Geniales Werk über ein musikalisches Genie

Der Klassiker von Pascal Bentoiu zu dem rumänischen Meisterkomponisten George Enescu liegt nun auch auf Deutsch vor

Welcher Musikliebhaber kennt sie nicht, die beiden genauso melodiösen wie mitreißenden, elegischen wie temperamentvollen, wuchtigen wie wunderbaren „Rumänischen Rhapsodien“ des begnadeten rumänischen Komponisten George Enescu (1881-1955). Für ihn selbst bildeten diese beiden heutigen Klassiker fast schon Jugendsünden, die ihn sein Leben lang verfolgt haben und den Blick auf das überragende Gesamtwerk oft verstellen. Nichtsdestotrotz wird Enescu bis heute vor allem mit diesen Rhapsodien identifiziert. Wer sich mit George Enescu beschäftigt, weiß indes, dass der Rumäne noch wesentlich mehr zu bieten hat als die beliebten Rhapsodien. Und Enescu gilt heute schon lange nicht nur im Musikkosmos des eigenen Landes, sondern weit darüber hinaus in der Kulturwelt als musikalisches Genie.

Seit 1984 gibt es auf Rumänisch ein umfangreiches wie geniales Werk über den Meisterkomponisten aus der Feder von Pascal Bentoiu. Es ist dem Berliner Verlag Frank & Timme zu verdanken, dass dieses literarische Meisterwerk über die musikalischen Meisterwerke Enescus auch auf Deutsch vorliegt. Dem Band ist eine von Raluca [tirb˛] erstellte Kurzbiographie zu George Enescu beigegeben (S. 794-751). 1881 in dem kleinen moldauischen Dorf Liveni als achtes Kind seiner Familie geboren, erwies sich Enescu rasch als Wunderkind. Mit vier Jahren nimmt er Violinunterricht, mit acht Jahren tritt er erstmals als Violinist in Erscheinung. Es folgt das Studium am Wiener Konservatorium, das er 1893 abschließt (!). Nach seinem Debüt als Geiger im Wiener Musikverein wird er von den Kritikern als „der neue Mozart“ bezeichnet.

1895 verlässt er Wien, um ins Pariser „Conservatoire“ einzutreten. Sein triumphales Debüt mit dem Počme Roumain 1898 bringt ihm Ruhm wie Neid gleichermaßen ein. Als 17-jähriger Student irritiert er so manchen mit seinen frühen Erfolgen als Komponist und Geigenvirtuose. Er gründet das Symphonische Orchester in Jassy (1917) und die Gesellschaft Rumänischer Komponisten (1920). 1923 debütiert er als Dirigent mit dem Philadelphia Orchestra und wird sogar in den USA berühmt. 1937 heiratet er die Liebe seines Lebens, Prinzessin Maria Cantacuzino, und bezieht das Palais Cantacuzino in Bukarest, das heutige Enescu-Museum. 1946 verlässt Enescu schweren Herzens aus politischen Gründen Rumänien und geht zunächst nach New York. Die letzten Lebensjahre verbringt er in Paris, wo er 1955 stirbt.        
Der Meisterkomponist und -dirigent, Violinist, Cellist, Pianist und Musikpädagoge Enescu zählt zu den größten Schöpfern klassischer Musik aller Zeiten, auch wenn seine Werke im deutschsprachigen Raum viel zu selten bei Konzerten gespielt werden. Die Wahrnehmung von Konzertplanern endet in Richtung Südosteuropa leider meist bei Béla Bartók und György Ligeti, obwohl auch diese aus dem Gebiet des heutigen Rumänien stammen, freilich nicht aus dem der Moldau.

Der Band schafft es auf spannende und unterhaltsame, hintergründige und gelehrsame Weise, dem Leser den Komponisten und seine Werke wirklich näher zu bringen, auch wenn dies bei literarischen Beschreibungen musikalischer Kompositionen nie einfach ist. Bentoiu geht insgesamt chronologisch vor und analysiert 26 Meisterwerke (S. 11-684) wie auch Fragmente („Varia oder ‚Der verborgene Teil des Eisberges‘“, S. 685-708). Er schließt mit einem summarischen Kapitel über kompositorische Mittel Enescus, stilistische Entwicklung, allgemeine Merkmale des Gesamtwerks und Typologie sowie Interpretation und Aufführungspraxis zu Enescus Partituren (S. 709-744). Der Band enthält zahlreiche Notenbeispiele und richtet sich zunächst an Musikexperten, aber auch an Musikliebhaber, die keine Noten lesen können. Auch Letztere werden diesen Band mit Genuss und Gewinn zur Hand nehmen und nach der Lektüre George Enescu und seine Musik besser verstehen als vorher.      
 
Der Autor Pascal Bentoiu (1927-2016) war selbst Komponist und Musikwissenschaftler. Er ist mit Enescus Werk aus all dessen Lebensphasen bestens vertraut und liefert zu 26 Kompositionen Werkinterpretationen, die das musikalische Genie Enescus wie auch seiner Werke eindrucksvoll nachzeichnen und dem Leser Hörempfehlungen wie Verständnishilfen bieten und mitgeben. Der Blick auf die einzelnen Werke bleibt dabei nie isoliert, sondern immer eingebettet in eine holistische Schau auf den Komponisten und das Gesamtwerk. Bentoiu selbst unterstreicht seinen Ansatz im Blick auf Enescu mit den Worten: „Man kommt ihm tatsächlich nur nahe, wenn man stetige Anstrengungen unternimmt, in die Tiefe seiner bedeutendsten Werke einzutauchen und gleichzeitig versucht, eine ganzheitliche Sicht auf diesen so vielfältigen Komponisten zu gewinnen.“ (S. 9)   

Bentoiu erklärte, er habe eine „subjektive Auswahl“ für seine Analyse getroffen. Und doch sind hier alle wichtigen Werke Enescus chronologisch erfasst. Der Autor streicht tiefste Anliegen der Musik Enescus heraus, äußert sich zu seinen Kompositionsprinzipien und interpretiert die Partituren werkgetreu und intensiv. Bentoiu bietet dabei auch Einschätzungen zu Prägungen und Vorbildern Enescus. So bestreitet er den gelegentlich behaupteten Einfluss von Johannes Brahms und hält fest: „Ich persönlich leugne kategorisch jede Nähe und sage: ‘Mit Brahms hat er keinerlei ‚innere Verbundenheit‘.“ (S. 129)
Er verweist auf Berlioz und Liszt und kommt zu dem Schluss: „Weit davon entfernt, von einem Komponisten mit klassizisierender und gar akademischer Note wie Brahms ‘beeinflusst‘ zu sein, sieht man bei Enescu eher eine neue Verkörperung, voller neuem Saft, gespeist aus den Weiden der Moldau, des romantischen und revolutionären Ideals, das von den beiden großen Komponisten illustriert wird, mit denen wir ihn hier immer wieder in Verbindung bringen.“ (S. 148)  

Der Autor arbeitet im Übrigen sehr treffsicher heraus, welch große Rolle die authentische rumänische Folklore im Śuvre Enescus spielte: „In jedem Fall war Enescus Beziehung zur Folklore seines Landes (vor allem die der Moldau und Munteniens) von anderer Intensität und anderem Tiefgang als jene von Liszt zur ungarischen Folklore. Um es noch präziser zu sagen, war sie viel intensiver als die eines gewissen französischen Komponisten, der eine norwegische Rhapsodie schreibt, oder eines gewissen russischen Komponisten, der ein spanisches Capriccio schreibt (…). Enescu hatte noch die authentische Folklore der Dörfer gehört, wo er seine Kindheit verbracht hatte, er hörte sie wieder in Dorohoi, in Jassy und auch in Bukarest (…), und dieser Kontakt wurde nie für längere Zeit unterbrochen.“ (S. 85 f.)   
Der Band bietet einen Schlüssel zum Verständnis der Kompositionen und gewährt gleichzeitig einen Einblick in die Persönlichkeit des großen Komponisten. Und all das in einer ausdrucksstarken wie poetischen und auch überzeugenden Sprache und Darstellung. Dabei beweist Bentoiu auch Mut zum Pathos, wenn er sich etwa begeistert zeigt „über die Einheitlichkeit des klanglichen Universums bei Enescu, die Beständigkeit seiner melodischen oder rhythmischen Obsessionen“ (S. 97). Oder wenn er durchaus subjektiv, aber doch affirmativ festhält: „Ich glaube nicht, dass es einen Musiker gibt, der imstande ist, Enescus Komplexität zu erreichen oder gar weiter zu entwickeln. Dieser Komponist kann als die außerordentlichste musikalische Erscheinung seit Mozart gelten.“ (S. 742)  

Pascal Bentoiu: George Enescu: Meisterwerke. Aus dem Rumänischen übersetzt von Larisa Schippel und Julia Richter unter Mitarbeit von Raluca [tirb˛], Berlin 2015, Frank & Timme Verlag (=Forum: Rumänien, Bd. 28), 790 Seiten (zahlreiche Abbildungen/Notenbeispiele), ISBN: 978-3-7329-0166-1