Gutenberg-Galaxis, ade! Oder doch nicht?

Mit Wehmut und Vorfreude über den heutigen Stand auf dem Büchermarkt

Die deutsche Buchhandlung „Am Dom“
Foto: Zoltán Pázmány

Im zweiten Stock der Temeswarer Mall hat vor Kurzem ein Antiquariat den Platz einer Konditorei eingenommen. Es ist weder groß noch klein, es ist aber jedes Mal, wenn ich vorbeigehe, auch von ein-zwei Personen besucht. Es stellt keine Neuheit in Temeswar dar, Antiquariate gab es auch vor der Wende, es stellt aber doch einen ungewöhnlichen Hingucker im Temeswar des Jahres 2014 und in der modischen Umgebung der Mall dar. Und außerdem, gleich nach 1989 gab es auf den Straßen im Stadtzentrum unzählige Antiquare – ein Hauch von Paris, sie sind aber irgendwann alle verschwunden. Aus Temeswar, hoffentlich nicht auch aus Paris, dessen Atmosphäre sie mitbestimmen. Die Bücher sind zwar gebraucht, aber in gutem Zustand, haben wahrscheinlich nur einen Leser gesehen. Nicht zu vergleichen, mit den Büchern, die man vor 1989 in einem Antiquariat finden konnte und deren Seiten manchmal zwischen den Fingern zerfielen, sind sie doch wahrscheinlich von einer Generation zur nächsten weitergegeben und dann irgendwann abgeschrieben worden, aus den verschiedensten Gründen: Deutsche Bücher waren immer beliebt. Wenn eine Familie auswanderte, bedeutete es sofort auch die Auflösung einer meist konsistenten Bibliothek und somit Nahrung für Verstand und Seele derer, die hier geblieben sind.

Was zahlst du für ein Buch?

Ein Antiquariat kann aber in Zeiten einer Wirtschaftskrise, wie wir sie noch durchmachen, sinnvoll sein, denn die Preise bei neuen Büchern sind den westlichen angepasst, wenn es sich um schöne Ausgaben oder Übersetzungen handelt. Überhaupt haben sich die Verlage das Leben schwerer, aber auch bunter gestaltet. Die meisten Bücher, allen voran die Kinderbücher, bieten etwas mehr als früher: Nicht nur der Seh-Sinn wird angesprochen, sondern auch der Tast- und Hör-Sinn. Sei es mit Glitzersternen oder Fenstern, mit Schiebetüren oder Lauten, mit Musik oder mit Babyfleece für das Tastgefühl – die Bücher sind so gesehen multimedialer und komplexer denn je, buhlen um die Gunst der Leser in einer vom Marketingdepartement diktierten Form. Ein Kinderbuch, das ich meinem ältesten Sohn vor etwa sechs Jahren gekauft habe, war mit den aufklappbaren Fenstern eine Besonderheit, ein ähnliches Buch für den Kleinen kommt jetzt nicht nur mit Fenstern, sondern auch mit Lauten. Mehr, je mehr soll auf den Leser gewirkt werden – eine Überfülle von Reizen und Informationen, der man ausgeliefert ist.

Die Leserschaft von heute ist globalisiert, wir lesen nicht nur dieselben Geschichten, wir halten auch fast dieselben Bücher in der Hand: Das Buch für meinen ältesten Sohn, eine von Tony Wolf liebevoll geschriebene und illustrierte Geschichte über Waldtiere und Elfen, kann man in Deutschland in genau derselben Größe und Form, mit demselben Cover und zum selben Preis kaufen, nur eben auf Deutsch, in Amerika auf Englisch usw.
Allerdings kann man Bücher auch sehr, sehr billig einkaufen: Neuestens habe ich eine Ausgabe von Andersens „Schneekönigin“ im Supermarkt gesehen, zu einem Spottpreis (denn Schnäppchen ist doch zu elegant in dem Fall) von 1,25 Lei. Allerdings war da von Andersen, von Kay und Gerda und der Geschichte um die Schneekönigin fast nichts mehr zu erkennen: ein Reader’s Digest vom Reader’s Digest. Die Würze bleibt in dieser noch um einiges gekürzten Kurzfassung aus.

Wo sind die Bücherwürmer?

Wird aber überhaupt noch gelesen? Wenn man sich die Frage so stellt, dann fällt einem nur das Wort „jein“ ein.
Lesen verlangt Muße und die hat die immer auf Eile ausgerichtete Generation immer weniger zur Verfügung. Aber sie tut es trotzdem gern, nur meistens sind es dann die Bestseller, nicht die Klassiker, die regelrecht aufgefressen werden: Bei Kindern ist es dann „Gregs Tagebuch“, Erwachsene greifen zum zweifelhaften Dan Brown. In den deutschen S-Bahnen und U-Bahnen waren die Leser immer eifrig. Das ist immer noch so, versichert mir meine Freundin aus München, die per S-Bahn aus dem Süden der Stadt zu ihrem Arbeitsort im Norden pendelt. Ein Buch hat sie immer dabei. Interessant, kein E-Reader. Interessant, weil sie in der IT-Branche beschäftigt ist.

Neue Rezepte für erfolgreiche Buchhandlungen

Die Buchhandlungen haben ihre Mühe und als vergangenes Jahr in Temeswar die „Humanitas“-Buchhandlung – nach 1990 ein Mekka für Buchliebhaber und ein Symbol für Demokratie und Freiheit wegen der im gleichnamigen Verlag erschienenen Titel – dicht machte, war ein lange aus dem Bild der Stadt nicht wegzudenkender Buchladen plötzlich verschwunden. Erfreut habe ich „Humanitas“ wieder in Kronstadt erblickt. Dafür gibt es auch deutlich erfolgreiche Rezepte: Die deutsche Buchhandlung „Am Dom“ hat sich auf dem hiesigen Büchermarkt etabliert, bringt auf geringem Raum eine ganze Welt von Büchern, denn man kann sich alles bestellen, was man sich nur wünscht. Und dieser Service bringt viel Kundschaften ein. Insgesamt haben sich die Buchhandlungen neu definiert: Sie bieten auch Tee an, DVDs und CDs (mittlerweile auch nicht mehr so die Highlights), Spielsachen und kleine Geschenke wie Schlüsselanhänger oder Lesezeichen, aber auch schicke Tassen oder sogar Gartenwerkzeug. Die Buchhandlungen wurden eben von Marketing-Spezialisten neu frisiert.

Und die Bibliotheken? In Temeswar feierte die Kreisbibliothek vor kurzem 110 Jahre ihres Bestehens. „Einer unserer wichtigsten Kulturträger“, nannte sie der Kreisratsvorsitzende Titu Bojin bei diesem Ereignis. War das nur eine Floskel? Die meisten Bibliotheken aus dem Kreis schließen oder befinden sich in einem heruntergekommenen Zustand, man denke da nur an die Schulbibliotheken. Den Studiengang „Bibliothekonomie“ hat man in „Informations- und Dokumentationssystem“ umbenannt und dann in diesem Sommer an der West-Universität eingestellt. Karthago brennt wieder. Der Beruf des Bibliothekars wird vielleicht ganz verschwinden. Neue Berufe sind erschienen: so die „Picker“ (Kommissionierer, die pro Schicht 12 bis 20 Kilometer durch die Gänge laufen) und „Packer“ (welche die Bücher und andere Waren versandfertig machen) in den unendlich großen Hallen der Logistikzentren von Amazon. Aber diese Berufe sind auch nicht mehr sicher: kleine Roboter und Drohnen sollen sie ersetzen. Auch der Schriftsteller-Beruf befindet sich im Wandel. Oft landen sie zuerst online einen Bestseller und werden erst darauf mit der Printausgabe prämiert. Und überhaupt Online-Ausgaben und E-Books – darum bekriegt man sich heute in der Branche.

Rechteckig, praktisch, gut

„My mum loves her kindle!“ (Meine Mum liebt ihr Kindle), die Aussage stammt von einem Herrn Mitte vierzig, der an dem Tisch nebenan sitzt. Die Mum ist schätzungsweise in ihren Siebzigern und hat sich auf eine der bekanntesten Marken von E-Readern festgesetzt und befindet sich damit mitten in der digitalen Revolution. Rechteckig, praktisch, gut sind diese „Buchlesegeräte“, denn sie sind klein, handlich und leicht und erfüllen den Traum eines jeden Buchliebhabers: über eintausend Bücher können darin gespeichert werden. Liest man das eine zu Ende oder will es fallen lassen, kann man sich schnell für das nächste entscheiden, ohne sich nach Hause zu bemühen. Noch schöner: Auf die Bibliothek zu Hause kann man verzichten, Platz sparen und seine Sorgen mit dem Staub loswerden. Ein E-Reader ist klein und leicht, hat Platz in einer Tasche, bereitet auch keine Rücken- oder Gelenkschmerzen beim längeren Tragen, was ihn vorwiegend bei jungen Bücherwürmchen oder aber bei den älteren Semestern beliebt machen sollte. Auch an Geld spart man beim E-Reader letztendlich: Wenn der Kauf eines Bücherlesegerätes auch um die 400 Lei (je nach Marke und Ausstattung kann das natürlich auch doppelt so viel sein) kostet, so kann man das Gerät oft mit Gratis herunterladbaren Klassikern füttern oder hat auch bei den Neuheiten auf dem Büchermarkt den Vorteil, dass man nur die Hälfte von dem Preis einer noch zur Gutenberg-Galaxis gehörenden Printausgabe ausgibt.

Was bei dem E-Reader greifbar ist, ist das Gerät, das Medium, der Content ist fast unberührbar, er ist da und doch nicht im Vergleich zu dem Buch, denn man kann sich die E-Books auf der Cloud speichern (im Klartext heißt es, nicht auf dem eigenen Gerät, sondern irgendwo im virtuellen Raum) und darauf zurückgreifen.
Die E-Readers sind hilfsbereit, neue Technologien ermöglichen das Lesen in der Sonne (etwa am Strand oder im Garten, für Leute, die noch diesen Genuss kennen), er hat Lesezeichen und Wörterbuch bereit, er ist aber auch (bei manchen Geräten ist das der Fall) ein Mit-Leser: So manches Gerät kann an den Pupillen ablesen, welche Stelle der Bücherfreund am spannendsten gefunden hat und liefert dann sogleich einige Titel, die vielleicht zu einem passen. Mancher sieht das als Service, andere lieben aber die Intimität des Lesens eines gedruckten Buches.

Ganz umgestellt, nach 244 Jahren

Als der weltberühmte Semiotiker und Literat Umberto Eco 1995 dem Kommunikationswissenschaftler Patrick Coppock ein Interview gewährte, sah der italienische Guru richtig den Untergang der Printausgaben von Enzyklopädien in der Zukunft. Eco, der in seiner 500 Quadratmeterwohnung über 30.000 Büchern verfügt und in seiner Ferienwohnung eine Bibliothek mit „nur“ 20.000 Büchern hat, gab zu, selbst bereit zu sein, auf Enzyklopädien zu verzichten, denn sie nehmen ganze Regale ein und müssten dazu noch alle paar Jahre erneuert werden. „Encyclopedia Britannica“, das 1768 zum ersten Mal erschienene, weltweit bekannteste mehrbändige Nachschlagewerk, hat 2012 den Druck eingestellt und sich ganz auf die Online-Ausgabe ausgerichtet, mit Tausenden spezialisierten Mitarbeitern, davon über 110 Nobelpreisträgern, die nun auf dem Web mit den Wikipedia-Nutzern, die auch Daten eingeben, wetteifern. Was Eco nicht vorhersah, nicht vorhersehen konnte, da es technisch zu dem Zeitpunkt noch völlig unglaubwürdig war: Dass man eines Tages eine ganze Bibliothek mitschleppen wird. Eco war noch der Meinung, dass das gute alte Buch handlicher ist als ein Computer: „Wenn ich mit dem Kamel durch die Wüste gehe, kann ich ein Buch mittragen, den Computer jedoch nicht“, verkündete er damals. Stimmt heute nicht mehr. Und wer weiß, was die Leser noch überraschen wird, vielleicht eine Brille, von der man die Bücher abliest, Hauptsache man tut so wenig wie möglich, nicht einmal mehr umblättern.