Fuchs, Du hast die Gans gestohlen...

Über Solidarität und europäische Werte in Zeiten der Krise

Kaum ein Wort wurde in den vergangenen Jahren so missbraucht, wie der Begriff der „Solidarität“. Insbesondere in Deutschland kursieren Beschuldigungen, von ranghohen Politikern bis zum Überdruss wiederholt, dass die Visegrád-Staaten sich in der Flüchtlingsfrage „unsolidarisch“ verhalten. Mehrmals wurde aufgeworfen, die strukturellen Fonds der EU für die ehemaligen Ostblockstaaten zu kürzen, eben weil die Osteuropäer sich immer noch unerbittlich weigern, „Schutzsuchende“ nach einem von Deutschland eigens vorgeschlagenen Umverteilungssystem aufzunehmen. Die noch vor fünf Jahren als Vorbild der „Integration“ gepriesenen Länder Polen und Ungarn, beide zweifelsohne einem nationalistischem Ruck verfallen, wie mehr oder minder alle osteuropäischen Staaten mittlerweile, wurden von unzähligen deutschen und EU-Politikern für ihre mangelnde Solidarität gescholten, von Angela Merkel, Thomas de Maiziere, Sigmar Gabriel, Joachim Gauck und Frank-Walter Steinmeier über Emmanuel Macron, Jean-Claude Juncker bis zu Jean Asselborn, der kurzerhand erklärte, man müsse Ungarn schlichtweg aus der EU-Gemeinschaft rauswerfen, weil es sich nicht an „europäischen Werten“ orientiert, gar gegen sie verstoßen würde. Solche Aussagen führten zu einer begeisterten Zustimmungswelle in Deutschland, in letzter Zeit aber nur mit einer verminderten Vehemenz, denn sogar deutsche Linke haben zähneknirschend akzeptieren müssen, dass man nicht halb Europa, wie ein strenger Vater einem sich daneben benehmenden Minderjährigen, eine Lektion mit dem erhobenen Zeigefinger erteilen kann.

Dabei wurde das Wort „Solidarität“ im Deutschen aus dem Französischen übernommen, das wiederum es aus dem Lateinischen „solidum“ übernommen hatte, was so viel wie „ganz, vollständig“ bedeutet. „Solide“ als Adjektiv ist etwas, wenn es als fest, echt, zuverlässig oder stabil bezeichnet werden kann. Dass man innerhalb der EU in ihrem jetzigen, schwer angeschlagenen Zustand, vielleicht das Wort nicht mehr so inflationär benutzen sollte, wäre empfehlenswert. Ja, es stimmt: Die osteuropäischen Staaten sind, gelinde gesagt, von der heutigen EU-Politik nicht hellauf begeistert. Seit der Griechenlandkrise, die von der noch größeren Flüchtlingskrise in den Schatten gestellt worden ist, hat die EU massiv an Beliebtheit im Osten (wie auch im Westen) des Kontinents einbüßen müssen. Der Vorwurf des Westens, sich in der Flüchtlingskrise nicht „solidarisch“ zu verhalten, wurde oft und meist oberflächlich oder trivial-moralisierend in der deutschen Presse behandelt.

Was in der deutschen Presse selten besprochen wurde, ist aber die Frage, wie „solidarisch“ sich der Westen mit seinen osteuropäischen Brüdern und Schwestern in den letzten zwei Jahrzehnten benommen hat. Denn Solidarität ist keine Einbahnstraße, sie funktioniert nach denselben Prinzipien sowohl in West- als auch in Osteuropa. „Osteuropa: Die Schande der fehlenden Solidarität“, heißt es in der „Welt“; der Autor des Artikels, Jan T. Gross, klärt im Untertitel messerscharf auf: „Die Osteuropäer haben kein Schamgefühl“. Hunderte, wenn nicht Tausende ähnlich klingelnde Artikel wurden in den deutschen Medien veröffentlicht, eine schlicht unvorstellbare Kritik, die unverzüglich eben von jenen Toleranz fordernden „Gutmenschen“ als „Hassrede“, „Generalverdacht“ oder „geistige Brandstiftung“ abgestempelt wäre, würde man den Begriff „Osteuropäer“ mit „Türken“, „Moslems“, „Schwarze“, „Ausländer“ oder „Flüchtlinge“ ersetzen. Dass dies den meisten nicht auffällt, zeugt von ihrer ideologischen Verblendung und Heuchelei.

Woher kommt also die Abneigung gegenüber dem Osten? Kann es sein, dass weite Teile der Bevölkerung Westdeutschlands es noch immer nicht akzeptieren können, dass die „Ossis“ nicht mehr am Katzentisch sitzen? Wie sieht es mit der Solidarität innerhalb Deutschlands aus, wo der ehemalige Bundespräsident Gauck den ganzen Landesosten als „Dunkeldeutschland“ bezeichnete? Von der Kluft zwischen Arm und Reich will ich hier gar nicht reden, von der steigenden Alters- und Kinderarmut, von den immer noch – nach fast 30 Jahren – kleineren Einkommen in Ostdeutschland, das könnte ja möglicherweise eben jener Linken oder einer mittlerweile bei 20 Prozent angelangten „Volkspartei“ wie die SPD einen Denkanstoß geben, wie sie die nächsten Wahlen vielleicht gewinnen würden. Was kann man auf europäischer Ebene noch erwarten, wenn nicht mal in einem Land die Menschen imstande sind, vernünftig miteinander zu sprechen? Dasselbe, eben nur Makro.

Hat sich ein deutscher Politiker mal dazu geäußert, ob es wirklich Zufall ist, dass die letzten Positionen im Vergleich des durchschnittlichen Bruttoeinkommens von Vollzeitbeschäftigten in der EU systematisch von ehemaligen Ostblockstaaten besetzt werden? Hat ein EU-Abgeordneter mal erklärt, wie es dazu kommt, dass in derselben Europäischen Union, 30 Jahre nach dem Fall des Kommunismus und 13 Jahre nach der Osterweiterung, ein Däne 4664 EUR im Monat verdient, ein Luxemburger 4246 EUR und ein Ire 4003 EUR (Stand: 2014), während ein Litauer 706 EUR; ein Rumäne 527 EUR und ein Bulgare ganze 436 EUR bekommt? Wie sieht es in diesem Fall mit der Solidarität aus? Mit den europäischen Werten? Was geschieht, wenn man nicht mehr nach Ost-West oder Dunkel- und Helleuropa unterscheidet, sondern nach den Einkünften und Lebensstandards? Gewiss, es zählen Kriterien wie Produktivität, Wirtschaftlichkeit, Lohn- und Arbeitskosten. Ist es aber nicht befremdend, dass Politiker, die ständig andere über Solidarität belehren, die die ganze Welt retten wollen, die sich zu solch großen moralischen Taten verpflichtet fühlen, in diesem Fall plötzlich keine Bedenken haben?

Nun hat der Präsident der Europäischen Kommission, in der 13. Stunde, in einer schwer dysfunktionalen EU, eine Rede gehalten, die zumindest eine richtige Richtung aufzeigt. Ob der Euro Sinn macht oder nicht, ob die Osteuropäer überhaupt den Euro noch wollen, möchte ich hier nicht diskutieren. Ob der Schengen-Raum noch irgendwas bedeutet, auch nicht. Was aber zählt, ist endlich der Gedanke, die Unterschiede innerhalb der EU zu reduzieren, wenn nicht zu eliminieren. Das Miteinander anstatt das Gegeneinander, Konsens statt Dissens. Und wie steht es in diesem Fall mit der Solidarität des Westens? Eher schlecht, Bundesinnenminister de Maiziere ist im Grunde einverstanden, möchte aber, dass alles beim Alten bleibt, Wolfgang Schäuble, Emmanuel Macron und Mark Rutte haben allesamt erhebliche Probleme, merkliche Berührungsängste, üben sich plötzlich in einer großen Zurückhaltung. „Wir schaffen das”, mutiert nun zu „Das geht so nicht”. Weder der Euro wäre für die Osteuropäer zumutbar, noch können Rumänien und Bulgarien in den Schengen-Raum aufgenommen werden. Eine überwältigende Solidarität fällt in diesem Fall, wie immer in den letzten Jahren, leider aus.

Was aus der EU werden wird, weiß heute niemand so genau. Der Imageverlust scheint irreparabel zu sein, die Ambivalenz, die Plänkelei, die Unfähigkeit, einen einzigen Beschluss gemeinsam zu fassen, sei es die Flüchtlingskrise, der Brexit, der Türkei-Beitritt oder der Euro, das alles scheint zu einem traurigen Dauerspektakel geworden zu sein. Um es mit den Worten Andrea Leadsoms, der konservativen britischen Politikerin, zu sagen, scheint die EU ein Klub geworden zu sein, in dem „28 Mitgliedsstaaten nicht mal ein Curry zum Mitnehmen organisieren können”. Weniger beißend hat es der ehemalige rumänische Außenminister und Autor Andrei Pleşu einst formuliert: „Europa ist nicht der Westen plus Westen. Wir müssen den willkürlichen und unproduktiven Bruch zwischen dem ‚zivilisierten‘ Westen und dem ‚übelnehmerischen‘ Osten überwinden. Kurz gesagt: Wir müssen erneut lernen“, sagt Pleşu, „dieselbe Sprache zu sprechen”. Das wäre in der Tat ein guter Anfang, bleibt aber vorläufig nur unvorstellbare Zukunftsmusik.

Remus Racolţa, Wuppertal