander kooperieren) in Bezug auf Datenerhebung deutscher Bürger und Unternehmen im Zeitraum zwischen 2001 (die Anschläge auf das World Trade Center) und 2014 unternommen?

Der zweite Komplex umfasst die folgenden Fragen: Inwieweit waren unsere eigenen deutschen Geheimdienste (insbesondere der Bundesnachrichtendienst als Auslandsgeheimdienst) daran beteiligt? Haben sie im Rahmen von Kooperationen Hilfe geleistet oder haben sie irgendwelche Maßnahmen unterstützt? War das rechtswidrig beziehungsweise gegen deutsche Interessen? Der dritte Komplex beinhaltet die folgende Frage: Was können und müssen wir reformieren?

Ein erstes Zwischenergebnis ist, dass sich die Geheimdienstarbeit durch die Digitalisierung der Gesellschaft komplett geändert hat. Man differenziert bei der Geheimdiensttätigkeit im Wesentlichen zwischen zwei Bereichen: zwischen HUMINT (Human Intelligence) und SIGINT (Signal Intelligence). HUMINT ist die klassische Arbeit, die man auch aus James-Bond-Filmen kennt. Dieser Bereich ist nach wie vor wichtig, aber er wird zunehmend durch den zweiten Bereich SIGINT verdrängt. In unserer heutigen Welt ist vieles digital.

SMS, E-Mails und Telefongespräche werden permanent um den Globus geschickt. SIGINT baut auf dem Versuch auf, diese Daten abzufangen und auszuwerten. Die NSA hat die dazu notwendigen technischen Kapazitäten – und sie hat auch das entsprechende Knowhow. Sie arbeitet nach der Philosophie des „full take“. Das bedeutet bildlich, dass sie einen Heuhaufen von Daten anlegt, ohne zu wissen, ob sie diese jemals braucht. Für den Fall, dass irgendein Anlass besteht, wird in den Heuhaufen hineingriffen und geschaut, ob etwas Interessantes drin ist. Das widerspricht der Philosophie des europäischen Datenschutzes und auch der Philosophie, wie unsere Geheimdienste arbeiten sollen. Wir wollen keinen Heuhaufen, wir wollen, dass Menschen nur dann von Geheimdiensten überwacht werden, wenn dazu ein konkreter Anlass besteht.

Wir sind dagegen, dass Daten von Bürgern anlasslos gespeichert werden. Das ist ein großer Konflikt, der zwischen amerikanischen und europäischen Rechtsvorstellungen besteht. Wir haben festgestellt, dass unser Geheimdienst, der BND, sich im Bereich der Signal Intelligence bei der Überwachung von Ausländern in einem rechtsfreien Raum befindet. Das heißt, es ist niemand für die Kontrolle dieser Tätigkeit zuständig. Das Problem, das ich sehe, ist ein europäisches: In einer Zeit, in der wir in Europa ein hohes Maß an Integration erreicht haben, kann es nicht sein, dass wir mit Steuergeldern unsere jeweiligen nationalen Geheimdienste subventionieren, um jeweils die anderen europäischen Bürger und Unternehmen auszuspionieren.

Der Geheimdienstbereich ist einer der letzten Bereiche, der in keiner Weise europäisch reguliert ist. Es existieren dort keine europäischen Standards. Geheimdienstarbeit ist „national business“. Hier herrscht eine Kultur des Misstrauens, die wir uns in Europa nicht leisten können. Als Zwischenfazit kann ich Folgendes festhalten: Wir wollen – das haben wir vor rund vier Wochen im deutschen Bundestag als SPD-Fraktion präsentiert – in Europa eine Vereinbarung treffen, bei der sich die Mitgliedstaaten verpflichten, dass die Standards, die beim Schutz ihrer eigenen Bürger angelegt werden, auch beim Schutz anderer EU-Bürger angelegt werden. Das bedeutet, dass man niemanden anlasslos überwachen darf, sondern nur dann, wenn er beispielsweise im Verdacht steht, organisierte Kriminalität zu unterstützen oder wenn er Teil eines terroristischen Netzwerkes ist.

Bezüglich des Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP): Welche Bedenken bestehen noch? Zu welchen Themen gibt es noch Verhandlungsbedarf?

Zu TTIP haben wir in Deutschland eine sehr intensive, angstgetriebene Debatte. Es ist eine Mischung aus tatsächlicher Faktenkenntnis einerseits und aus Vorurteilen andererseits. Fangen wir mit den Vorurteilen an: Gerade auch in Deutschland herrscht in allen Bevölkerungsschichten eine latente Form von Anti-Amerikanismus vor. Man traut den Amerikanern alles zu. Die NSA hat das sicherlich beflügelt. Das verdeckt aber auf der anderen Seite, dass die USA und Kanada Wirtschaftsräume darstellen, die Europa von seinen Werten her, von der Frage, wie man einen Staat organisiert, am nächsten sind.

In Deutschland hat man Angst davor, dass Verbraucherrechte und -standards minimiert werden, dass Arbeitnehmerschutzrechte, Umweltschutzstandards (Stichwort Fracking – ein großes Thema in Deutschland) minimiert werden. Ich war jetzt mehrfach in den USA und habe dort mit Amerikanern über TTIP geredet – sie sehen es genauso: auch sie haben Angst, dass aufgrund der Europäer ihre Standards minimiert werden. Wir müssen uns bewusst machen, dass es auf beiden Seiten sehr, sehr hohe Standards gibt – wenn auch unterschiedlich akzentuiert. Wir haben in Deutschland eine ganz große Debatte über die so genannten Schiedsgerichte. Denn TTIP sieht vor, dass Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmen und Staaten nicht mehr vor staatlichen Gerichten zu klären sind, sondern vor Schiedsgerichten. Und niemand weiß genau, wer dort drinsitzt, nach welchen Regeln entschieden wird.

Die Entscheidungen werden auch nicht veröffentlicht – und es gibt auch nur eine Instanz. Diese Sorgen verstehe ich sehr konkret. Ich glaube, dass wir zwischen Rechtsstaaten keine Schiedsgerichte brauchen. Wir können uns auf Gerichtshöfe verständigen, die mit Richtern besetzt sind, die transparent arbeiten und deren Entscheidungen auch veröffentlicht werden. Sigmar Gabriel hat als Bundeswirtschaftsminister diesen Vorschlag gemacht, und ich finde, das ist ein sehr guter Vorschlag (die Erklärung von Madrid). Sigmar Gabriel ist dabei, das mit der EU-Kommission zu verhandeln.

Ansonsten ist TTIP auch eine große Chance. Die Globalisierung findet statt, ob wir wollen oder nicht. Wir als Deutsche, die immer glauben, dass wir wirtschaftlich so potent seien, müssen wissen, dass wir ohne Europa in diesem Konzert der Globalisierung nichts sind. Wir müssen uns zusätzlich noch Partner suchen, die in etwa so ähnlich funktionieren wie wir, beispielsweise Nordamerika, damit wir überhaupt in der Lage sind, die Regeln der Globalisierung mitzuentscheiden. Denn wenn diese Regeln in Zukunft in Ländern wie Indien, China oder Brasilien entschieden werden – und vieles spricht dafür – dann besteht eine Gefahr für unser gesamtes soziales und kulturelles europäisches Modell. Deswegen bin ich in der Grundtendenz jemand, der TTIP mit wachsamen Augen unterstützt, denn ansonsten werden die Regeln der Globalisierung ohne uns bestimmt – und das wäre furchtbar. Es wird wohl noch zwei Jahre dauern, bis die TTIP-Verhandlungen abgeschlossen sind.

Vorgeworfen wird, dass das hinter verschlossenen Türen stattfindet.

Richtig. Hier muss man aber auch wissen, dass sämtliche Handelsverträge, überhaupt Kooperationsverträge, in der Vergangenheit nicht öffentlich verhandelt worden sind. Es hat sich früher auch niemand dafür interessiert. Was die Politiker in der heutigen Zeit berücksichtigen müssen, ist die Tatsache, dass sich mit dem Internet und den sozialen Netzwerken der Begriff der Öffentlichkeit völlig verändert hat. Das ist für die Politik ein Lernprozess. Man wird solche Verträge wie TTIP oder ACTA in Zukunft nicht mehr hinter verschlossenen Türen verhandeln können, so wie das über Jahrzehnte der Fall war. Es zeigt sich, dass die Menschen beteiligt sein wollen. Deswegen müssen solche Prozesse in Zukunft ganz anders gesteuert werden. Das ist für die Politik ein bitterer und guter Lernprozess zugleich. Den nächsten Vertrag wird man sicher von vorneherein transparenter verhandeln.

Vielen Dank für dieses Gespräch!

Die Fragen stellte
Ralf Sudrigian