Gemeindearchiv zwischen viel Müll

Das Projekt zur Registrierung von Archivmaterial zur jüdischen Geschichte und vieles mehr

Die amerikanische Forscherin 2013 in Hermannstadt Foto: die Verfasserin

Die schöne Synagoge in Mediasch verstaubt und verfällt.

Julie Dawson bei der Putzaktion 2008 in Mediasch

Zwischen viel Müll lagen wertvolle Schriftstücke in der Synagoge in Mediasch. Fotos: Christian Binder

„Nachdem bemerkt worden, daß wiederholte auf höhere Anordnungen veranlaßte Verbothe, Juden, welchen mittelst Landtags-Gesetzen bestimmte Ansiedlungs- und Aufenthalts-Orte angewiesen worden sind, aufzunehmen und zu beherbergen, nicht also wie es die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, getroffenen Einrichtungen erheischen, beobachtet werden, so wird, mit Bezugnahme auf die frühern, und besonders auf das unterm 21. März 1831 gedruckt in Umlauf gesetzte Verboth, zu Jedermanns Warnung öffentlich bekannt gemacht, daß Jeder welcher gegen dieses Verboth Juden, ohne Vorzeigung, für jeden einzelnen Fall besonders, von der Löbl. Polizei-Direction ausgestellter Aufenthaltsscheine, aufnehmen, oder, über die darin bestimmte Zeit, beherbergen wird, für den 1-ten Fall mit einer Geldbuße von 12 fl. C. M. bestraft, im Wiederholungsfalle aber einem ernstern Verfahren unterzogen werden wird.“

Die mit dem „31. Dec. 1836“ datierte obige „Bekanntmachung“ wurde vom „Magistrat der königl. freien Stadt und des Stuhls Hermannstadt“ veröffentlicht. Sie ist in der Hermannstädter Zweigstelle der Nationalen Historischen Archive aufbewahrt und nun auf dem Blog des am Leo-Baeck-Institut angesiedelten Projektes zur Registrierung von Archivmaterial zur jüdischen Geschichte in der Bukowina und Siebenbürgen nachzulesen. Es ist einer der zahlreichen interessanten Funde, die Julie Dawson und ihr Kollege Timothy Ryan Mendenhall bisher gemacht haben. Seit Anfang Mai sind sie für das Leo-Baeck-Institut in Hermannstadt/Sibiu und waren vorher, im März und April, in Suceava. Im Rahmen des auf sechs Monate angelegten Projektes sollten sie eine Bestandsaufnahme in den Archiven in Suceava und dann in Hermannstadt, Kronstadt/Braşov, Neumarkt/Târgu Mureş, Karlsburg/Alba Iulia und eventuell in Klausenburg/Cluj-Napoca und Temeswar/Timişoara all jener Bestände machen, in denen es Informationen zu den jüdischen Gemeinschaften gibt. Das war die Planung in New York. Vor Ort erwies sich, dass sie nicht umsetzbar ist, da „es einfach zu viele Informationen in jedem dieser Archive gibt“, so Dawson. Also haben sich die beiden Forscher auf Hermannstadt und Suceava beschränkt und einen Antrag auf Verlängerung des Projektes auf weitere drei Jahre gestellt. Die Chancen, dass der stattgegeben wird, sind gut. Sollte die Verlängerung genehmigt werden, würde Dawson jeweils drei Monate pro Stadt und zwei Städte pro Jahre planen, also 2014 zum Beispiel Kronstadt und Temeswar. Finanziert wird der Recherche-Aufenthalt von der Rothschild Stiftung (mit Sitz in England) aus dem Yerusha-Programm (Yerusha bedeutet im Hebräischen Erbgut), das seit einem Jahr u. a. Bestandesaufnahmen von Archiven in ganz Europa fördert, die sich dem jüdischen Kulturerbe widmen. 

Nach Siebenbürgen kommt die 34-jährige Amerikanerin Julie Dawson seit 2007. Als Peace-Corps-Volunteer hat sie zunächst in Schäßburg/Sighişoara Englisch- und Deutschunterricht in der Schule Nummer 4 gegeben. In Chicago hatte sie einen Bachelor in Germanistik und einen in vergleichender Musikwissenschaft gemacht, war 2002 nach Berlin gezogen und hatte da durch Freunde Kontakte zur jüdischen Szene erhalten. In Siebenbürgen stellte sie fest, wie wenig von dem sehr großen jüdischen Kulturerbe bekannt ist und begann, in der neu renovierten Synagoge in Schäßburg Kulturveranstaltungen zu organisieren. Dank der Kontakte aus Berlin lud sie Musiker aus Deutschland, aus Budapest, später aus Frankreich und den USA ein. Desgleichen veranstaltete sie eine Fotoausstellung zu Synagogen in Südsiebenbürgen – die danach auch in Neumarkt, New York und Philadelphia gezeigt wurde. All das geschah zwischen 2007 und 2010. Danach zog sie nach New York und begann, für das Leo-Baeck-Institut zu arbeiten. Die 1955 von Hannah Arendt, Martin Buber und Gershom Scholem und anderen gegründete Einrichtung ist eine Dokumentations- und Forschungsstätte für die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums. Über seine drei Teilinstitute in Jerusalem, London und New York City soll die in Europa weitgehend vernichtete Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums bewahrt werden. Zwischenzeitlich hat Dawson ihren Master zu jüdischer Geschichte abgelegt und wird sich nächstes Jahr zur Promotion einschreiben.

Einzigartiger Fund

Ihren Master erhielt Julie Dawson mit einer Arbeit über die Geschichte (bis zum 19. Jahrhundert) der jüdischen Gemeinde von Mediasch. „Es ist bisher fast gar nichts über die jüdischen Gemeinden in den sächsischen Städten geschrieben worden, mit Ausnahme von einigen Artikeln,“ stellte sie fest. Wie sie auf Mediasch gekommen ist? In Schäßburg hatte sie begonnen, ehrenamtlich für den Mihai-Eminescu-Trust (MET) zu arbeiten und die hatte Mittel für Sicherungsmaßnahmen an einer Synagoge bekommen. Die MET-Kollegen fragten sie, ob es in der Gegend eine besonders schöne Synagoge gibt. „Da habe ich Mediasch gesagt, denn die Synagoge ist etwas Besonderes, sie ist groß und hat Gemälde an der Wand“, erzählt sie. Was sie damals nicht wusste: Im Frauenbalkon gab es auch das Gemeindearchiv. „Das war durch einen Schrank verstellt, über den man klettern musste. Das Projekt wurde spannender und spannender, denn man hatte nicht nur das Gebäude sondern auch alte Dokumente, die das Leben der Gemeinde wiederspiegeln.“ Den Frauenbalkon erstmals aufgeräumt hat sie mit anderen Freiwilligen 2008. „Es war die reinste Katastrophe, er war voll Müll und dazwischen fanden wir wertvolle Urkunden, alte Dokumente und Gebetsbücher,“ erinnert sie sich.
Interessant ist zum Beispiel das Protokollbuch der jüdischen Gemeinde aus den Jahren 1930 bis 1950. Es wurde in Deutsch geführt, erst am Ende dann Rumänisch – und leicht lesbar. Von besonderer Bedeutung ist es, weil die Sicht der Gemeinde wiedergegeben wird, denn bekannt sind bisher fast ausschließlich offizielle Texte wie Gesetze, Regierungsbeschlüsse, Zeitungsartikel usw. „Das Protokollbuch umfasst ca. 500 Seiten und es ist total spannend, was in der Zwischenkriegszeit und während des Krieges alles passiert ist“, sagt Dawson. Das ganze Buch wurde digitalisiert und wird ab Herbst 2013 oder Frühjahr 2014 auf der Webseite des Leo-Baeck-Institutes online zu finden sein, im Rahmen des Katalogs, den die beiden Forscher derzeit aufbauen.

Julie Dawsons Lieblingsprojekt ist jedoch das Tagebuch von Blanka Lebzelter, das sie ebenfalls am Balkon der Synagoge fand. In mehreren Heften schildert die aus der Bukowina stammende Frau die Nachkriegszeit in Rumänien. „Sie war eine sehr starke Frau, trotzdem sie immer wieder von ihrem grausamen Schicksal schreibt – sie war nach Transnistrien deportiert worden – denn eigentlich hat sie ihr Leben irgendwie in Ordnung gebracht“, erzählt die Forscherin. Zur Lebensgeschichte dieser Frau würde Julie Dawson gern weiterforschen und das Tagebuch veröffentlichen. Die Aufzeichnungen von Blanka Lebzelter werden zurzeit am Leo-Baeck-Institut digitalisiert.

Die restlichen der bei der Putzaktion sichergestellten Urkunden befinden sich in Mediasch. Hinter der Synagoge gibt es ein Haus, das einstige Gemeindebüro, das hat Dawson einen weiteren Sommer lang in Ordnung gebracht und alle Funde dort gelagert. Mit der Unterstützung von MET und Anda Reuben, einer gebürtigen Bukaresterin, die in New York lebt, wurde bei der Rothschild Stiftung nun ein Antrag eingereicht, um das Archiv im Rahmen eines größer angelegten Projektes zugänglich zu machen. Dawson stellt sich vor, zum Beispiel Schulklassen einen geführten Besuch der Synagoge zu ermöglichen und diese einen Tag pro Woche zur Besichtigung zu öffnen. Das Projekt leiten würde Anda Reuben, ob der Antrag genehmigt wird, erfahren sie nächstes Jahr. Dies wäre eine erste Etappe eines möglichen umfangreicheren Vorhabens. In dessen Rahmen könnte neben dem Archiv eine Art Gemeindezentrum entstehen, die Synagoge renoviert werden, in deren Vorraum eine Ausstellung über die jüdische Geschichte allgemein und im Innern eine Ausstellung zur jüdischen Geschichte in Mediasch und der Umgebung eingerichtet werden, man könnte den Frauenbalkon – ein großer, wunderschöner Raum – für Konferenzen und ähnliche Veranstaltungen einrichten, den Hof in einen Park verwandeln und vieles mehr...

Online-Katalog

In Hermannstadt waren die beiden Forscher bis Ende Juli, den August verbringt Julie Dawson in Archiven in Bukarest. Von den in den Archiven in Suceava und Hermannstadt gefundenen Dokumenten zur jüdischen Geschichte werden nur die interessantesten digitalisiert, das „Endprodukt“ ihres derzeitigen Projektes ist nämlich der Aufbau einer Webseite, die als eine Art Katalog funktionieren wird. Da gibt man zum Beispiel „Sibiu“ oder „Sighişoara“ ein und kann erfahren, was es an Dokumenten in welchem Archiv zur jüdischen Geschichte, aber auch der Multikulturalität und dem Leben in der Gegend allgemein, gibt. Zu jeder Akte wird es eine kurze Beschreibung und natürlich die Signatur sowie alle anderen Informationen geben, um sie vor Ort zu finden. Das alles auf Rumänisch und Englisch – da es vor allem für die ausländischen Forscher ein Problem ist, mit den Inventaren der rumänischen Archive klarzukommen, die nur auf Rumänisch sind. Der Online-Katalog wird aber auch für viele Leute in Rumänien eine Erleichterung der Recherchearbeit darstellen bzw. ihnen ersparen, im Archiv viel Zeit mit den Inventarlisten zu verbringen.

Im Archiv in Hermannstadt haben die beiden Forscher u. a. Briefe über die Absicht, eine Synagoge zu bauen, dann die Pläne dazu, oder Unterlagen über die Absicht, einen Kulturverein zu gründen, gefunden. Dann gibt es aus den 1930er und 1940er Jahren einige Dokumente zur antisemitischen Haltung. Dass die Situation der jüdischen Gemeinden in den beiden Landesteilen unterschiedlich war, lässt sich auch in den Archiven erkennen: „In der Bukowina bestand die Bevölkerung zu 30 bis 40 Prozent aus Juden und fast in jedem Dossier findet man Urkunden zum jüdischen Leben, muss also auswählen, was tatsächlich interessant ist. In Siebenbürgen hingegen ist es schwierig, die jüdischen von den sächsischen Namen zu unterscheiden“, erläutert Dawson. In einem jüdischen Matrikelbuch aus Fogarasch fand sie zum Beispiel eine Johanna Binder.

Was die eingangs zitierte Bekanntmachung angeht, so erinnert sie daran, dass es Juden bis zum 19. Jahrhundert verboten war, sich in den sächsischen Städten niederzulassen. Wenn für die Beherbergung eine Geldbuße ausgesetzt worden ist, bedeutete das, dass einige Leute ihre Häuser den Juden geöffnet haben. Der Magistrat allerdings betrachtete ihre Präsenz als Gefahr für die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“. Andererseits fand Julie Dawson in Conscriptionstabellen aus den Jahren 1818 und 1825 auch einige jüdischen Einwohner. Bürgerrechte wurden (so Emil Sigerus) in Hermannstadt dem ersten Juden erst 1845 zuerkannt …