Geschichten, die Geschichte schreiben

Ein Tag beim Rosenauer Filmfestival

Die Rosenauer Bauernburg diente als perfekte Kulisse für Sonderveranstaltungen im Rahmen des Festivals
Foto: die Verfasserin

Es ist knapp nach 8 Uhr vormittags, als der Zug im Bahnhof von Rosenau anhält. Das Städtchen ist noch verschlafen, die Bauernburg und die Hollywood-Aufschrift „Rasnov“ glänzen in der Morgensonne. Die Lokale im Zentrum sind schon offen, aus ihnen strömt frischer Kaffeegeruch. Auf allen Tischen kann man das Programm des Filmfestivals finden, das gerade in vollem Gange ist.  Das Stadtzentrum, das vor Kurzem zur Fußgängerzone umgestaltet wurde, der Dinosaurierpark, die restaurierte Bauernburg, die man mit einem modernen Aufzug in nur einer Minute vom Zentrum aus erreichen kann – diese Attraktionen haben dazu beigetragen, dass Rosenau immer mehr Touristen anzieht. Dazu kommen noch die vielen Festivals und Veranstaltungen, die das ganze Jahr hindurch stattfinden- vom Skispringen über Pferderennen und Rock-Konzerte unter freiem Himmel bis zu Filmfestivals und Kinderveranstaltungen. Darunter ist das „Festival für Film und Geschichten“, das jedes Jahr Anfang August stattfindet, eins der traditionsreichsten.

Geht man geradeaus und biegt nach links, kommt man zum „Amza Pellea“- Kino, das vor ein paar Jahren restauriert wurde. Auf den Wänden sind Poster mit Schauspielern und handgeschriebene Filmzitate. Um 9 Uhr 30 soll der Dokumentarfilm „Kohl, Kartoffeln und andere Dämonen“ in der Regie von [erban Georgescu beginnen.  Eine schwarz gekleidete Frau betritt den Saal. Es ist die Filmkritikerin Irina Margareta Nistor, deren Stimme alle Rumänen kennen, die vor 1990 geboren wurden. Sie hat hunderte von Videokasetten mit Filmen synchron gesprochen, diese wurden damals illegal ins Land geschmuggelt und heimlich angeschaut. In wenigen Minuten füllt sich der Saal mit Zuschauern, das Licht geht aus, der Film kann beginnen.

Über Grünkohl, Internet und Wein

Über 40 Dokumentar- und Spielfilme, mehrere Ausstellungen von rumänischen und ausländischen Künstlern, Diskussionen, Konzerte und Buchvorstellungen in der Bauernburg standen in diesem Jahr auf dem Programm des Festivals, dessen 9. Auflage zwischen dem 28. Juli und dem 6. August stattfand. Diesmal trägt es nicht mehr den Namen „Historisches Filmfestival“, sondern „Festival für Film und Geschichten“. Denn es sind oft kleine, persönliche Geschichten, die große Geschichte schreiben. Das Hauptthema des Festivals in diesem Jahr war „Die Globalisierung des Populismus“.
Am 3. August stehen vier Filme zu den unterschiedlichsten Themen auf dem Programm: das Leben der Bauern in einer kleinen Ortschaft im Süden Rumäniens, das Drama eines amerikanischen Internet-Aktivisten, der Kampf der Partisanen in den Bergen der Maramuresch und der Alltag von Weinproduzenten. „Kartoffeln, Kohl und andere Dämonen“, der erste Film des Tages,  erzählt vom kleinen Ort Lunguleţu im Süden Rumäniens, wo es etwa 1000 Bauern mit ebenso vielen Traktoren gibt, die jedes Jahr an die 100.000 Tonnen Kohl und Kartoffeln produzieren. Im Sommer nach der Kartoffelernte und im Spätherbst nach der Kohlernte stehen die Bauern auf dem lokalen Marktplatz. Kohlköpfe und Kartoffelsäcke sind zu riesigen Pyramiden aufgetürmt. Der Versuch, das Gemüse gewinnbringend weiterzuverkaufen, ist vergeblich.

Was kann man mit 50 Lei machen? Zum Beispiel eine halbe Tonne Weißkohl kaufen. Als der Regisseur Şerban Georgescu das entdeckt, während er für seine Mutter Einkäufe erledigt, beschließt er als Test, ein Jahr in Lunguleţu zu verbringen und selbst Kartoffeln und Kohl anzubauen. Er geht der Frage auf den Grund, warum sich die Bauern freiwillig in diese wirtschaftliche Sackgasse begeben, wo der Bankrott täglich droht. Obwohl der Bürgermeister und einige Dorfbewohner gute Ideen haben, Wege aus dieser Situation zu finden, ist eine gemeinsame Lösung nicht in Sicht. Das Misstrauen zwischen den Dorfbewohnern sitzt tief, und die Angst vor einer Kooperative ist groß – zu nah sind noch die Erinnerungen an die Enteignung während des Kommunismus. Eins kann man den Kartoffel- und Grünkohlproduzenten aus Lunguleţu lassen: sie haben ihren Humor auch in schwierigen Zeiten nicht aufgegeben. Nach dem Film, der von den Zuschauern mit Enthusiasmus empfangen wurde, folgt eine Diskussion mit dem Regisseur Georgescu und Irina Onescu, die jüngste Bürgemeisterin Rumäniens. Die 32jährige, die früher eine Sendung bei MTV moderiert hatte, gewann letztes Jahr die Lokalwahlen im Dorf Petriş (Kreis Arad). Nur drei Stimmen hatte sie mehr als ihr Gegenkandidat. Die Bukaresterin hatte im Dorf ihre Kindheit verbracht, nachdem ihre Eltern, die Geologen sind, dort ein Haus gekauft hatten. Jetzt wünscht sie sich, die Infrastruktur des Dorfes radikal zu verbessern, um ausländische Investitionen anzuziehen. Ebenfalls impliziert sie sich ins Leben der Dorfbewohner und kennt das im Film beschriebene Problem sehr gut.

Leben und Tod eines Wunderkindes

Als nächster Film folgt „ The Internet’s Own Boy“ (Das Kind des Internets). Die ergreifende  Dokumentation  erzählt die Geschichte des Entwicklers und Aktivisten Aaron Swartz, der sich für ein offenes Internet und den freien Zugang zu Informationen einsetzte. Er wurde angeklagt und beging mit nur 26 Jahren Selbstmord. Der Regisseur Brian Knappenberger zeichnet im Film das Leben des Aktivisten nach: als Dreijähriger entdeckt er den Computer und bringt seinem Bruder später Algebra bei, später wird er Startup-Mitgründer und Entwickler bei „Reddit“, wendet sich dem Internet-Aktivismus zu. Swartz wird angeklagt, weil er am Massachusetts Institute of Technology große Teile des JSTOR-Zeitschriftenarchivs heruntergeladen hat. Ihm drohten im Fall seiner Verurteilung eine bis zu 35-jährige Haft- und eine hohe Geldstrafe. Am 11. Januar 2013 wurde er erhängt in seiner Wohnung in Brooklyn aufgefunden. Der Dokumentarfilm von Krnappenberger, in dem Familie, Freunde und Kollegen des Aktivisten sprechen, wurde durch Crowdfunding finanziert.

Alte Werbung, Live-Filme und ein nicht funktionierender Aufzug

Zwischen den Filmen kann man durch das Zentrum der Stadt spazieren gehen. An manchen Häusern kleben noch  Protest-Plakate gegen den Bau des ultramodernen unterirdischen Parkplatzes, der voriges Jahr eröffnet wurde. „Bürgermeisteramt Rosenau- Null Transparenz, Maximale Arroganz“, „Die historischen Gebäude wurden vom Bau des unterirdischen Parkplatzes betroffen! Das Bürgermeisteramt ignoriert das Problem! Totale Respektlosigkeit gegenüber Rosenaus Kulturerbe“, steht auf den Plakaten.  Der Spaziergang geht an der Häuserreihe vorbei bis zur schon im Jahr  1879 eingeweihten Sissi-Promenade, die den Namen der Kaiserin Elisabeth von Österreich trägt. Hier gibt es viel Schatten und ein Lokal, wo man gut essen kann. Im Restaurant erinnern Werbeplakate an alte Zeiten. „Kommen sie nach Rosenau! Ich empfehle das Gartenrestaurant Neue Welt in der Nähe des Bahnhofs! Michael Copony“, steht auf einer Werbetafel.
Nachdem der letzte Film aus ist, wird die Bauernburg zum Veranstaltungsort bis spät in die Nacht hinein. Live-Konzerte und Filmprojektionen unter freiem Himmel warten auf die Gäste, wie zum Beispiel eine Live-Performance der Band „Robin and the Backstabbers“ die vom rumänischen Film „Reconstituirea“ inspiriert wurde. Leider funktioniert der moderne Aufzug nur bis 19 Uhr. Zu dieser Zeit laufen aber im Kino noch Filme. Touristen und Festivalteilnehmer müssen die Stufen hinaufsteigen oder den klassischen Weg, am Dinopark vorbei, einschlagen.  Man hätte das Programm des Aufzugs ans Festival anpassen können. Vielleicht wird das im nächsten Jahr der Fall sein.