Goethe in Bukarest

Ein zweisprachiges Jahrbuch rund um den Meister deutscher Dichtkunst

Rumänisches Goethe-Jahrbuch, Herausgegeben von George Guţu, Bd. 1/2011, Editura Paideia, Bucureşti

Und eine Zueignung. Und ein Anzapfen. Und ein fröhliches Weiterzaubern – von fleißigen Lehrlingen gewährleistet: jetzt, da der Urworte-Beschwörer gerade mal kurz weg ist; hier, wo einst Klingsors Töne verhallten – in jener mythischen Zeit, als Dichterkämpfe noch angemessen poetisch in ihrer ganzen semantischen Pracht ausgetragen wurden. Weil es ohne nicht geht. Und weil Deutsch in Rumänien immer noch groß geschrieben wird.

Aber Goethes Zeit ist ja nicht mythisch oder etwa orphisch, sondern im weitesten Sinne unzeitgemäß (nein, das ist gar nicht unser Goethe, das ist Nietzsches Goethe), sie ist aus heutiger Sicht befremdend umständlich, mit dem Hauch des Monumentalen behaftet, gleichsam ins Unfassbare entrückt, vielfach verschränkt, sie wird immer wieder aufs Neue peinlichst beleuchtet, unter die Lupe genommen, erläutert, fingiert, erfunden, ins Unendliche reflektiert. Deswegen wollen wir es mal ruhig mit einem dem rumänischen Moment der Forschung dienlichen, opportunistisch zeitgemäß umgedrehten Goethe-Wort versuchen, um den ersten Band des von George Guţu und seinen starken Germanisten in den Raum gestellten rumänischen Goethe-Jahrbuchs anzupacken:

Et in Arcadia ego! Auch ich in Rumänien!

Die Frage drängt sich auf: Dürfen wir überhaupt im Namen des Meisters sprechen? Dürfen wir mit seinen Worten, die jetzt uns gehören, schaffen, schuften, zaubern, tricksen, sie ihm in den Mund legen? Grünes Licht aus Weimar: Ja, wir dürfen! „Goethe, der seinem Begriff von Weltliteratur vor allem eine kommunikative, wechselseitiges Verständnis fördernde Bedeutung zusprach, hätte das neue Jahrbuch als Zeugnis weltliterarischen Transfers dankbar begrüßt.“ (Jochen Golz, Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar, http://www.ggr.ro/Rum%20Goethe_Jahrbuch_Vorwort.htm)
Ein schlichtes Nicken vom Zentrum. Die Mutter-Gesellschaft gibt sozusagen dem rumänischen Goethe ihren Segen, und dieser wächst dann über sich selbst hinaus und überragt bald den Schatten seines gängigen Erwartungshorizonts einer mutmaßlichen Auslandsgermanistik. „Eine solche Gründung kann nur dort stattfinden, wo auf dem fruchtbaren Boden und der reifenden Saat einer qualitätsvollen Goetheforschung Ernte gehalten werden kann.“ (ebd.)

Saat, Ernte, fruchtbarer Boden, Goethe, Gartenarbeit: Freilich fällt es schwer, ein literarisches, ein literaturwissenschaftliches, ein im engeren wie im weitesten Sinne auch translationswissenschaftliches Denkmal zu Ehren des alten Geheimrats so ganz ohne Gemeinplätze anschaulich zur Sprache zu bringen. Dementsprechend bekundet auch der Herausgeber die „Hoffnung, dass dieser zarte Spross einer soliden Goethe-Tradition in der rumänischen Kultur lange leben und der zukünftigen Forschung unseres Landes eine tragfähige Plattform für die Erforschung des Werkes des Weimarer Titanen bieten wird“.

Zum Hintergrund der Initiative: Die Goethe-Gesellschaft in Rumänien (GoGR) wurde 1998 von Professor George Guţu ins Leben gerufen, anders gesagt von einem Goethe-Liebhaber, der heute – u. a. auch als Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst – mit Stolz auf vieles zurückblicken darf, was er für seine Fachrichtung geleistet hat. Rumänien ist ein Land, wo Goethe „im Gegensatz zu nicht wenigen Ländern Westeuropas“, so Jochen Golz im Newsletter der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V. (Ausgabe 3. November 2011, http://www.Goethe-gesellschaft.de/download/pdf-newsletter-3-2011.pdf), „noch immer als Lebensmacht, als Teil einer lebendigen Kultur“ begriffen wird. „Goethe in Rumänien“ heißt denn auch sinngemäß bedeutungsstiftend die Überschrift seiner Mitteilung.

Aus der Sicht eines Betroffenen: Dass sich Goethe gefreut hätte, diese schöne spekulative Vorstellung klingt zwar nicht originell, dafür jedoch immerhin so durch und durch erfreulich. Wir Nachkommen, die Beiträger des Jahrbuchs und andere in den Bann des Titanen gezogene Zeitgenossen mit Karpatenluft in den Lungen, freuen uns ganz gewiss nicht wenig, ein Teil jener Kraft zu sein, die aus dem Innersten der rumänischen Goethe-Propfreiser mehr Licht (besser: ein anderes Licht) auf den Rahmen des Bildes wirft, innerhalb dessen sich ein Originalgenie bewegt, das wir unser nennen.

Ein Aufruf zu Beiträgen für den nächsten Band ging längst in die vier rumänischen Winde deutschsprachiger Ausdrucksweise – und diese wehen bekanntlich auch in den Alpen, über das Flachland und die Deiche hinweg, bis weit hinaus ins Transatlantische. Auf! Hinaus ins weite Land! hatte schließlich schon der Meister selbst – freilich in einem anderen Kontext – gesagt.
Eine rumänische Goethe-Ausgabe in 18 Bänden hat Professor Guţu, der Präsident der Goethe-Gesellschaft in Rumänien (GoGR) und weiterer angesehener Vereine, ebenfalls bereits in Angriff genommen (Band 15 erschien 2009 im Bukarester RAO-Verlag).

Eine Definition des Begriffs Wahlverwandtschaft: „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Propfreiser auf junge Stämme zu bringen.“ So auch hier. „Kulturtransfers“ heißt der letzte Abschnitt des Bandes; darin darf man die von George Guţu persönlich erstellten rumänischen Fassungen der „Metamorphose der Pflanzen“ und der „Metamorphose der Tiere“ lesen. „Rezeptionsreflexe“, „Naturwissenschaftliche Streiflichter“ und „Skizzen zum Ganzen“ lauten die weiteren Überschriften. Das thematische Spektrum? „Weit gespannt und klug disponiert“, so lautet das wohlverdiente Lob des Präsidenten der Goethe-Gesellschaft in Weimar.

Alle Wissenskraft und Samen: in Bukarest problemlos zur Schau getragen. Wir kramen nicht in den Worten des Meisters, wir lassen sie in uns verhallen, sich entfalten, wundersam wirken, immer wieder aufs Neue entstehen, in höheren Gefilden wehen, dialogisch zugrunde gehen, das Schwarze treffen, das Eigentliche, das Selbst. Von Goethe weg? Nicht gut möglich. „Denn überall in seinem Werk ist von ihm die Rede, d. h. von dir.“ (Constantin Noica, „Abschied von Goethe / Despărţirea de Goethe“, nach Guţu zitiert)
In diesem Sinne noch ein allerletztes, erbauliches Wort: Der große Meister deutscher Dichtkunst lebt in uns fort. Und falls ihn, den Uferlosen, dieser schlichte, redliche Reim ein bisschen einengen sollte, so widerspiegelt das vielleicht lediglich die Art und Weise, in der wir heutzutage noch mit dem Zauber des Wortes, das einst war, mit den Farbtönen der Dichtung, mit dem Münzwert der Wahrheit, mit dem Prometheus’schen Feuer und seinen genussvollen wie lehrreichen Bedeutungstransfers umgehen.